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Theorie-Geschichte
"Der Merve-Verlag war stilbildend"

Der Historiker und Kulturwissenschaftler Philipp Felsch erzählt in seinem neuen Buch die Theorie-Geschichte Deutschlands aus einer Perspektive: Im Zentrum steht der Merve-Verlag mit seinen Gründer Peter Gente. Ein Gespräch mit dem Autor über seine Recherchen und über Theoriebildung gestern und heute.

Philipp Felsch im Gespräch mit Barbara Schäfer | 07.06.2015
    Philipp Felsch (l) und Claus Leggewie auf der Bühne von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse.
    Philipp Felsch auf der Bühne von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse. (Deutschlandradio - Andreas Buron)
    Barbara Schäfer: Philipp Felsch, Historiker und Kulturwissenschaftler und Juniorprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sie haben 2015 das Buch veröffentlicht "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960 - 1990", in dem Sie gut gelaunt, leichthändig, präzise und voller Tiefenrecherche einen Bogen schlagen - Sie fragen: Was war Theorie? Man könnte jetzt meinen, die theorieversessenen 1968er hätten schon alles gesagt und geschrieben und werden auch nach dem 40. Jahrestag von 1968 nicht müde, das weiter zu tun. Sie sind Jahrgang 1972, was ein bedeutender Unterschied ist, Sie waren bei all diesen Theorie-Geschichten nicht dabei - was war Ihr ganz persönlicher Auslöser und Ihr Antrieb, dieses Buch zu schreiben?
    Formen der Theorie-Standards
    Philipp Felsch: Ja, es ist natürlich das Buch eines Nachgeborenen, also die Ereignisse, die hier geschildert werden, wie Sie ganz richtig sagen, habe ich selber nicht miterlebt oder nur von großer Ferne. Die letzten Kapitel des Buches erreichen dann die Zeit, in der ich selbst vielleicht schon Theorie gelesen habe, aber es ist trotz allem das Buch, die Aufarbeitung eines ganz persönlichen Leseerlebnisses, denn ich selber habe in den 1990er-Jahren in Bologna in Italien dieses Theorie-Erlebnis gehabt als Leser damals von Foucault, Deleuze. In den 1990er-Jahren waren das die berühmten französischen Theoretiker, die man las und die man eben auch mit einer Intensität und einer existenziellen Bedeutung auflud, die dem, was ich davor gelesen hatte an der deutschen Uni, nicht gleichkamen. Also das war eine neue Art von Lektüre schwieriger philosophischer Texte. Mir wurde sie nahegebracht von einem italienischen Foucault‑Schüler, der selbst Foucault in den 1980er-Jahren noch kennengelernt hatte am Collège de France, und der hatte also auch, glaube ich, so den ganzen foucaultschen Habitus übernommen - des Dozierens und dieser wirklich brillanten Rhetorik. Und viele Jahre später, ungefähr zehn, wurde ich durch Zufall dann auf diese Texte wieder aufmerksam, ging an mein Bücherregal - es war ursprünglich eine kleine Auftragsarbeit, etwas über den kleinen Merve-Verlag zu schreiben -, und dann kam mir das alles irgendwie wie eine Erinnerung vor, denn in den Jahren davor hatte ich diese Bücher gar nicht in der Hand gehabt, und im Grunde ist das Buch dem Versuch entsprungen, dieses eigene Lektüre-Erlebnis zu erklären. Und mir wurde relativ schnell klar, dass ich dazu weiter in die Vergangenheit gehen musste, sprich bis in die späten 1950er-, frühen 1960er-Jahre, wo, glaube ich, dieser, ja, dieser kulturelle Standard, könnte man vielleicht sagen, namens Theorie seine Form angenommen hat.
    Schäfer: Sie haben eben schon das Stichwort genannt, Merve-Verlag, Sie erzählen die Geschichte aus einer Perspektive, mit einem Leitmotiv, mit einer Leitfigur - das ist der Merve-Verlag selbst mit seinem Gründer Peter Gente und seinen beiden Frauen, Merve Lowien und Heidi Paris. Die Geschichte des Merve-Verlags zu erzählen als Theoriegeschichte in Deutschland ist ja auch ein bisschen eine Infragestellung der bisher gesetzten Suhrkamp-Kultur. War das ein besonderer Reiz für Sie, Theoriegeschichte noch mal aus einer anderen Warte zu erzählen in Deutschland?
