Freitag, 19. April 2024

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Theologen über Einsamkeit in Corona-Zeiten
„Menschen verkümmern zu Tode"

In der evangelischen Kirche rumort es. Tun wir in der Coronakrise genug für die Einsamen und Verängstigten? Das fragen sich immer mehr Theologen. Ein Dorfpfarrer kritisiert: Die Menschen seien in eine Angstpsychose versetzt worden. Trost, Ermutigung, Orientierung würden unterbunden.

Von Camilla Hildebrandt | 26.11.2020
Großmutter betrachtet mit Enkeltochter ein altes Fotoalbum
Kontakt zur Familie trotz Corona - überlebenswichtig (imago images / Westend61)
Im April 2020, während des ersten Corona-bedingten Lockdowns, schrieb Pfarrer Thomas Dietz einen Offenen Brief an Dietmar Woidke, SPD, den Ministerpräsidenten von Brandenburg. Es war ein Notruf an die Politiker seines Landkreises. Darin schilderte der Seelsorger die Situation in der Uckermark:
"Das öffentliche Gemeindeleben liegt durch die Regierungsbestimmungen in unserem Land am Boden. Trost, Ermutigung, Orientierung werden unterbunden. Die Menschen benötigen dringend das Gespräch und die Gemeinschaft. Sie sind in den vergangenen Wochen in eine Angstpsychose versetzt worden, die ich so in meiner über 32-jährigen Arbeit als Seelsorger noch nie erlebte!"
Unbeantworteter Notruf
Auf eine Antwort - im Mai schickte er noch einen zweiten Brief - mit der Bitte um Austausch, wartet er noch immer. Und die Angst in seiner Gemeinde herrscht bis heute vor.
Menschen in Pflegeheimen
Ohne Kontakt mit ihren Angehörigen können alte Menschen in Pflegeheimen nicht überleben. "Viele Menschen sind daran kaputtgegangen, dass sie nicht besucht werden konnten", sagte der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer im Dlf.
"Und zwar insofern, dass die Leute völlig verunsichert sind in ihrem Verhalten und sich von ihren engsten Angehörigen zurückziehen. Heute Morgen hat mich gerade eine ältere Frau anrufen und hat gesagt: Ach, ich würde so gerne am Ewigkeitssonntag zum Gottesdienst kommen. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil meine Kinder mich nicht besuchen kommen, weil sie meinen, mich dadurch zu schonen. Und ich würde ja eigentlich ganz gerne in den Gottesdienst gehen. Und ich weiß, es ist genug Abstand und da werden die Regeln alle eingehalten. Aber ich traue mich nicht durch das schlechte Gewissen, was mir meine Kinder geben."
Angst bis in die Zehenspitzen
Der heute 60-jährige Pfarrer Dietz kam 1987 mit seiner Frau nach Schönfeld im nordöstlichsten Zipfel Brandenburgs, rund 150 Kilometer nördlich von Berlin. Damals war er 27, und viele glaubten nicht, dass er bleiben würde. 14 Dörfer und 11 Kirchen umfasst seine Gemeinde. Dietz ist überzeugt, dass es jetzt mehr denn je seine Aufgabe ist, "alles zu versuchen, um ihnen die Angst zu nehmen, von der sie bis in die letzte Ecke der kleinsten Zehe bestimmt sind." Und weiter: "Also ich muss mal sagen, dass man sich aufgrund der Flut der Angst machenden Botschaften auch häufig ohnmächtig fühlt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass man gegen eine Wand läuft. Wir versuchen, was irgendwie möglich ist, an Veranstaltungen und auch an Besuchen, durchzuführen."
Mut zur Freude
Die Empfehlung der Bundes- und Länder-Regierungen, "auf alle nicht erforderlichen Kontakte" zu verzichten oder bei Kindern den Kontakt auf einen Freund, eine Freundin zu beschränken, kritisiert Dietz massiv. Nähe und Gemeinschaft sei besonders in Krisenzeiten lebenswichtig.
"Gemeinschaft zu suchen, eine schöne Musik zu erleben, in ein Konzert zu gehen. Sich trauen, in den Gottesdienst zu gehen. Also den Kontakt zur Familie aufrechtzuerhalten. Ja, das finde ich auch so wichtig, also auch zwischen Großeltern und Enkeln und so weiter. Die Leute sind ja so verängstigt, dass sie sich nicht mehr trauen, ihre Enkelkinder in den Arm zu nehmen."
