Archiv


Thierse "erschrocken" über polnische Argumente im EU-Stimmenstreit

Wolfgang Thierse hat der polnischen Regierung im Streit um das künftige Abstimmungsverfahren in der EU die Instrumentalisierung von Geschichte vorgeworfen. Er sei "erschrocken und sehr traurig", dass Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski die Kriegstoten seines Landes als Argument für ein stärkeres Stimmengewicht anführe, sagte der stellvertretende Bundestagspräsident von der SPD.

Moderation: Bettina Klein |
    Bettina Klein: Eine der wichtigen Streitfragen beim EU-Gipfel also das Problem der Stimmengewichtung. Wie werden Mehrheiten bei den 27 EU-Mitgliedsstaaten organisiert? Das bisherige Verfahren von Nizza ist kompliziert und soll im neuen Vertrag vereinfacht werden. Da haben eigentlich schon alle zugestimmt. Dann kam Polen mit dem Vorschlag Quadratwurzel. Was spricht für, was gegen die einzelnen Modelle? ( MP3-Audio , Bericht von Mario Dobovisek)

    Abgesehen von Vor- und Nachteilen eines Abstimmungsprinzips, Polen hat gestern aufhorchen lassen, als es seine Forderung nach einer anderen Stimmengewichtung mit den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg begründete: Wenn Polen nicht die Jahre '39 bis '45 durchgemacht hätte, wäre Polen heute ein Land mit einer Bevölkerung von 66 Millionen, Zitat Ende.

    Wie umgehen mit einem deutlichen Hinweis auf die historische Schuld jenes Landes, das im Augenblick die Ratspräsidentschaft inne hat und sich einen Erfolg beim EU-Gipfel wünscht? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Wolfgang Thierse (SPD), einer der stellvertretenden Präsidenten des Deutschen Bundestages. Guten Morgen, Herr Thierse!

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein!

    Klein: Eine berechtigte Forderung Polens mit dieser Begründung aus Ihrer Sicht?

    Thierse: Man kann über die Forderung diskutieren, über das Für und Wider. Das ist ja etwas Normales in der Politik. Aber sie wird ja mit einem moralischen Gewicht vorgetragen, das sich auf die Vergangenheit bezieht. Und da gestehe ich, dass ich erschrocken und sehr traurig war, als ich das hörte, denn offensichtlich ist es so, dass für die Brüder Kaczynski und möglicherweise auch für einen Teil der Polen die schlimme deutsche Vergangenheit mehr zählt oder mehr zählen soll als die freundschaftliche Gegenwart, die doch auch eine wirklich fassbare Realität ist.

    Klein: Ist es zulässig, diese historische Schuld, diesen gesamten Komplex mit der EU-Problematik zu verknüpfen jetzt?

    Thierse: Wer entscheidet, was zulässig ist oder was nicht? Die Kaczynskis haben es so vorgetragen, und wir müssen damit umgehen. Ich habe nur gehört, dass Vertreter anderer Länder mindestens ebenso erschrocken sind über eine solche Art von Argumentation, die die tatsächlich schlimme Vergangenheit instrumentalisiert in einem gegenwärtigen - wie soll man das nennen? - technisch-politischen Streit. Man sieht daran eben aber auch, dass diese Vergangenheit wahrlich immer noch nicht vergangen ist. Das liegt natürlich auch an der Art dieser Vergangenheit. Die Verbrechen der Deutschen sind riesig. Deutschland hat in einer 60-jährigen Geschichte in unterschiedlicher Intensität versucht, diese Vergangenheit aufzuarbeiten, auch Lasten zu übernehmen, Verpflichtungen zu übernehmen. Deutschland hat, ich glaube alle Bundesregierungen gewiss in unterschiedlicher Aufmerksamkeit, immer gemeint, dass ein gutes Verhältnis zu Polen wichtig ist, dass wir diese Beziehungen pflegen, dass für Deutschland ganz selbstverständlich Europa absolut unverständlich ist ohne Polen. Deutschland, es war damals die Regierung Schröder, hat sehr dafür gearbeitet, sehr dafür gekämpft, dass Polen so schnell wie irgend möglich Mitglied der Europäischen Union geworden ist, hat auch finanzielle Lasten übernommen.

    All das sollte, denke ich, auch zählen. Die 60-jährige Geschichte nach diesem entsetzlichen Krieg und den entsetzlichen Verbrechen sollte denke ich auch im Bewusstsein der Polen zählen. Wenn ich an den Anfang der 80er Jahre denke und die Solidarität Westdeutschlands mit Solidarnosc, eine ganz spontane, tief empfundene Solidarität vieler Bundesbürger, auch das sollte man nicht vergessen. Also, was einen betroffen macht ist, dass all das, was in den 60 Jahren passiert ist, nicht mehr zählt und nur noch die entsetzliche Vergangenheit ein Instrument von gegenwärtiger Auseinandersetzung werden kann. Das macht schon wirklich betroffen.