    Merve war eine kleine Klitsche
    Felsch: Ja, unbedingt, wobei die große Geschichte der Theorie anhand der Suhrkamp-Kultur existiert meines Ermessens eigentlich auch noch nicht. Aber natürlich war die Entscheidung für Merve und gegen Suhrkamp schon auch … hat mir Spaß gemacht. Sie hat aber auch, glaube ich, wirklich inhaltliche Gründe gehabt, denn ich musste für dieses Buch auch nach Marbach pilgern und in den Suhrkamp-Verlagsnachlass schauen. Suhrkamp hat ja genau wie Merve Ende der Nullerjahre seine Materialien sozusagen absichtlich den Historikern in die Hände gespielt, ins Archiv übergeben. Das ist auch schon irgendwie signifikant für die Zeit, in der wir uns jetzt befinden. Ich musste also auch ins Suhrkamp-Archiv pilgern, denn Peter Gente wäre beinahe bei Suhrkamp gelandet, als Lektor nämlich und Redakteur einer geplanten Zeitschrift, und dann hätte es wahrscheinlich nie den Merve-Verlag gegeben. Aber der Merve‑Verlag erlaubte es mir, diese Geschichte der Theorie-Begeisterung stärker noch aus Sicht ihrer Leser zu schildern, denn Suhrkamp war ein großes, professionell geführtes Frankfurter Verlagshaus, dementsprechend ist auch der Nachlass, den man in Marbach findet, sehr stark einfach von professionellem Schriftverkehr geprägt. Merve war eine kleine Klitsche, wenn Sie so wollen, also entstanden im Alternativmilieu, antiautoritären linken Milieu in Westberlin 1970 von begeisterten, politisch engagierten Theorie-Lesern, die sozusagen im Kielwasser der Studentenbewegung jetzt ihre politische Praxis im Büchermachen entdeckten. Und diese große Nähe, also diese Peer-to-peer-Culture, dass da sozusagen Leser dann ihre Obsession zum Beruf machen und aber immer auch dieses eigene Theorie‑Erlebnis zur Richtschnur ihrer publizistischen Tätigkeit machen, diesen engen Zusammenhang, den konnte ich so nur bei Merve finden. Und darum geht es eigentlich im Buch. Es geht schon um die Frage, wie hat sich das damals angefühlt, Theorie zu lesen, und warum war das so ein intensives Erlebnis und wie hat das eben die Studentenbewegung, aber auch die politische Kultur der Bundesrepublik geprägt.
    Schäfer: Bevor wir die Figur von Peter Gente noch mal genauer betrachten und auch das Programm des Merve-Verlags, möchte ich Sie erst mal fragen: Ab wann war denn eigentlich Theorie das Gebot der Stunde?
    Felsch: Theorie ist ja, könnte man sagen, ein Kollektivsingular, also man spricht von Theorie machen, Theorie lesen, Theorie verlinken, und wir wissen alle, was das heißt. Und ich glaube, das wissen wir wahrscheinlich, beziehungsweise diejenigen, die damals sich für dieses Thema interessiert haben, seit den frühen 1960er-Jahren. Ich glaube, das ist die Zeit, in der sich in der Bundesrepublik dieser Kollektivsingular, ja, wie ich eingangs gesagt habe, als neuer kultureller Standard etabliert, und im Falle Gentes war dafür maßgeblich verantwortlich Theodor W. Adorno, seine erste große Theorielektüre, und Adorno hat einen neuen philosophischen Stil in der Bundesrepublik etabliert. Das Buch, was für Gente maßgeblich wurde, sind die "Minima Moralia" gewesen, diese Aphorismensammlung, die hoch literarisch, hoch poetisch daherkommt. Die ersten Rezensenten haben das Buch eher als Gedicht sozusagen dekuvriert. Und in diesem Gedicht, in diesem Versepos, in dieser Aphorismensammlung, die natürlich auch von Nietzsche inspiriert ist … in der Form steckt aber eben wirklich hoch ambitionierte Gesellschaftskritik, die Adorno eigentlich, so behaupte ich im Buch, unter die Leser geschmuggelt hat, die damals in den späten 1950er-Jahren noch eher so existenzialistisch drauf waren, und mit Adorno dann sich dieser Existenzialismus langsam in Gesellschaftskritik transformierte. Gesellschaftskritik hieß immer auch Kritik der Philosophie, Kritik der akademischen Institutionen, und insofern war Theorie von Anfang an auch gegen die Philosophie, wie sie etwa Heidegger verkörperte, gerichtet.
