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Thomas Hürlimann: "Heimkehr"
Irrwitzige Abfahrt ins Jenseits

Nach einer schweren Erkrankung legt der Schriftsteller Thomas Hürlimann einen neuen Roman vor. In "Heimkehr" schickt er einen Sohn, der tückisch viel Ähnlichkeit mit dem Autor hat, auf eine lange Reise: zurück zum Vater, zurück vom Tod ins Leben – oder vielleicht doch ins Totenreich?

Von Andrej Klahn | 22.10.2018
    Buchcover: Thomas Hürlimann: „Heimkehr“
    Meldet sich nach langer Zeit mit "Heimkehr" literarisch zurück: Thomas Hürlimann (Buchcover: S. Fischer Verlag, Foto: picture-alliance / dpa / Urs Flueeler)
    Menschen, die schon mal einen kurzen Blick durchs Schlüsselloch auf das Jenseits riskieren konnten, wissen wunderbare Dinge von ihrer Nahtod-Erfahrung zu berichten: Von einem wärmenden Licht am Ende eines dunklen Tunnels; oder vom Kopfkino, in dem einem noch einmal der eigene Lebensfilm vor dem inneren Auge erscheint. Auch der 1950 geborene Schweizer Autor Thomas Hürlimann hat vor ein paar Jahren den Tod überlebt. Als während einer Krebsoperation sein Herz aus dem Takt geriet und er von den Ärzten kurz vor dem tödlichen Infarkt gerade noch gerettet werden konnte.
    Nachzulesen ist das in der kurzen "Story meiner Auferweckung", die Hürlimann vor gut drei Jahren in der "ZEIT" veröffentlicht hat. Darin schilderte er auch jenen Moment, in dem er meinte, den eigenen Körper zu verlassen, um dann zwar nicht zum Himmel, aber doch zur Decke des Operationssaals aufzusteigen. Von dort aus sah Hürlimann dann auf sich selbst als Notfallpatient auf dem OP-Tisch herunter.
    Nahtod-Erfahrung und Ich-Verwandlung
    Es schadet nicht, Hürlimanns verschwenderisch einfalls- und anspielungsreichen Roman "Heimkehr" vor dem Hintergrund dieses Lazarus-Erlebnisses zu lesen. Als eine literarisch-irrwitzige Abfahrt Richtung Jenseits. Diese beginnt mit einem Autounfall auf eisglatter Straße in den Schweizer Bergen:
    "Hoch oben ein Punkt, ein Blinken, ein Zwinkern, ein Stern, ein Satellit oder ein Flugzeug … Der Wagen liegt auf der Fahrerseite. Ein Vorderrad dreht sich noch, ein paar Schneeflocken zu einer dünnen Flamme aufwirbelnd. Unterm zertrümmerten Kühler kriecht eine Lache hervor, Benzin oder Öl oder beides, glänzend wie ein Fotonegativ. In der milchig zersplitterten Frontscheibe klafft ein Loch, schwarz von Scherben gezackt, und wie schön, wie tief, wie erhaben ist die Stille!"
    Kathartischer Blick aus dem Jenseits
    Auch hier ist es der mit dem Tod ringende Protagonist selbst, der von oben als entschwebter Ich-Erzähler auf den Ort des Unfalls herabschaut: Heinrich Übel Junior, der als Sohn im Schatten eines strengen, omnipotenten und im Roman doch seltsam abwesenden Gummifabrikanten herumvegetiert. Achtzehn Jahre vor dem Unfall hatte der Übervater ihn im Streit vom Hof gejagt. Der Junior sollte sich erst wieder blicken lassen, wenn er sich Doktor nennen dürfte.
    Zahlreiche abschlusslos studierte Semester später macht sich der Filius auf den Weg zurück in die Heimat, das fiktive Fräktal, einbestellt von der väterlichen Sekretärin. Soweit das ödipale Vorspiel zu jener Nacht, in der der junge Heinrich den geliehenen Chevy gegen die Leitplanke setzt und danach an retrograder Amnesie leidet. Retrograde Amnesie, das bedeutet: Hürlimanns Protagonist Heinrich Übel Junior weiß hinterher nicht, was genau beim Unfall passiert ist. Und er wird fortan versuchen, diese Erinnerungslücke zu schließen, also etwas Licht ins unheimliche Dunkel seiner Vergangenheit zu bringen. Dieser detektivische Impuls erweist sich im Verlauf des Romans als dramaturgisch sehr gelungener Kniff.
    Wiedergeburt als sonnenbebrillter Machertyp
    Verlorene Söhne kehren bekanntlich nur über Umwege in die Heimat zurück. Und so findet Übel Junior sich nach dem Crash zunächst weit weg von Zuhause in Sizilien wieder, in der Villa Vittoria, in der der verlässliche "Pannenproduzent" als sonnenbebrillter Machertyp im Maßanzug gleichsam wiedergeboren wird. In Italien also, wo der biblische Lazarus bis heute im "Lazzarone" nachklingt. So nennen die Einheimischen anerkennend ihre Trickser und Gauner.
    Der im Roman quasi neugeborene Übel Junior ist ein solcher Taugenichts. Seine Schläfe ziert eine schlecht vernähte Unfallnarbe. Die Einheimischen halten sie für eine Schusswunde, die ihn als respektables Mitglied der ehrenwerten Gesellschaft ausweist. Der junge Heinrich hat also die Seiten gewechselt, hinüber vom Verlierer zum Gewinner. Ob er aber auch von den Lebenden zu den Toten übergetreten ist oder irgendwo dazwischen verharrt, lässt Thomas Hürlimann in "Heimkehr" sehr virtuos offen.
