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Thierse: Neues Stasi-Unterlagengesetz ist verfassungsrechtlich problematisch

Die Bundesregierung will die Überprüfungen von Mitarbeitern im Öffentlichen Dienst auf frühere Stasi-Tätigkeit bis 2019 verlängern. Der Bundestag stimmt heute darüber ab. Bundestagsvize Wolfgang Thierse (SPD) hält der "verdachtslosen Erweiterung der Überprüfbarkeit von Personen" rechtspolitische Bedenken entgegen.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Christoph Heinemann | 30.09.2011
    Christoph Heinemann: Am kommenden Montag steht zum 21. Mal in West- und Ostdeutschland der Tag der Deutschen Einheit im Kalender. Gut zwei Jahrzehnte, nachdem das SED-Regime in sich zusammengesackt ist, sind die Erinnerungen an die staatlich organisierte Freiheitsberaubung in vielen Familien (vor allem denjenigen der Opfer) wach geblieben. Am Mittwochabend zeigte die ARD noch einmal das Drama "Jenseits der Mauer" über einen missglückten Fluchtversuch und die Folgen für eine Familie. Kurz vor dem Jahrestag beschäftigt sich der Deutsche Bundestag heute mit der Novelle zum Stasi-Unterlagengesetz. Wir haben Bürgerinnen und Bürger in Brandenburg gefragt, wie man mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern umgehen sollte.

    "Das ist wie mit den Nazi-Verbrechern früher. Man sollte auf jeden Fall die Vergangenheit aufarbeiten."

    "Und ich finde es richtig, dass man diese Leute, die mit dieser Vergangenheit zu tun gehabt haben, dass man die ausschaltet."

    "20 Jahre nach der deutschen Einheit ist so viel schon passiert. Ich denke mal, dass die Leute dann sich integriert haben in das neue System und auch ihre Vergangenheit möglicherweise bereut haben."

    Heinemann: Am Telefon ist der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Thierse, die SPD sagt, rechtspolitisch fragwürdig und verfassungsrechtlich bedenklich, was da geplant ist. Welche Bedenken tragen Sie?

    Thierse: Also es geht darum, dass hier ein gewiss missliches Personalproblem durch ein Gesetz geregelt werden soll, und das ist das Problematische. Hier soll ein Einzelfallgesetz gemacht werden mit faktischer Rückwirkung, und beides ist rechtspolitisch und verfassungsrechtlich problematisch. Man kann das Problem der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter in der Unterlagenbehörde auch anders lösen, indem nämlich die Bundesregierung in nachgeordneten Einrichtungen gleichwertige Arbeitsplätze zur Verfügung stellt und mit den Mitarbeitern Vereinbarungen getroffen werden, dass sie sich versetzen lassen. Das muss man ernsthaft wollen, denn auch ein Gesetz, auch eine gesetzliche Regelung kann ja deutsches Arbeitsrecht nicht außer Kraft setzen. Die Mitarbeiter haben dort 20 Jahre in der Behörde gearbeitet, sich haben sich Vertrauensschutz erworben, sie haben offensichtlich unbeanstandet gearbeitet, also muss man mit ihnen eine Vereinbarung treffen, um sie zu versetzen, und zwar in gleichwertige Arbeitsplätze in nachgeordneten Einrichtungen anderswo.

    Heinemann: Für rund 20 der 45 ehemaligen Stasi-Leute in der Unterlagenbehörde, das meldet heute die Mitteldeutsche Zeitung, seien bereits andere Arbeitsplätze gefunden worden. Aber versetzen Sie sich, Herr Thierse – und das können Sie leichter als ich -, in die Rolle der Opfer, die ehemalige Stasi-Leute um Akteneinsicht bitten sollen. Ist das nicht eine Zumutung, eine bittere Ironie der Geschichte?

    Thierse: Da muss man nun genauer werden. Wo arbeiten diese ehemaligen Stasi-Mitarbeiter? Was waren das für Leute? Sie sind vor 20 Jahren – damals war der Innenminister Schäuble zuständig – eingestellt worden, weil man meinte, sie brauchen zu müssen. Sie haben jetzt dort 20 Jahre gearbeitet, sie haben nach meiner Kenntnis so gut wie keinen Kontakt mit Publikum. Das sind Fahrer, das sind untergeordnete Mitarbeiter. Man könnte sie auch in der Behörde so einsetzen, dass sie auf keinen Fall mit ehemaligen Opfern zusammentreffen, denn das wäre wirklich unerträglich. Also das kann man anders regeln als durch ein Gesetz, das ein Einzelfallgesetz ist – schon das ist ein Problem – und das dann rückwirkende Qualität hat. Also ich bin sehr dafür, dass das Problem gelöst wird, dass man versetzt, aber dazu braucht man kein Gesetz.

    Heinemann: ... denn das Wort Stasi flößt vielen ehemaligen DDR-Bürgern immer noch Furcht ein. Das heißt, Sie sind schon dafür, dass diese Leute aus der Behörde entfernt werden?

    Thierse: Ja, dass man jedenfalls erreicht, durch Versetzung aus der Behörde heraus oder innerhalb der Behörde, dass sie auf keinen Fall Publikumskontakt haben, weil das wäre wirklich schwer erträglich. Aber wie gesagt, 20 Jahre arbeiten die dort und das Problem ist jedenfalls nicht bisher von den früheren beiden Behördenleitern so skandalisiert worden, wie von Herrn Jahn jetzt.

    Heinemann: Haben denn Stasi-Leute grundsätzlich etwas im Öffentlichen Dienst verloren? Das erfordert ja eine Bekenntnis zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, und Stasi-Leute haben gegen alles drei, gegen diese wunderschönen Prinzipien unserer Verfassung, nämlich Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, aktiv gearbeitet.