    Schäfer: Und wir befinden uns im Nachkriegsdeutschland mit zurückkehrenden, aus dem Exil zurückkehrenden Philosophen, Denkern, Essayisten. Adornos Minima Moralia erschien 1957 …
    Felsch: Im Jahr 1952 sogar, Gente bekam sie 1957 in die Hand. Das Buch war die ersten Jahre lang so latent vorhanden, keiner kannte es, Adorno selbst war auch noch nicht so bekannt, und das geht dann zehn Jahre später auf einmal ganz rasant nach oben, und er wird wirklich neben Walter Benjamin zu dem Autor und dann auch Ziehvater einer Studentengeneration.
    Schäfer: Und Peter Gente, Jahrgang 1936, war Student, aber auch Fließbandarbeiter bei Siemens in Berlin und hatte da quasi das Erweckungserlebnis, wie Sie schön schreiben, "Minima Moralia" gelesen zu haben, und er wurde, ja, er wurde zu einem denkenden Leser und hatte dann aber an der Universität relative Misserfolge damit zu schreiben, Arbeiten anzufertigen, womöglich sogar zu veröffentlichen. Er hatte aber eine Begegnung an der Universität mit dem Religionsphilosophen Jacob Taubes, dem Sie als zweite Figur in Ihrem Buch auch großen Raum widmen. Wo lag die Geistesnähe, die Verwandtschaft zwischen Peter Gente und Jacob Taubes?
    Taubes und Gente waren schlechte Schreiber
    Felsch: Kurz gesagt lag sie darin, dass sie beide schlechte Autoren beziehungsweise Schreiber waren, die sich sehr schwergetan haben mit dem Schreiben, aber brillante Leser gewesen sind. Und ich glaube, das macht sie in gewisser Weise auch zu symptomatischen Figuren für die Generation der 1968er-Gente natürlich noch viel mehr, Taubes ist ja älter und einer ganz anderen Generation zugehörig. Aber es gibt ja diesen Befund, dass die deutschen 68er, theorieversessen, wie sie waren, relativ wenige Theoretiker von Rang selber hervorgebracht haben. Das hat Henning Ritter mal gesagt, der mit Gente zusammen Hilfskraft bei Taubes war - also da laufen auch so ganz viele Fäden zusammen in diesem Umfeld -, dass die 1968er ihren Vätern das Wort entzogen haben, den im Nationalsozialismus kompromittierten Eltern, aber nicht, um es selbst zu ergreifen, sondern um es den Großeltern zurückzugeben, also sprich den oftmals exilierten Denkern aus der Vor- und Zwischenkriegszeit. Und dafür ist Gente eben wirklich ein Paradebeispiel. Er war in Berlin in den mittleren 1960er-Jahren so wirklich schon mittendrin in der sich formierenden Studentenbewegung, kannte ganz viele und ist mit denen demonstrieren gegangen auf dem Ku'damm und so weiter und so fort, und der kannte einfach früher und mehr Texte als alle anderen und hat das dann unter den rebellierenden Studenten verteilt und machte sich eben früh einen Namen als Enzyklopädist der Revolte. Taubes ist dafür auch wichtig. Taubes ist neben Adorno das zweite große Bildungserlebnis von Gente. Er ist als Figur viel weniger bekannt, nicht zuletzt, weil er eben fast nichts geschrieben hat. Er hat eine Doktorarbeit geschrieben und dann lange nichts beziehungsweise nur …
    Schäfer: Aber er ist eine schillernde Persönlichkeit gewesen.
    Felsch: Schillernde Persönlichkeit, genau, ein Enfant terrible unter den Professoren der FU, er war seit 1964 dort, schlug sich dort auf die Seite der rebellierenden Studenten, las aber auch reaktionäre Theoretiker - Carl Schmitt etwa gehörte zu seinen wichtigsten Lektüren -, und der hat eben die Berliner Studenten mit apokryphem Lektürematerial geimpft, würde ich sagen. Das waren sozusagen Auswege aus dem Kanon der kritischen Theorie. Man las auch französische Autoren sehr früh - Taubes war jemand, der Derrida schon sehr früh nach Berlin einlud in den 1960er-Jahren. Also da deutet sich eigentlich schon das an, was später der Merve-Kanon sein wird, also eine Philosophie, die von der kritischen Theorie in ihrem Standard, die ja von der Suhrkamp-Kultur in den 1960er-Jahren verkörpert und verlegt wurde, abwich, etwa sich nach Frankreich orientierte.
