Freitag, 29. März 2024

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Theresa Mays Brexit-Rede
"Das klingt sehr nach Rosinenpickerei"

Die Briten sollten beim Brexit den Verbleib im EU-Binnenmarkt vernünftigerweise nicht ablehnen, sagte der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen im Dlf. Theresa Mays jüngstes Beharren auf einer völlig neuen Art der Partnerschaft sei hoch gepokert. Dabei sitze die EU am längeren Hebel.

Jo Leinen im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 03.03.2018
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen (imago / Yex Pingfan)
    Jörg Münchenberg: Seit Monaten quälen sich die Verhandlungsführer auf britischer und EU-Seite durch die vertraglichen Feinheiten des Brexits. Noch immer ist man von einem Durchbruch weit entfernt, zumal die britische Premierministerin Theresa May in einer Grundsatzrede gestern weiterhin eine klare Positionierung über die künftigen Beziehungen zur EU vermieden hat. Gleichzeitig hat May jedoch in einem Interview bekräftigt, ein zweites Brexit-Referendum werde es nicht geben. Stephanie Pieper berichtet:
    Britische Reaktionen auf Mays Brexit-Plan (03:30)
    Und zugehört hat der EU-Abgeordnete Jo Leinen von der SPD. Herr Leinen, ich grüße Sie!
    Jo Leinen: Hallo, Herr Münchenberg!
    Münchenberg: Herr Leinen, die britische Premierministerin hat gestern gesagt, sie wolle keines der bekannten Modelle für eine künftige Partnerschaft übernehmen, stattdessen solle es eine Zollpartnerschaft geben. Können Sie sich eigentlich darunter vorstellen, was sie da gemeint hat?
    Leinen: Nun, das klingt ja sehr nach Rosinenpickerei. Großbritannien sucht sich einige Bereiche aus, die ihm wichtig sind, und da soll dann quasi die Zollunion und der Binnenmarkt gelten, und alles andere, was ihnen nicht wichtig ist, da soll britisches Recht gelten. Und dieser Widerspruch besteht und der ist auch für die EU schwer verdaubar, ich sage mal: noch nicht akzeptabel.
    "Rede konziliant im Ton, unklar in der Substanz"
    Münchenberg: Wie bewerten Sie denn diese gestrige Rede? Gibt es jetzt ein bisschen mehr Klarheit oder ist das eben nur klar, dass weiterhin alles unklar ist?
    Leinen: Wenn man den Ausgangspunkt sieht vor 20 Monaten, da hat Frau May gesagt: Was heißt Brexit? Brexit heißt Brexit! Das heißt, eine ziemlich kaltschnäuzige Aussage: Wir gehen raus und die anderen müssen unseren Regeln folgen! Mittlerweile merkt man ja, dass es konkret wird und man mehr liefern muss. Und die Rede war sehr konziliant im Ton, aber dennoch noch sehr unklar in der Substanz.
    Münchenberg: Greifen wir uns noch mal einen anderen Punkt vielleicht auch raus, sie hat ja eigentlich nichts gesagt zu Irland und Nordirland, also wie man da den Warenaustausch letztlich gestalten will. Wie lange kann sich May diese Unklarheit an diesem Punkt eigentlich noch leisten?
    Leinen: Die Europäische Union wird am 6. März, das ist nächste Woche, ihre Richtlinien für den Nachfolgevertrag bekanntgeben. Das heißt, die EU ist immer einen Schritt voraus, weil in der Tat in London keine Klarheit herrscht. Man hat das eben ja auch gehört aus London, es gibt die Hard Brexiters, die nur unwillig Konzessionen zugeben, und dann gibt es immer mehr diejenigen, die sagen, wir sind doch verrückt, warum gehen wir aus der Zollunion raus und sogar aus dem Binnenmarkt. Also, ich glaube, da ist noch viel Bewegung in London und das war noch nicht das letzte Wort von Frau May.
    "Ohne einen Preis ist dieser Ausstieg für die EU nicht denkbar"
    Münchenberg: Nun hat ja Chefunterhändler Barnier vorgeschlagen, eine neue Grenze faktisch zwischen Nordirland und dem Mutterland, also Großbritannien hochzuziehen, zwischen Irland und Nordirland aber soll alles beim Alten bleiben. Ist das nicht doch eine ziemlich provokante Forderung? Ich meine, da ist ja absehbar, dass die Briten so empört reagieren müssen, wie sie jetzt reagiert haben.