    Klein: Das heißt Sie würden sagen, da wird Geschichte für politische Interessen instrumentalisiert?

    Thierse: Wie anders ist das zu verstehen, wenn in einem Streit, den man führen kann, über Stimmengewichtung ein so unerhört gewichtiges Argument vorgetragen wird? Übrigens ja in einer Frage, Regelung der Abstimmungsverhältnisse, wo ein Vertragsentwurf vorliegt, dem die polnische Regierung, die Vorgängerregierung ja zugestimmt hat, und der alte Grundsatz "Pacta sund servanda" nicht mehr gilt und offensichtlich diese Meinungsänderung, die auch mit einer Regierungsänderung in Polen zu tun hat, dann geschichtlich-moralisch dramatisch begründet wird.

    Klein: Herr Thierse, es ist ja ein mehr als nur wunder Punkt in der Geschichte, den sich der polnische Ministerpräsident da herausgegriffen hat. Spricht die Betroffenheit, die man jetzt in Deutschland spürt, dafür, dass wir tatsächlich noch Schuld in Polen abzutragen haben, oder dürfen wir ganz einfach diese auch nach Ihrer Darstellung überzogenen Verknüpfungen zurückweisen?

    Thierse: Ich glaube, wir können unsere polnischen Nachbarn darauf hinweisen, dass das ein überzogenes Argument ist. Wir müssen sichtbar und erkennbar dabei bleiben, dass wir uns um gute Beziehungen, um freundschaftlichen Austausch bemühen. Ich glaube, es ist auch legitim, wenn wir daran erinnern, dass die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Völkern ja wirklich gut sind. Auf der unteren Ebene, an der Basis der Bürger, im Alltag von Menschen, in den Beziehungen kultureller, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher Art läuft es ja ausgesprochen gut. Nach allem, was wir aus Polen wissen, ist auch das Urteil einer Mehrheit der Polen über die Deutschen freundlich, übrigens freundlicher als umgekehrt das Urteil der Deutschen über die Polen. Ich bin auch ein bisschen besorgt, dass ein so argumentiertes Verhalten, nicht der Streit als solcher, aber wenn man solche Begründungszusammenhänge herstellt, dass da eher das immer noch prekäre Urteil Deutscher über Polen verschlechtert.

    Wir wissen doch, dass in Deutschland immer noch antipolnische Vorurteile wabern. Die sind in der DDR gepflegt worden, vom SED-Regime geradezu systematisch gepflegt worden damals, um gegen den Solidarnosc-Bazillus die DDR-Bürger immun zu machen. Sie wirken auch noch aus der Geschichte nach. Wir Deutschen haben die Pflicht, gegen solche antipolnischen Vorurteile anzuarbeiten, alle diejenigen, die verantwortlich sind, und es ist schade, wenn solche antipolnischen Vorurteile Nahrung bekommen.

    Klein: Herr Thierse, abschließende Frage. Einigen müssen sich ja jetzt nicht Völker, sondern Regierungen. Und Angela Merkel befindet sich möglicherweise auch in den Gesprächen in einer heiklen Situation. Wie könnte ein psychologisch und historisch durchdachter Ansatz für einen Kompromiss jetzt aussehen?

    Thierse: Wenn man über Zahlenverhältnisse redet, über Abstimmungsverhältnisse, weiß ich nicht, ob historisch-psychologische Argumente am Schluss zählen. Sie müssen im Gespräch eine Rolle spielen. Adam Krzeminski, einer der bekanntesten polnischen Publizisten, hat, ich glaube gestern, in der "Süddeutschen Zeitung" daran erinnert, dass die Kaczynskis offensichtlich das traditionelle polnische Selbstbild einer heroischen und ständig bedrohten Nation pflegen und die Ignoranz der Nachbarn in Bezug auf den polnischen Leidensweg ahnden wollen.

    In der Art, wie wir mit unseren polnischen Nachbarn umgehen, müssen wir alles vermeiden, was sozusagen Überlegenheit, Arroganz, Geschichtslosigkeit dokumentiert. Sensibel müssen wir sein, aber am Schluss geht es natürlich um eine internationale, eine gesamteuropäische Einigung. Und die Schwierigkeit auch von Frau Merkel besteht ja darin, dass zu diesem Vertrag auch mit diesen Abstimmungsregeln ja 18 Länder teilweise auch in Volksentscheiden Ja gesagt haben und dass man sich davon nicht alleine in bilateralen Entscheidungen abkehren darf. Im Übrigen will ich noch daran erinnern: Möglicherweise ist am Schluss die Haltung der Engländer in Fragen der Grundrechte-Charta viel problematischer als das, was Polen macht. Ich hoffe immer noch, dass am Schluss Polen gekämpft hat, auch mit, wie ich finde, problematischen Argumenten, aber dass sie am Schluss auch kompromissbereit sind.

    Klein: Wolfgang Thierse, stellvertretender Präsident des Deutschen Bundestages. Danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Thierse.

    Thierse: Auf Wiedersehen.