    Schäfer: Man sagt von Jacob Taubes oder es lässt sich nachlesen, dass man über ihn sagt, durch Handauflegen wäre er in der Lage gewesen, den Gehalt eines Buches oder Textes unfehlbar zu erfassen genauso wie intellektuelle Landschaften - das schreiben Sie - mit wenigen Federstrichen zu beschreiben. Hatten denn Peter Gente und Jacob Taubes um die Gründung des Merve-Verlags herum 1970, als Gente sich entschloss, tatsächlich einen Verlag zu machen als Kollektiv, Kontakt, waren die im direkten Gespräch, was sagen Ihre Recherchen?
    Gente war ein schüchterner Student
    Felsch: Ja, also Gente war Student bei Taubes, er war ihm in den Seminaren nicht aufgefallen, weil Gente schüchtern war. Der war kein Aktivist, er war auch kein Redner, er war auch kein Autor. Aber er fiel Taubes dadurch auf, dass er eben Texte aus Frankreich, die in Berlin noch niemand kannte - Roland Barthes unter anderem - ganz früh schon ins Deutsche übertrug. Taubes hat Gente a) über diese ganze Zeit, glaube ich, immer wieder tatsächlich orientiert und überrascht mit den Lektüren, die er sozusagen anbot und anschleppte, und auf der anderen Seite - und das ist auch ganz wichtig, und nicht zu unterschätzen - war Taubes insofern kein typischer deutscher Professor, als dass er schon in den USA, wo er gewesen war, kam also zurück nach Deutschland, auch durchaus mit großen Bedenken anfangs als Jude, da war er schon professionell tätig gewesen für verschiedene Verlage. Das war auch ein sehr gewiefter und wendiger Verlagsprofi, der eben nicht zuletzt deswegen auch von Siegfried Unseld für die Suhrkamp-Theorie-Reihe als Berater engagiert worden war. Und das hat er, glaube ich, Gente mitgegeben, und er hat ihn sicherlich auch ermutigt, mach doch einfach deinen eigenen Laden, nachdem es mit Suhrkamp nicht klappte. Taubes hat nämlich versucht, Gente nach Frankfurt zu vermitteln, daraus wurde aber nichts. Insofern ist der Mann wirklich für den Merve-Verlag ganz wichtig irgendwie als Gründerfigur.
    Schäfer: Und wir haben auch dort schon eine Anfangsnähe von Suhrkamp und Merve, so unterschiedlich diese Verlagsgebilde und Verlagshäuser sind, es gab eine Nähe, Unseld beauftragte Leute wie Taubes neben der schon laufenden Edition Suhrkamp eine Theorie-Reihe zu veröffentlichen und Peter Gente im Hintergrund. Springen wir mal in den Merve-Verlag hinein. Sie haben die Gelegenheit gehabt, den Nachlass von Peter Gente anzuschauen.
    Felsch: Ja, Gelegenheit ist gut, das war natürlich auch harte Arbeit. Gente hat 2007, glaube ich, sich zurückgezogen aus der Verlagsarbeit, einige Jahre, nachdem sich seine Lebensgefährtin - die übrigens auch ganz wichtig ist für die Verlagsgeschichte, Heidi Paris, wir haben sie schon erwähnt - das Leben genommen hatte, ich glaube 2002. Und er hat dann den Verlagsnachlass nicht zuletzt auch, um seine Rente finanzieren zu können, bevor er sich nach Thailand absetzte, wo er im letzten Jahr, 2014, gestorben ist mit Mitte 70, wenn ich mich nicht irre, ungefähr …
    Schäfer: 78.
    Felsch: Richtig, Ende 70, hat er diesen Verlagsnachlass ans Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe verkauft. Da lag er, und ich wurde eben durch Zufall 2008 darauf aufmerksam gemacht, dass da dieses Material liegt, ob ich mir das nicht mal anschauen wollte, um eventuell eben etwas Kleines über Merve zu schreiben. Und während Gente also schon unter Kokospalmen saß in Thailand, habe ich also angefangen, mich durch seine Hinterlassenschaften zu wühlen, und dann wurde mir eben relativ schnell klar …
    Schäfer: Welchen Umfangs?
    Felsch:
    Das war damals noch vollkommen ungeordnet, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es inzwischen geordnet ist. Das sind einfach…ich weiß gar nicht, es sind vielleicht 30 Kisten oder so, ich hab sie auch nicht alle durchgeschaut. Es ist viel Material, aber es hat einfach dann doch relativ schnell mich in seinen Bann gezogen, weil mir eben klar wurde, dass hier weniger kaufmännisches, professionelles Verlagsmaterial liegt, sondern eben ganz viel Korrespondenz und im Grunde die Spur eines epischen Leseabenteuers seit den späten 1950er-Jahren, seit Gente auf Adorno gestoßen war und dann auch mit ihm korrespondiert hatte. Also da liegen Materialien eben wirklich, die dieses gesamte Gebiet abstecken.