Er versucht, den Menschen ein stückweit die Angst zu nehmen - Pfarrer Thomas Dietz in Brandenburg
Er versucht, den Menschen Angst zu nehmen - Pfarrer Thomas Dietz in Brandenburg (Deutschlandradio / Camilla Hildebrandt)
Es sei darüber hinaus Aufgabe der Kirche, dies zu vermitteln. Während Pfarrer Dietz mit dieser Auffassung zu Beginn der Pandemie noch weitgehend alleine dastand und sich Anfeindungen ausgesetzt fühlte, mehren sich nun die Stimmen, die seiner Meinung sind. Markus Witte ist Professor für das Alte Testament und Dekan der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Er sagt:
"Der persönliche Kontakt ist unabdingbar. Und ich kenne persönliche Stellungnahmen von Eltern, Menschen, die sagen, das Virus ist die eine Seite, aber an Einsamkeit zu sterben, ohne Ansprache zu sterben, sei mindestens genauso schlimm. Und es gehört zu den christlichen Aufgaben seit der alten Kirche, aber auch als Erbe aus dem antiken Judentum, Alte und Einsame zu besuchen. Und das können auch alleinstehende Menschen sein, die jünger sind und dennoch unter Einschränkungen leiden, wenn sie keine sozialen Kontakte haben. Also Besuche müssen in jeder Form, unter Wahrung des Schutzes, durchführbar sein."
Spaltung überbrücken
Egal ob in Berlin-Mitte an der Uni oder auf dem Dorf im Norden Brandenburgs: Theologen fragen sich, wie menschliches Miteinander weiter möglich bleibt oder wieder möglich wird. Der Pfarrer sagt, die Gesellschaft sei durch Corona gespaltener denn je: Regierungsmaßnahmen-Befürworter hier, Corona-Maßnahmen-Kritiker dort. Drastisch formuliert wird unterstellt: Wer nicht dafür ist, riskiert die Gesundheit des anderen. Dietz:
"Die Spaltung zu überbrücken, das ist die Nummer eins. Aber das ist unheimlich schwierig. Ich hätte mir gewünscht, ich habe das so erlebt als geborener und bewusst gelebter DDR-Bürger, dass die Kirche zum Runden Tisch einlädt und die verschiedenen Seiten an einen Tisch bringt und so versucht, die Spaltung zu überwinden. Also das sehe ich als Hauptaufgabe."
Religion und Corona - "Wir leben unter dem virologischen Imperativ"
Der Historiker Michael Wolffsohn kritisiert eine Reduzierung auf den Kampf gegen Corona. "Eindimensionale Fixierung auf das, was virologisch richtig oder falsch ist, kann es nicht sein", so Wolffsohn im Dlf.
Auch Markus Witte beobachtet große Defizite in der Kommunikation, Dialog, Austausch, Debatte:
"Es ist ein Spiegel einer sehr starken Polarisierung und einer sehr starken Vereinfachung, sehr schnellen Kategorisierung. Ein kritischer Diskurs, der nötig ist, gerät leicht in die Gefahr der Diffamierung. Man kann an vielen Stellen beobachten, politischer Natur, wie bestimmte Diskussionsprozesse nicht möglich sind, mit bestimmten Hinweisen auf ein generell nötiges Handeln nicht ermöglicht werden. Und das führt gesellschaftlich zu einer Polarisierung und dann dazu, dass Menschen sich sogar geistig radikalisieren. Und das ist mindestens ein Kollateralschaden im Umgang mit der Krise, der uns lange beschäftigen wird."
Neues Denunziantentum
An der Basis beobachtet Pfarrer Dietz auch, dass sich Denunzianten wieder gestärkt fühlen. Unter anderem seit Politiker dazu aufriefen, sogenannte Corona-Missstände zu melden:
"Ich habe das erlebt in der DDR-Zeit und ich erlebe das jetzt wieder. Wie wir es jetzt erleben, scheinen sich also Leute aufzuspielen, Kontrollfunktion spielen zu müssen. Und ich muss mal sagen, ich stehe in der Verantwortung. Wir führen Veranstaltungen durch, und ich sagte das ja schon, dass wir natürlich versuchen, die Regeln durchzusetzen. Aber trotzdem steht man plötzlich irgendwo in der Angst, dass man angezeigt wird, denunziert wird, dass man womöglich dieses oder jenes nicht richtiggemacht hat."
Auch Karl-Georg Ohses Aufgabe ist es, Menschen zusammenzubringen. Der Sozialpädagoge und Supervisor leitet seit etwa zehn Jahren das Projekt "Kirche stärkt Demokratie". Es berät Ehren-und Hauptamtliche im Umgang mit demokratie-und menschenfeindlichen Einstellungen.
Benediktinermönch Anselm Grün - "Wir brauchen wieder Wurzeln"
In der Coronakrise seien die Kirchen nicht kreativ genug gewesen, sagte der Benediktiner Anselm Grün im Dlf. Die Menschen bräuchten Stabilität und konkrete Weisungen – etwa, wie man Einsamkeit aushalte und dem Sterben begegne.
"Ich bin Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus und wir versuchen einfach, den Gemeinden ein Stück weit Handwerkszeug an die Hand zu geben, wie solche zielgerichteten Dialogveranstaltungen aussehen könnten, ohne gleich miteinander in die Konfrontation zu gehen."