    Leinen: Ja, eine Kröte muss Großbritannien allerdings schlucken: Entweder gibt es eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland, was das Friedensabkommen ja gehörig stören würde, oder, wie vorgeschlagen von Herrn Barnier, Nordirland bleibt im Binnenmarkt und die Grenze ist in der Irischen See, also zwischen den beiden Irlands und Großbritannien. Ich verstehe schon, dass das in London abgelehnt wird, aber die Quadratur des Kreises, keine Grenze zu haben zum Binnenmarkt der EU und trotzdem dort oben sozusagen Nordirland im Bereich von Großbritannien zu lassen, das geht halt eben nicht. Und dieser Widerspruch ist nicht aufgelöst.
    Münchenberg: Nun hatte ja auch noch mal Donald Tusk, der EU-Ratspräsident geworben, hat gesagt, wir wären ja offen, wenn die Briten jetzt doch Interesse hätten zu bleiben, Theresa May hat das noch mal klar zurückgewiesen, hat auch gesagt, es gibt kein zweites Referendum. Hat man bei der EU eigentlich den Ernst der Lage begriffen, wenn man solche Angebote, die ja doch eher unrealistisch sind, jetzt noch macht?
    Leinen: Nun, Frau May kann im Moment ja gar nichts anderes sagen. Sie würde sich ja ihr eigenes Genick brechen, wenn sie die Tür öffnet für ein zweites Referendum. Aber es sind noch 13 Monate, und man sieht, dass sich die Dinge beschleunigen, in Großbritannien selbst, bei der Debatte, die dort läuft, auch im Parlament. May kann sich ja nicht sicher sein, dass sie eine Mehrheit hat für den derzeitigen Kurs. Also, ich würde mal sagen, bis zum Sommer passiert da noch eine Menge.
    Und letztendlich, glaube ich, wäre das Vernünftigste, sie bleiben in der Zollunion, sie bleiben im Binnenmarkt. Und wenn sie dann austreten, haben sie den Nachteil, dass sie die EU-Regeln größtenteils befolgen müssen, sie können aber nicht mehr mitreden. Das ist der Preis für den Brexit. Ohne einen Preis zu zahlen, ist dieser Ausstieg ja auch für die EU gar nicht denkbar, es kann ja nicht sein, dass ein Land, was rausgeht, dann noch Vorteile hat gegenüber den Ländern, die in der EU bleiben, das würde ja Nachahmer provozieren, das können wir nicht wollen.
    "Ich denke, es wird eine Art Zollunion geben"
    Münchenberg: Herr Leinen, die Gespräche, wenn wir ehrlich sind, kommen ja bislang kaum voran bei den zentralen Fragen, eben zum Beispiel, was die künftigen Wirtschaftsbeziehungen angeht. Wie würden Sie im Augenblick die Stimmung bei der EU charakterisieren? Hat man resigniert oder sagt man, okay, May pokert, aber letztlich wird sie dann doch springen?
    Leinen: Die Briten sind tolle Pokerer, das haben sie über Jahrhunderte geübt. Und ich glaube, Herr Barnier hat die Ruhe, die man braucht. Das wird ein Last Minute Deal und je mehr wir ruhig sind und unsere Prinzipien verfolgen, die Rosinenpickerei ablehnen, desto mehr werden wir auch noch Reden aus London hören, wo immer Schritt für Schritt auch nach vorne sich bewegt wird, nachgegeben wird und wir vielleicht in allerletzter Sekunde dann doch noch einen Deal mit dem Vereinigten Königreich bekommen.
    Münchenberg: Aber Ihre Einschätzung, gibt es am Ende im Frühjahr 2019 – oder davor vielmehr ja – noch eine Einigung oder droht vielleicht doch eben die Trennung Knall auf Fall?
    Leinen: Also, ich hoffe Letzteres nicht, weil, der Schaden wäre groß für beide Seiten. Ich denke, es wird eine Art Zollunion geben, die Briten können gar kein Interesse daran haben, dass alle Finanzprodukte plötzlich vom Binnenmarkt abgehakt sind, dass sie bei den Chemikalien, bei den Arzneimitteln, bei den Flugrechten … Es gibt ja viele Dinge, wo es total unvernünftig wäre, die Insel von dem Festland zu trennen. Also, da ist noch viel Luft nach oben und wir sind am längeren Hebel. Wir brauchen nicht nervös zu sein. Man müsste eher in London anfangen, nervös zu werden.
    Münchenberg: Sagt der EU-Abgeordnete Jo Leinen von der SPD. Herr Leinen, besten Dank für das Gespräch und ein schönes Wochenende!
    Leinen: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.