    Schäfer: Und um die Theorie-Geschichte zu verfolgen, die Verlagsgründung fand statt, Merve Lowien, die damalige Frau von Peter Gente, war die Namensgeberin, aber es wurde als Kollektiv gegründet und von Anfang an auch als ein gemeinsames Diskussions‑ und Leseforum. Was wurde gelesen zunächst?
    Felsch: Man hat angefangen mit vor allem italienischen Marxisten - damals war die Strömung des Operaismus in Italien, der dann Antonio Negri sehr viel später noch mal wieder unter veränderten Vorzeichen Auftrieb gegeben hat, war wichtig, und Merve hat das entdeckt und ausgebeutet, auch wieder so ein Beispiel, wo Gente seinen Lektürevorsprung ausspielen konnte, er kannte das alles schon ziemlich gut, und Merve hat italienischen Marxismus vertrieben bis Mitte der 1970er-Jahre.
    Schäfer: Und zunächst hieß es auch im Verlagsprogramm "Internationale marxistische Diskussion 1".
    Felsch: Genau. Also man war marxistisch orientiert, antiautoritär, also den K-Gruppen gegenüber, die sich ja damals auch bildeten, in Deutschland stand man sehr kritisch gegenüber, das ist der antiautoritäre Flügel, später alternative Flügel der Studentenbewegung, die Merve zugehörig ist, und man glaubte ans Diskutieren, das ist sozusagen der zweite Markstein, der in diesem Reihentitel "Internationale marxistische Diskussion" festgeklopft wird. Ein geradezu haarsträubendes Lektüreerlebnis, heute diese Diskussionsprotokolle sich noch mal anzuschauen - denn die sind auch überliefert -, die im Merve-Verlag dreimal wöchentlich bis zu acht Stunden angefertigt wurden.
    Schäfer: Handschriftlich, Schreibmaschine?
    Felsch: Schreibmaschine. Ich weiß nicht mehr genau, wie sie es gemacht haben, sie wurden aber abgetippt und liegen jetzt in Schreibmaschinenfassungen vor. Also das ist auch wieder so ein ganz interessantes Kapitel aus der Geschichte der 1968er, dass der Glaube an die Mündlichkeit, an die Kollektivität, an die Kommunikation …
    Schäfer: An die Bedeutung auch dessen, was man da erdiskutiert.
    Felsch: Ja … dass der halt eine enorme Welle der Verschriftlichung und fast Bürokratisierung, könnte man auch sagen, angestoßen hat. Die Merves waren beileibe nicht die Einzigen im Dschungel der Kommunen und Kollektive, die Diskussionen geführt und protokolliert haben und dann diese Diskussionsprotokolle noch mal diskutiert haben, denn es ging ja immer um Lernprozesse. Also man wollte die Gruppendynamik und die Art und Weise der gruppeninternen Kommunikation stetig verbessern, und dazu musste man sie sozusagen dokumentieren, um sie dann sich erneut vornehmen zu können. Und das ging natürlich schief, also einfach die Erwartung an die Kommunikationsprozesse waren so hoch gesteckt, das richtige Leben im Falschen, wie man ja in den 1970er-Jahren in diesen kleinen Gruppierungen gegen Adorno dann doch sich vorgenommen hatte, musste scheitern, sodass das Merve-Kollektiv ab Mitte der 1970er-Jahre dann auch einfach aufgrund von Ermüdungserscheinungen von diesem enormen Gruppenzwang des Diskutierens langsam, aber sicher auseinanderbröselte.
    Schäfer: Sie schreiben, Merve Lowien schreibt in ihren Erinnerungen: "Aus unverdrossenem Diskutieren wurde ‚unerträgliche Marmelade‘". Es ging um viel zu viel, und jeder musste ja auch alles machen, also ging es auch um Tätigkeiten und Funktionen, wie wir heute sagen würden, neoliberalen Stils.