Wie die Konfrontation und Spaltung in Corona-Zeiten überwunden werden kann - Ohse hat da einen Vorschlag:
"Es gibt das schöne deutsche Wort Besonnenheit, und ich finde, das ist ein Wort, das sollten wir uns zu Herzen nehmen. Ein Stück weit Zuversicht. Ja, das wünsche ich mir auch gerade von Kirche. Ich glaube, das ist auch ihre Aufgabe, ein Stück weit Zuversicht zu verbreiten, und in dieser dunklen Zeit auf unsere Sprache zu achten. Auch das sage ich auch in Richtung Kirche. Also wirklich darauf zu achten, wie wir miteinander, wie wir übereinander und wie wir über die gesellschaftliche Situation sprechen."
Pfarrer Dietz: "Wenn jetzt jemand positiv getestet wird oder er bekommt Symptome: Neulich sagte das zu mir eine Kreis-Älteste, die die Erfahrung gerade gemacht hat bei ihrer Tochter. Sie sagte: Na, da wird man ja so angesehen, als ob man ein Flittchen wäre."
Auf die Worte achten
Auch Karl-Georg Ohse warnt vor der Tendenz, andere immer leichtfertiger abzuwerten: "Ich hatte gestern Abend gerade eine Fortbildung mit angehenden Gemeinde-Pädagoginnen, und da sind wir ganz schnell auf dieses Thema Sprache gekommen. Das bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft, aber Kirche ist ja auch eine Institution des Wortes, und gerade da kann man, glaube ich verlangen, dass sie besonders auf ihre Worte achtet."
Dass aktuell Schuldzuweisungen sehr schnell im Raum stehen, hat viele Gründe – weit über die Irritationen durch die Pandemie hinaus. Deshalb fragt der Theologe Markus Witte sich und seine Kirche selbstkritisch, ob es Versäumnisse gegeben habe.
"Ja, also der Umgang mit Schuld, mit Vergebung, mit Scham ist eigentlich etwas, das genuin zu christlichem Handeln und zu christlichem Nachdenken gehört, aber doch auch, wenn man sich Predigten anschaut, häufig gerne vermieden wird. Also bestimmte Fragen oder bestimmte Deutungsmuster werden selbst kirchlicherseits und auch von der Theologie gerne beiseitegeschoben. Und gerade in Krisenzeiten sind aber diese großen Phänomene diejenigen, mit denen Menschen konfrontiert sind. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, all das taucht jetzt wieder auf. Und wo theologisch gedeutet wurde, ist dann auch wieder das Phänomen zu beobachten, dass mit Kategorien gearbeitet wurde wie dem Zorn Gottes, die gleichsam wieder problematisch sind."
Thomas Dietz, Pfarrer in Schönfeld, beendete seinen zweiten Offenen Brief an den brandenburgischen Ministerpräsidenten im Mai 2020 mit den Worten:
"Ich erlebe, wie die Gemeinschaft in dieser Gesellschaft zerbricht! Und begleitend: Ich erlebe auch traurig und enttäuscht, dass meine eigene Kirche versagt und keine Stellung bezieht. Dies ist ganz und gar anders als zur DDR-Zeit! Dort hat Kirche Mut bewiesen, auch wenn nicht alles richtig war. Ich frage mich: Welche Perspektive geben wir alle eigentlich noch unserem Land, der nachfolgenden Generation?"
Da immer mehr Kirchenkollegen auf ihn zukommen, ist Dietz jetzt Ende November 2020 etwas zuversichtlicher als noch im Mai. Dennoch appelliert er an Kirche und Gesellschaft: "Ein breiter Austausch, ein breiter, offener Austausch, der jetzt nicht stattfindet, überhaupt nicht stattfindet. Wenn ich mir Bundestagsdebatten anschaue oder Landtagsdebatten anschaue zu dem Thema, werden ja keine inhaltlichen Argumente mehr ausgetauscht. Die Seiten beschimpfen sich. Und wenn wir als demokratische Gesellschaft bestehen wollen, brauchen wir dringend eine öffentliche, sachliche Debatte."
Was gehört zum Leben in Würde?
Pfarrer Dietz will in Ruhe darüber reden, wie es mit der Gesellschaft weitergeht. Wie weit die Maßnahmen in das Alltagsleben eingreifen, was mit den Menschen psychisch und physisch passiert. Viele ältere Gemeindemitglieder hätten ihm gesagt, sie wollten im Alter selbstbestimmt leben. "Wenn ich meine Kinder und Enkelkinder nicht mehr sehen kann", so hört er es immer wieder, "dann lohnt es sich nicht weiter zu leben." Was zeichnet ein Leben in Würde aus? Das sollte endlich besprochen werden, sagt auch Markus Witte, der Dekan der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität:
"Also wo man noch einmal neu darüber nachdenken muss, was Anfang des Lebens und Gestaltung des Lebens und auch die letzten Lebensjahre eigentlich ausmachen. Also da würde ich mir einen intensiven kritischen Dialog wünschen. Insgesamt vermisse ich in der gegenwärtigen Debatte vor allem philosophische, soziologische, ethische und theologische Stimmen. Sie kommen immer nur am Rand vor."