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Theaterprojekt "Lesbos - Blackbox Europa"
Auf den Spuren der Flüchtlinge

Im Sommer 2016 fuhr ein Team junger Theatermacher nach Lesbos, um sich auf Spurensuche der Fluchtbewegung zu begeben. Ihre Eindrücke aus den überfüllten Lagern und die Geschichten der Menschen, die sie vor Ort getroffen haben, präsentieren sie jetzt auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin.

Von Michael Laages | 27.01.2017
    Ein Mann steht vor einem eingeschneiten Iglu-Zelt.
    Ein Flüchltingslager auf der Bühne? Regisseur Gernot Grünwald lässt die Zuschaer das Elend auf Lesbos hautnah miterleben. (AFP)
    Wer kann da helfen? Wir etwa? Aber wie, jeder und jede für sich - und zwar nicht nur mit Spenden oder auf Demonstrationen, sondern direkt und unter Einsatz des eigenen Ich zum Beispiel im freiwilligen Einsatz in den Lagern und an den Stränden auf Lesbos, wo nachts Wache gehalten und das Meer abgesucht wird nach neu heran driftenden Booten.
    "Ganz vorne an der Spitze der Klippe steht ein ganz kleiner Leuchtturm mit einem weißen Rumpf und einem kleinen, grünen Dach, wie ein Hut. Am Horizont Festland, die Türkei, und links oben ein kleines Boot, das friedlich im Wasser schaukelt."
    Im Zentrum der Berliner Produktion stehen die Theater-Menschen selber, die sich auf den Weg machen im Sommer vergangenen Jahres und nach Spuren der Fluchtbewegung suchen:
    "Gernot, der Regisseur des Projekts, will uns die Flüchtlingskrise irgendwie näher bringen. Also zwingt er, um acht Uhr morgens dahin zu fahren, an eine sehr bekannte Küste, Agios Georgios, auch genannt 'the most terrible spot'. Tja – dann stehen wir erstmal und sagen: Du, Gernot, so 'terrible' sieht's hier gar nicht aus."
    Das Erleben des politischen Unvermögens
    Sie treffen Geflüchtete selber in den Lagern Karatepé und Moria, sehen und spüren, wie das alte, überforderte Europa offenkundig nicht in der Lage ist, menschenwürdiges Leben zu ermöglichen für die Viel-zu-Vielen, die auf die Verheißungen europäischer Zivilisation bauen, sie erleben das Unvermögen der Politik und der Bewacher der Massen, sie diskutieren die fatale Abhängigkeit vom türkischen Autokraten Erdogan, der uns die Menschenmassen gefälligst abnehmen soll gegen entsprechende Bezahlung. Menschenrechte? Was soll's.
    "Wir müssen doch als Theaterleute, als gesund denkende Menschen, in so einer Situation irgendwie verhalten, man muss doch irgendwas tun – ich finde, wir sollten ne Minute schweigen!"
    Sie hören aber auch einem Fünfjährigen zu, der noch alles vor sich hat, sehen einen älteren Mann, der mit notdürftig-neuen Schuhen kämpft und so, auf einem Bein, in der schier unendlichen Schlange der Wartenden stört; sie werden ruppig attackiert von den Verwaltern des Elends: "Vom Theater kommt Ihr? Ich mag nur Kino ... "
    Lange (und sicher viel zu schlaumeierisch) ließe sich debattieren über den Recherche-Ansatz von Grünewalds Team vom Deutschen Theater; wie nützlich mag es gewesen sein, sich immer deutlich als Bühnenkünstler vorzustellen und nicht etwa als Teil einer Nicht-Regie-rungs-Organisation im Hilfseinsatz zu firmieren? Nicht viel mehr als schreiende Verzweiflung haben nun auch Bozidar Kocevski und Katharina Schenk zu bieten. Am Strand stehen und freundlich winken; im Wissen um all das Elend, all die Hoffnungslosigkeit, die auf die Ankommenden herein brechen wird.
    "Du weißt, dass in Moria 6.000 Menschen sitzen und das Lager eine Kapazität für 800 hat. Du weißt, dass man in Moria in einer Schlange stehen muss, um aufs Klo zu können. Du weißt, das Tausende von Menschen im Wasser sterben.
    Du weißt, dass die türkische Küstenwache mit Wasserwerfern auf Schlauchboot schießt. Du weißt, dass in der Türkei noch Hunderttausende darauf warten, nach Europa zu kommen. Du weißt, dass an der türkisch-syrischen Grenze Flüchtlinge erschossen werden. Du weißt, dass die Türkei ganz sicher kein 'sicherer Drittstaat' ist."
    In der kleinen "Box"-Bühne beginnt der kleine Abend im Stehen; von vier Video-Wänden sind wir umgeben, die Video-Bilder aus den Lagern zeigen. Vielleicht sind ja so viele Geflüchtete in einer Hütte, in einem Zelt untergebracht, wie jetzt Publikum im Saal steht.
    Dann werden höchst ungemütliche Sitzhocker im Raum verteilt, und die beiden Reisenden erzählen.
    Fluchtgeschichte aus erster Hand
    Zum Glück ist auch Thalfakar Ali dabei, ein Geflüchteter aus dem Irak, der es bis Berlin geschafft hat (und dessen Asylantrag trotz günstigster Prognosen vorerst abgelehnt ist); ihm gelingt es im Ton der Alltäglichkeit, die gelegentlich etwas überhitzte Moralität der reisenden Rechercheure zu dämpfen. Viele Details von der Unhaltbarkeit der Zustände auf der Insel kennen und ahnen wir, aber die meisten sind schnell vergessen, wenn nicht gerade die Nachrichten-Kameras drauf gehalten werden. Die "Blackbox" des Erinnerns, wie beim Flugzeug-Crash – das will der Abend sein.
    Ob unser aller Nicht-Hinschauen allerdings schon Parallelen zum Wegschauen im deutschen Nationalsozialismus rechtfertigt, sei hiermit mal stark bezweifelt; die Lesbos-Lager mögen Orte des Schreckens, des europäischen Versagens sein – Vergleiche aber verbieten sich.
    Zum Schluss rollen lange und leise die Mittelmeerwellen an den Inselstrand. Noch kommt kein neues Boot. Aber bald.