    Taschenbuch war Vorbote der Massenkultur
    Felsch: Es ging eigentlich drum, Arbeitsteilung zu überwinden, die Widersprüche der Gesellschaft, wie man in marxistischer Terminologie sagte, zu vermitteln, und das hat immer dann eben auch so einen totalisierenden Zug gehabt. Es musste über alles geredet werden, alle mussten alles machen, und die Verlegerin vermerkt dann irgendwann ganz treffend, dass das in die totale Dysfunktionalität dann auch dieses Kollektivs, letztendlich an seiner Diskussion mündete.
    Schäfer: Und abgesehen von den Texten, die in den 1970er-Jahren veröffentlicht wurden, ging es auch noch um eine Diskussion, die eigentlich bis heute reicht: Es ging darum, dass Merve sich vom Buchmarkt verabschiedete, indem es sagte, wir machen Raubdrucke, wir fragen keine Copyrights an, eine für uns heute hochaktuelle Diskussion im digitalen Zeitalter, aber komplett anders geführt natürlich.
    Felsch: Vom Tod des Buches wurde übrigens auch schon in den 1960er-Jahren gesprochen.
    Schäfer: Und es gab eine Riesen-Taschenbuchdiskussion.
    Felsch: Richtig.
    Schäfer: Im Hinterland des Buches von Merve-Perspektive aus gesehen.
    Felsch: Genau, so wie heute übers Internet diskutiert wird, wurde in den frühen 1960ern übers Taschenbuch diskutiert, ein Vorbote der Massenkultur, aus Amerika kommend. Rowohlt hat die ersten gemacht, und dann zog eben Suhrkamp nach mit den ersten Theorie-Taschenbüchern.
    Philipp Felsch, geboren 1972, studierte Geschichte und Philosophie, war Stipendiat am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien und arbeitete am Zentrum Geschichte des Wissens an der ETH Zürich. Heute ist er Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2015 erschien sein Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. Monographie."
    Schäfer: Angefeindet von Hans Magnus Enzensberger.
    Felsch: Ja, angefeindet, da tut man ihm unrecht. Enzensberger war immer schon zu schlau, um irgendetwas einfach so platt anzufeinden, aber Enzensberger ist der Bekannteste hierzulande unter den Taschenbuchkritikern, und er hat wirklich das Taschenbuch erst mal als Vorbote eines drohenden Todes des Buches betrachtet. Mit Taschenbüchern wurde also Bildung zu Ware und Lesen wurde zu Konsum, so kann man das bei Enzensberger nachlesen - kaum noch nachzuvollziehen heute, wie man damals bei Suhrkamp darüber gestritten hat, ob man diese Edition Suhrkamp, in der ja auch hoch philosophische Titel verlegt wurden, Theorie-Titel, Wittgenstein, Adorno, Bloch et cetera, ob man die in diese schrillen Regenbogenfarben kleiden darf. Am Anfang hat man dann … ob das sozusagen der höheren Bildung gerecht wird oder ob sie das verrät, nämlich an eine marktschreierische Konsumkultur, "kauf mich", so in der Art. Aber Suhrkamp hat das Theorie-Taschenbuch etabliert. Da geht es auch einfach um einen neuen Buchmarkt, also philosophische Texte wurden auf einmal in die Zehntausende, der Verkauf, in einem Jahr, während philosophische Klassiker halt in Hunderten verkauft wurden - Husserl, Heidegger. Und Merve ist vielleicht so ein bisschen die Fortführung von Suhrkamp mit anderen Mitteln, könnte man sagen. Also das ist auch ganz programmatisch, diese Broschüren und Hefte und Büchlein der 68er sind eben auch Versuche, den wahren Charakter des Buches jetzt noch mal wieder mit anderen Mitteln zu unterdrücken und dem Buch seinen Gebrauchswert zurückzugeben, den Tauschwert zu unterdrücken. Deswegen also der Bruch mit dem Buchdesign, deswegen diese Bleiwüsten, die wir heute gar nicht mehr lesen mögen, weil unsere Augen einfach ganz andere Layouts gewöhnt sind - kaum Rand, kaum Zeilenabstand, Bilder sowieso schon gar nicht, also eine hoch protestantische Schriftkultur auch. Und in diesem Strom schwimmt Merve mit und macht also am Anfang ganz eng bedruckte, programmatisch schlecht gemachte Bücher, die keine Ware sein wollen.