    Harte Männer blicken nun jedenfalls plötzlich zu Übel auf, schöne Frauen liegen ihm zu Füßen. Oder sie tauchen wie Botticellis Venus aus den Tiefen der Kunstgeschichte auf:
    "Erst war sie nur ein Punkt, ein rötlicher Knopf im blauen Meer. Dann näherte sich die Schwimmerin dem Ufer und entstieg mit ihren Kupferhaaren nackt den schäumenden Wellen. Nur ein Glitzern kleidete sie, und wie eine Schleppe folgte ihr eine dünne Tropfenspur über den Strand, die Düne hoch, in den Himmel hinein …, aber nur Sekunden später tauchte sie wieder auf, direkt vor mir und jetzt in ein Badetuch gehüllt, und lächelte scheu. War sonst noch jemand am Strand?"
    Mo Montag heißt diese Erscheinung. Herabgestiegen ist sie nicht aus dem Himmel, sondern angereist aus der ihrem Ende entgegen dämmernden Deutschen Demokratischen Republik. Im Auftrag der VEB Funkwerke Berlin-Köpenick promotet Mo Montag den real existierenden Sozialismus im Allgemeinen und im Besonderen dessen revolutionäre neue Erfindung der drahtlosen Telefonie, heute Mobilfunk genannt. Die Genossen haben das Gerät allerdings blöderweise in einen höchst immobilen Ohrensessel eingebaut. Im Verlauf des Romans unternimmt Hürlimann noch viele weiterer Ausflüge ins Surreale, was den Zweifel am Bewusstseinszustand des Ich-Erzählers nährt.
    Abenteuerliche Odyssee bis in die DDR
    Jedenfalls ist der junge Heinrich von Mo verzaubert und begibt sich auf eine abenteuerliche Irrfahrt, der Venus aus Ost-Berlin hinterher und in mehreren Anläufen dem Vater entgegen. Sie führt ihn von Italien über Afrika, die Schweiz bis in die DDR. Er findet sich auf Galerie-Vernissagen wieder, die Hürlimann zum Anlass nimmt, ein parodistisch verzerrtes Sittenbild des linksliberalen Kunst-Jetsets zu skizzieren. Der junge Übel besucht den Internationalen Gummi-Kongress in Berlin und gerät 1989 schließlich in den politischen Mauerfall-Trubel.
    Neben einer sprechenden Katze haben mafiöse Hallodris und besoffene Genossen ihren Auftritt und die Odyssee-ische Kirke fristet in "Heimkehr" ein Wohnwagendasein als Gelegenheitsprostituierte. Mit anderen Worten: Hürlimann fährt großzügig grotesk auf, um die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit aufzulösen. So hält er das Bewusstsein seines Helden in jenem Schwebezustand, der es dem Leser von Anfang an unmöglich macht, zu entscheiden, wohin Heinrich Übel eigentlich wirklich unterwegs ist: Zurück ins Leben oder auf dem Weg ins Totenreich. Der verunfallte Junior selbst ist sich da auch nicht sicher:
    "Tatsächlich, hier war ein Stück der Leitplanke glänzend neu, auch hatte man das Geländer ausgebessert, einige Streben ersetzt, andere frisch gestrichen. (…) Ich war an den Unfallort zurückgekehrt. Als stünde ich vor einem Grab, nahm ich den Hut ab. (…) ich konnte mich nur wundern, dass ich die Unfallnacht überlebt hatte."
    Aber hatte ich sie tatsächlich überlebt? Nein, der alte Junior existierte nicht mehr.
    Ist der Held ein Alter Ego?
    Heinrich Juniors Odyssee im Roman ist eine Entdeckungsreise zum verlorenen Übel-Ich aus der Vor-Unfallzeit, und Thomas Hürlimann hat seinen Helden überdeutlich als Alter Ego angelegt. Zumindest auf den ersten Blick. Nicht nur die Initialen HÜ verweisen auf seinen Erfinder. Wie Hürlimann auch, ist der Gummifabrikanten-Spross am 21. Dezember 1950 zur Welt gekommen, was der Ich-Erzähler zu betonen nicht müde wird.
    Man sollte sich allerdings davor hüten, diesen Roman als Todesangst-Bewältigungsstrategie eines schwer kranken Schriftstellers misszuverstehen. Denn Hürlimann hat ihn durch eine Vielzahl literarischer Anspielungen gegen allzu zudringlich biografische Lektüren abgedichtet. Mehr noch als in der eigenen Erfahrung wurzelt diese Geschichte von einer sich am Ende als unmöglich herausstellenden Heimkehr in der Kunst.
    Platon, Homer, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, alle diese philosophischen und auch übersinnlichen Phänomenen nachspürenden Autoren standen bei Hürlimanns Roman Pate. Mit dieser artistischen Leichtigkeit, die passagenweise auch mal in hemmungslosen Klamauk umschlägt, nimmt Hürlimann seinem Thema die existenzielle Wucht. Heiterer und hintersinniger ist über das Sterben lange nicht mehr geschrieben worden.
    Thomas Hürlimann: "Heimkehr"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 528 Seiten, 25 Euro.