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Thierse: Oscar für Stasi-Drama überrascht

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse hat den Oscar-Erfolg des deutschen Stasi-Dramas "Das Leben der Anderen" nicht erwartet. " Ich bin schon überrascht, und es ist ja auch eine freundliche Überraschung, dass ein Film mit einer schwierigen Thematik diese Auszeichnung bekommt", sagte der SPD-Politiker.

Moderation: Silvia Engels | 26.02.2007
    Silvia Engels: Schon im Vorfeld hatten viele Kritiker von guten Chancen gesprochen, aber ein Riesenerfolg für das deutsche Kino ist es dennoch: Der Streifen "Das Leben der Anderen" von Florian Henckel von Donnersmarck hat in der Nacht in Los Angeles den Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film gewonnen. Das Drama, das sich mit Alltag und Folgen der Bespitzelungen durch die Stasi befasst, setzte sich gegen starke Konkurrenz durch.

    Schauen wir nun noch einmal genauer auf den deutschen Film "Das Leben der Anderen", der ja gerade ausgezeichnet wurde. Die Auszeichnung ist umso beachtlicher, weil sich das Werk mit einer sehr düsteren und einer spezifisch deutschen Vergangenheit auseinandersetzt, nämlich mit den Bespitzelungen der Staatssicherheit in der früheren DDR.

    Am Telefon ist nun Wolfgang Thierse (SPD), Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen!

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen!

    Engels: Sie kennen den Film. Hat er Ihnen gefallen und hätten Sie eine solche Auszeichnung in solch einem internationalen Feld für möglich gehalten?

    Thierse: Ich bin schon überrascht, und es ist ja auch eine freundliche Überraschung, dass ein Film mit einer schwierigen Thematik diese Auszeichnung bekommt. Der Film hat mir gefallen, weil er durchaus auf hollywoodgemäße Weise spannend, personalisiert an prominenten Schicksalen, eine trübe, eine finstere Geschichte erzählt und damit ja doch eine Menge Leute erreicht, die die Dokumentationen, wissenschaftlichen Untersuchungen und die quälende Auseinandersetzung mit dieser Stasi-Vergangenheit eben bisher nicht erreicht hat, die gesagt haben, das hat nichts mit uns zu tun, das ist doch fern im Osten. Ich glaube, der Film war so emotional, dass er viele, viele erreicht hat und ihnen das Problem näher gebracht hat, um das es ging.

    Engels: Wie authentisch haben Sie denn die Stimmung miterlebt in diesem Film, als Sie ihn sahen? War das tatsächlich die Atmosphäre, die rund um die Stasi in der DDR herrschte?

    Thierse: Es war authentisch, und zugleich nicht, denn der Film hat das natürlich viel spannender gemacht. Er hat das verdichtet. Man muss ja wissen: die Stasi war Alltag. Man hat in der DDR gelebt in dieser einfachen Lebensregel: Wenn so und so viele Menschen zusammen sind, ist mindestens einer ein Spitzel. Entsprechend musste man sich verhalten. Aber das war grau. Das war alltäglich. Das war eine leise, nicht sehr laute Angst, aber es war eben eine gegenwärtige Angst. So etwas ist gewiss in einem Film, der dann auch noch wirksam sein soll, der Emotionen wecken soll, schwer zu erzählen.

    Und wenn ich noch einen Einwand formulieren darf: Ich habe, während ich den Film sah, immer gedacht, eigentlich müsste jetzt noch ein zweiter Film kommen, der diesen Alltag erzählt: die vielen kleinen Leute, die ihre Haut zum Markte getragen haben, die sich geweigert haben, zu spitzeln, die nein gesagt haben, die ihre Konsequenz getragen haben. Dieser Film ist auf der Ebene der Prominenz angesiedelt. Das macht sich halt besser. Man erreicht da auch besser Hollywood, wie man sieht.

    Engels: Blicken wir auf den Wert dieser Auszeichnung. Zeigt das Ihrer Ansicht nach einfach ein gut gespieltes Werk, oder auch ein wachsendes internationales Interesse am Alltag in dem Unterdrückungsstaat DDR?

    Thierse: Zunächst das erste und vor allem das Erste: ein gut gemachtes, ein gut gespieltes Filmwerk. Das Zweite mag sein: Ich glaube, dass der Film ja in Deutschland auch erfolgreich war und bei vielen Westdeutschen, die bisher keinen sonderlichen Anlass hatten, sich mit dieser Stasi-Geschichte zu befassen, ein bestimmtes Maß emotionaler Betroffenheit erzeugt hat. Und in den USA? Möglicherweise werden amerikanische Zuschauer sich daran erinnern, dass ja im Zuge der Terrorismusbekämpfung der Staat auch immer mehr ins private Leben von Menschen eingreift, dass es da plötzlich Aktualisierungen gibt, Bezugnahmen gibt, die vielleicht vom Stoff her oder vom Regisseur her gar nicht so gedacht waren.

    Engels: Das heißt, da ist möglicherweise auch eine Übertragbarkeit, dass dieses spezifische DDR-Thema, das es ja nun eindeutig in dem Film auch ist, doch etwas ausstrahlt, das Allgemeingültigkeit hat?

    Thierse: Wirkungen von Kunstwerken sind immer wohl so, dass Zuschauer das übertragen auf eigene Lebenserfahrungen, auf eigene Lebensgeschichte. Nicht anders geht es. Wenn es nur etwas Fernes wäre, ein geschichtliches Dokument, dann würde die emotionale Wirkung überhaupt nicht so hoch sein. Vielleicht ist es die Leistung dieses Films, dass er genau in dieser spannend erzählten Geschichte die Betroffenheit erzeugt in dieser Hauptfigur, dass einer der Stasi-Spitzel ist und indem er andere Menschen beobachtet plötzlich begreift, wie entmenscht er handelt, in welchem entmenschten System er lebt, dass das etwas von Betroffenheit und Übertragbarkeit erzeugt auch in andere Lebensverhältnisse.

    Engels: Herr Thierse, wir erleben im Augenblick, dass manche frühere Stasi-Täter sich gerade derzeit um die Relativierung ihrer Taten bemühen. Man kann natürlich keinen direkten Zusammenhang aufmachen, aber ist irgendwo dieser Oscar auch eine späte Würdigung der Stasi-Opfer?

    Thierse: Ich hoffe, dass es manche so verstehen. Natürlich kann ein Film nicht das leisten, was eine gesellschaftliche Atmosphäre, was ideelle, moralische, vielleicht auch materielle Anerkennungen leisten müssen. Aber dass diese Geschichte, die ja weil sie so unangenehm ist auch eher gerne versteckt wird, so öffentlich wird, das, glaube ich, mag bei vielen Opfern schon ein leises Gefühl der Genugtuung erzeugen. Ich will das nicht überbewerten, aber ein bisschen, denke ich mir, passiert das schon.

    Engels: Wolfgang Thierse, der Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Er gehört der SPD an. Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.

    Thierse: Auf Wiederhören.