2010 beauftragte das Public Theater in New York den amerikanischen Bühnenschriftsteller und Regisseur Richard Nelson mehrere Stücke über die politische Lage der Nation in Form einer Unterhaltung von wiederkehrenden Charakteren zu schreiben. Das war die Geburt der Apple Familie aus dem kleinen Städtchen Rhynbeck in Upstate New York.
Die Premiere, so das Aufführungskonzept, sollte immer an dem Tag sein, an dem die Handlung auch tatsächlich spielt. So entstanden 2010 und 2012 Stücke über amerikanische Wahlen und 2011 ein Stück über den zehnjährigen Jahrestag des 11. Septembers. Diesen Herbst eröffnete nun das vierte und letzte Stück der Saga, am 50. Jahrestag der Ermordung von J.F Kennedy.
Es ist so, als wäre man wieder einmal bei guten Bekannten zum Essen eingeladen. Man weiß, was einen erwartet und wer kommt. Man freut sich schon, auf die Neuigkeiten, den Wein und das Philosophieren über Theater, Politik und die Kleinigkeiten des Lebens. Der Abend ist zu einem lieb gewonnenen Ritual geworden. Genau dies seltene Kunststück ist dem Public Theater mit Richard Nelsons vier Stücken über die Apple Familie gelungen. Und bei der Premiere von "Regular Singing" schwingt sogar ein Gefühl von Melancholie mit, wenn sich Richard Apple im Haus seiner Schwestern Barbara und Marian mit seiner jüngsten Schwester Jane und dessen Freund Tim zum letzten Mal trifft. Und Onkel Benjamin ist auch wieder dabei. Er war einst ein berühmter Schauspieler und sein Weg vom Schlaganfall über beginnende Demenz bis hin zum Umzug in ein Altersheim beschreibt den dramaturgischen Bogen der Stücke.
Hommage an viele große Geschichten
Die Melancholie passt gut, denn Abschiednehmen ist auf vielschichtige Weise das Thema des Abends. So liegt im oberen Stockwerk Marians Ex-Mann Adam im Sterben, und die Familie muss für die bis ins kleinste Detail geplante Beerdigung üben. Mit Adam verliert Marian, die sich nach dem Selbstmord ihrer Tochter von ihm getrennt hatte, den letzten Kontakt zu einer Person, mit der sie diese schmerzvolle Erinnerung teilen kann. Wieder entsteht die für die Apple Stücke gekonnte Mischung aus vermeintlicher Rücksicht auf die Gefühle der einen und dem treffsicheren Ins-Fettnäpfchen-Treten der anderen. Man fühlt sich irgendwie an Anton Tschechows Kirschgarten erinnert, an den Tod von Sohn Grisha, den Gutsbesitzerin Andreevna nie verkraftet hat. Und das alles am 50. Gedenktag der Ermordung von John F. Kennedy. Dessen Vater wird zitiert, der, wie King Lear bei Shakespeare, auf die Unglücksbotschaft des Todes seines Kindes nur mit einem wiederholten "Nein" antworten kann.
Ähnlich wie bei der Gedenkfeier für den 11. September fragt man sich, was man denn am 22. November 1963 getan hat, wo man war und mit wem. Und wenn man noch nicht geboren war, was haben die Eltern erzählt? Nach Adams Willen müssen alle irgendwann alte puritanische Lieder üben, was ebenso hilflos anmutet, wie alte Theatergeschichten über Beckett zu erzählen oder darüber zu philosophieren, ob ein Wort oder eine Erinnerung an sich schon eine Handlung sein kann, wie zum Beispiel bei einem Gebet oder wenn man als Schauspieler auf der Bühne steht. Und Richard fragt immer wieder halb angewidert, halb im Scherz nach, ob dies nicht alles doch viel zu religiös sei. Mit der Ermordung John F. Kennedys scheint etwas verloren gegangen zu sein, das nie wieder zurückgekommen ist, und er vermutet, dass es das letzte Mal vor dem 11. September war, an dem sich die ganze Nation in Trauer zusammenfand: die Katastrophe als gemeinschaftsstiftende Legende.
Plötzlich nach gut 75 Minuten drehen sich die Schauspieler dem Publikum zu, das bis dahin wie eine Fliege an der Wand dem intimen Ton des Abends zuhören durfte. "Manchmal treffen wir uns", sagt Barbara, "meistens sind wir allein, aber wenn wir uns treffen, dann finden wir heraus, warum wir leben." Sie schweigt einen Moment und fügt hinzu: "Wie wir leben." Großer und langer Applaus nicht nur für diesen, sondern für vier Abende, an denen man nicht allein war, sondern im Theater, dem Ort, der für Richard Nelson ein Ort zum Zuhören, Ausharren, Lernen und Zusammensein ist. In den nächsten zwei Monaten kann man alle vier Stücke im Repertoire am Public Theater sehn.