    Schäfer: Jetzt hat Merve in den zwei bedeutenden Jahrzehnten, den 1970ern und den 1980ern, auch mehrere Wechsel, Debatten, Kulturen durchgemacht, die immer zu auch einem anderen Ergebnis führten. Heidi Paris stieß dazu, das Verlegerpaar Gente/Paris drehte auch ein wenig an der Philosophie des Verlags, sie brachte sehr viel Kunstverständnis mit, man ging auch in Kunst- und Theorie-Bereiche, in Ausstellungsbereiche eigentlich. Dieser Merve-Sound, der sich entwickelte - es ist sicherlich vermessen, immer zu sagen, dass es einen Vergleich zu Suhrkamp gibt, Merve funktionierte komplett für sich allein und war ein ganz anderer und viel kleinerer Kosmos -, aber der Merve-Sound, der sich entwickelte, Bücher über Lachen, über die gesamte französische Denkkultur, die landeten nicht unbedingt alle in den anderen Theorieverlagen mit ihren großen Büchern, da gab es schon eine sehr persönliche Verbindung zwischen Merve und Paris. Wird das stehen bleiben, ist das die Denkschrift Merve, die unauslöschbar ist?
    Merve hat eine Rezeptionskultur geprägt
    Felsch: Ja, Peter Gente war ja Zeitschriftensammler, viele Merve-Bände sind kompiliert aus Zeitschriftenartikeln. Er hat die einschlägigen französischen Tageszeitungen und einige Zeitschriften abonniert, und daraus konnte man damals noch ein komplettes Verlagsprogramm gestalten - heute auch nicht mehr denkbar, weil natürlich auch wieder diese Zeitspanne, dieser Erkenntnisvorsprung, den man haben konnte, wenn man das Zeug hier in Berlin las, der ist natürlich heute eingedampft einfach auch wieder durch die digitale Gleichzeitigkeit. Also Rainald Goetz, der ja auch später zum Merve-Autor geworden ist in den 1990er-Jahren, hat mal geschrieben, dass die Zeitungsobsession von Gente die ganze Theorie-Kultur der Bundesrepublik mitgeprägt hätte - deswegen vielleicht auch Fortsetzung von Suhrkamp mit anderen Mitteln.
    Also Theorie war eben auch seit den 1960er-Jahren ein kürzeres Format, ein aktuelles, interventionistisches Format, und bei Merve wird das eben noch kürzer. Man wollte ja auch wirklich interventionistische Texte machen zum Gebrauch, die einen hohen Aktualitätsbezug aufweisen. Dieses Format hat Lesekultur natürlich geprägt und verändert. Es gibt Leute, die behaupten, dass mit dieser Art von Theorie-Lektüre, von kurzen Texten, von schwebender Aufmerksamkeit, von Vernetzung unterschiedlicher Texte, die man so nebeneinanderliegen hat, dass das sozusagen die Vorform des Lesens ist, wie wir es heute in der digitalen Welt tun. Merve hat eine Rezeptionskultur geprägt, die einmal an diesem Format liegt und die dann, glaube ich, wirklich auch bis heute - und das ist eben auch Vermächtnis von Merve - ganz wesentlich daran liegt, dass der Verlag mit seinen Produkten in den 1980er-Jahren in die Kunstwelt ausgewandert ist, nachdem man in der politischen Sphäre nach dem deutschen Herbst nach 1977, nach dem Zerfall des irgendwie linken Glaubens an die Revolution, nachdem man in der politischen Sphäre sich nicht mehr aufhalten konnte. Die Theorie in der Kunstwelt, wo sie bis heute floriert, ist eben, ja, sehr impressionistisch, sehr ästhetisch eben auch, und teilweise ist sie ja von Kunst gar nicht mehr so richtig zu unterscheiden. Die Bücher, die seit den 1980er-Jahren gemacht werden als Theorie-Publikationen, die sind sehr bilderreich, die sind collagiert, die sind materialreich, die sind teilweise auch sehr aufwendig gestaltet. Und da ist Merve auch so ein Schrittmacher gewesen, glaube ich, und da hat die Theorie tatsächlich eine bestimmte Form des Theorie-Diskurses bis heute überlebt.
    Schäfer: In den 1990er-Jahren oder bis zu den 1990er-Jahren, wo Ihr Buch endet, gibt es irgendwann einen Abgesang auf die Theorie, und das nicht nur bei Merve.
    Felsch: Ja, Merve war, glaube ich, wirklich stilbildend für die 1980er, als der Theorie-Diskurs, den Merve machte, also der französische vor allem, noch nicht in den deutschen Unis angekommen war. In den USA sind die 80er-Jahre auch schon die Zeit der Akademisierung, French Theory findet in literature departments statt, in Deutschland und speziell Westberlin ist das eher so ein außer- oder halbakademisches Phänomen, bestenfalls Dietmar Kamper an der FU …
    Schäfer: Als Soziologe.