    Thierse: Ich denke, es ist gelungen in den 20 Jahren, in den allermeisten Fällen, ehemalige Stasi-Leute nicht im Öffentlichen Dienst zu lassen. Es gab doch eine Menge Überprüfungen. Seit 20 Jahren ist immer wieder überprüft worden. Leute, die eingestellt worden sind, mussten Fragebogen ausfüllen. Ich unterstelle, dass in den meisten Fällen das gelungen ist. Natürlich kann man nie ausschließen, dass Vertrauen missbraucht worden ist, aber heißt das, dass wir 21 Jahre nach Ende der DDR und damit auch nach Ende des Stasi-Systems sozusagen generell ein Klima des Verdachts verbreiten sollen, wo wir unterstellen, dass es prinzipiell möglich ist, dass jemand, nur weil er in der DDR geboren ist, auch vielleicht bei der Stasi war. Also ich glaube, der Rechtsstaat, die rechtsstaatliche Demokratie lebt auch vom Vertrauen in die Veränderbarkeit von Menschen, und man sollte die 20 Jahre, wo Menschen sich in diesem gemeinsamen Land, in dieser Demokratie verhalten, bewährt, gelebt haben, mindestens so viel bewerten wie die Zeit mit möglichen Verfehlungen zuvor.

    Heinemann: Herr Thierse, aber wenn ich es richtig verstanden habe, befürwortet die SPD die Verlängerung der Überprüfung bis 2019.

    Thierse: Die Verlängerung ja, aber nicht die verdachtslose Erweiterung der Überprüfbarkeit von Personen, sondern wir sagen, es steht dem Rechtsstaat besser an, wenn er Vertrauen schenkt. Vertrauen kann missbraucht werden, und deswegen soll es die prinzipielle Überprüfbarkeit geben, wenn Anhaltspunkte für einen Verdacht vorliegen. Dann hilft die Überprüfung nicht nur der betreffenden Behörde und der Öffentlichkeit, sondern dann ist sie auch im Interesse des Verdächtigten, dass klargestellt wird, was ist da los, stimmt dieser Verdacht oder stimmt er nicht.

    Heinemann: Auch auf die Gefahr hin, dass Stasi-Leute durchschlupfen?

    Thierse: Ich sage es noch einmal: 21 Jahre ist das alles her. Menschen haben in diesen 20 Jahren gelebt, gearbeitet, offensichtlich unbeanstandet. Dann sollte man ihnen auch das angemessen bewerten. Erst wenn sich durch einen Verdacht nahelegt, dass man überprüfen muss, dann sollte man auch überprüfen. Deswegen haben wir ja vorgeschlagen, dass diese Überprüfbarkeit nicht begrenzt ist durch gestimmte Entgeltgruppen oder Funktionen, sondern im Falle des Verdachts soll es prinzipiell möglich sein, dass jeder überprüft werden kann, aber eben im Falle eines Verdachts.

    Heinemann: Herr Thierse, wenn wir das Thema ein bisschen weiten: Besteht die Gefahr, dass sich soziale Netzwerke, dass sich Suchmaschinen zu einer Art Soft-Stasi entwickeln, die zunächst Informationen sammeln, dann Menschen beeinflussen oder vielleicht sogar sie zu zerstören versuchen?

    Thierse: Aus meiner Erfahrung in der DDR habe ich ohnehin eine generelle Skepsis, dass immer mehr überprüft werden soll, kann, dass immer mehr Informationen gesammelt werden und wir gar nicht mehr in der Hand haben, wofür sie verwendet werden sollen. Also ich wünsche mir schon, dass Menschen – das kann ja nicht immer der Staat leisten, wenn man an Facebook und an viele andere Dinge denkt -, dass die Menschen skeptischer und vorsichtiger sind, was sie mit ihren Informationen machen und was sie mit ihren Informationen machen lassen.

    Heinemann: Ein anderes Thema noch zum Schluss. "Niemand hat die Absicht", im 50. Jahr nach dem Mauerbau weiß fast jeder Bürger, wer diesen Satz wie vervollständigt hat. Die SPD-Bundestagsfraktion polemisiert mit einer Anzeigenkampagne mit diesem Halbsatz gegen Angela Merkels Politik. Halten Sie es für angemessen, Angela Merkel Aussagen von Walter Ulbricht in den Mund zu legen?

    Thierse: Also ich kenne die nicht, ich habe das irgendwie übersehen. Man guckt ja in Zeitungen nicht auf Anzeigen. Das hat schon einen etwas unangenehmen Beigeschmack, das will ich sofort zugeben.

    Heinemann: Da kritisieren Sie Ihre eigenen Leute jetzt auch?

    Thierse: Ja! Man kann das auch auf eine andere Weise und durchaus satirisch sagen, und Kritik an der Bundeskanzlerin sollte erlaubt sein, aber man muss die Mittel natürlich immer genau prüfen. Schärfe ja, aber manche Assoziation sollte man vermeiden.

    Heinemann: Wer ist für diese verunglückte Formulierung oder diese Kampagne zuständig oder verantwortlich?

    Thierse: Das weiß ich gar nicht, da muss ich mich heute im Laufe des Tages erkundigen, wer das gestaltet hat und in Auftrag gegeben hat.

    Heinemann: Da hören wir auch mal nach. Danke schön! – Das Gespräch mit dem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse können sie übrigens abermals hören und nachlesen unter dradio.de. Danke schön, Herr Thierse, für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Thierse: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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