    Felsch: Soziologe, war sowohl an der Uni, aber auch gerne im Kunstbetrieb, im Nachtleben unterwegs mit seinen Veranstaltungen. Dafür ist Merve ganz paradigmatisch und stilbildend geworden. In den 1990ern setzt dann auch in Deutschland nach der Wiedervereinigung die Akademisierung der French Theory und all dessen, was dazugehörte, ein - neue Disziplinen entstehen, Kulturwissenschaft, man machte auf einmal Kulturgeschichte, die Pop-Theorie etablierte sich auch in akademischen Zusammenhängen. Und da ist, glaube ich, Merve dann so ein bisschen abgehängt worden, weil sie doch dann sehr stark so in einem Kunstmilieu feststeckten, und da wurde dann zum Beispiel so ein Organ wie "Texte zur Kunst" auf einmal wichtiger. Der Titel sagt es ja schon auch: Sozusagen von der Kunst kommen, aber von vornherein, glaube ich, ein sehr viel unproblematischeres Verhältnis zur Akademie pflegen. Die haben in ihren ersten Heften auch schon Interviews mit wichtigen Professoren in Deutschland. Und deswegen ist Merve dann für die 1990er-Jahre, glaube ich, für diese Welle der jetzt akademischen, akademisierten Theorie nicht mehr so stilbildend gewesen. Das Ende, das viel diskutierte Ende der Theorie fällt dann eher in die Nullerjahre. Damals werden die großen Abgesänge auf die Theorie geschrieben, auch natürlich durch 9/11, durch das Postulat einer wiederkehrenden Realpolitik, die Wirklichkeit, die Fallstudien an den Unis waren auf einmal wieder gefragt. Als ich promoviert habe in den Nullerjahren, in einem also auch theoretisch eigentlich ambitionierten Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte hier in Berlin, war Foucault Persona non grata - alle hatten seine Bücher gelesen, man durfte diesen Namen aber nicht aussprechen, weil das zu 90er-Jahre irgendwie war, zu pauschalisiert, man wollte jetzt sich ins Material hineinwühlen.
    Schäfer: In welches Material?
    Felsch: Ins historische. Man wollte empirisch sein, man wollte Material nah sein, aber man wollte nicht theoretisch sein.
    Schäfer: Sie schreiben, es lässt sich vermuten, dass die Theorie im Moment in der Literatur ihr Wohl sorgt, im Theorie-Roman womöglich. Wenn ich daran denke, wie Literatur- und Medienwissenschaftler wie Joseph Vogl über die "Finanzkrise" und jetzt gerade erschienen den "Souveränitätseffekt" schreiben, ist plötzlich die Geisteswissenschaft zuständig für das, was Sie eben benannt haben.
    Felsch: Okay, da beweist sich ja nach wie vor in den Texten von Joseph Vogl die Faszination und auch die Erklärungskraft und die Brillanz der französischen Theorie, die er natürlich nach wie vor verpflichtet bleibt. Mich interessieren Phänomene wie die Tatsache, dass Theorie die Literatur so lange zu ihrem Gegenstand gemacht hat. Sowohl in den USA als auch in Deutschland ist die Theorie natürlich immer am stärksten gewesen eigentlich, und jetzt seit einigen Jahren erreicht uns aus den USA das Genre des Theorie-Romans, wo eine Generation ehemaliger College-Studenten darüber schreibt, wie sie in den 80er-Jahren ihr gesamtes Liebesleben an Roland Barthes ausgerichtet haben und welche Risiken und Nebenwirkungen das hatte.
    Schäfer: Haben wir das nicht mit Thomas Meinecke auch schon längst in Deutschland?
    Felsch: Ja, haben wir in den 1990er-Jahren mit Thomas Meinecke, muss man wirklich sagen, haben wir diesen Theorie-Roman eigentlich schon gehabt. Aber trotz allem ist Meinecke, würde ich sagen, noch ein bisschen anders als die Theorie-Romane jetzt, weil er der Materie der Theorie natürlich ganz nahesteht. Also Tomboy steht ja doch wirklich … mit einem Bein ist er Theorie und war auch eine ganz tolle Einführung in die Anliegen, Formen der French Theory.
    Schäfer: Vielen Dank für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Philipp Felsch

    Der lange Sommer der Theorie, C.H.Beck Verlag, 2. Auflage 2015. 327 Seiten, mit 23 Abbildungen, 24,95 Euro.