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Thomas-Kling-Hörbuch
Das richtige Wort am richtigen Platz

Vor 10 Jahren starb der Dichter Thomas Kling mit gerade einmal 47 Jahren. Bis heute gilt er vielen als anregendster Lyriker der Neunziger Jahre. Nun erscheint der größte Teil seiner akustischen Hinterlassenschaft auf CD.

Von Tobias Lehmkuhl | 01.04.2015
    „nachperformance, leberschäden,
    schrille klausur
    HIER KÖNNEN SIE
    ANITA BERBER/VALESKA GERT BESICHTIGEN
    MEINE HERRN .. KANN ABER INS AUGE GEHEN"
    Über den Ratinger Hof, den Düsseldorfer Szene-Treff der späten siebziger, frühen achtziger Jahre, hat Thomas Kling gleich drei Gedichte geschrieben. Was ihn an diesem Lokal so fasziniert hat, war wohl vor allem sein Publikum, dass zum theaterhaften Auftritt neigte. Er selbst, Kling, so heißt es, habe dabei häufig als stiller Beobachter in der Ecke gestanden.
    "stimmts outfit? das ist dein auftritt!
    schummerige westkurve („um entscheidende
    millimeter geschlagen")
    gekeckerte -fetzen
    'süße öhrchen', ohrläppchen metallverschraubt
    beschädtigtes leder, monturen, blitze
    beschläge"
    Wie man hört, war Thomas Kling nicht immer stiller Beobachter, im Gegenteil, meist zog er die Aufmerksamkeit auf sich. Schon als Kind sei er ungewöhnlich unterhaltsam gewesen, sagt er in einem Interview, das auch auf diesem Hörbuch zu hören ist. Und stand er selbst auf der Bühne, wurde Kling, der Rezensent kann es bezeugen, zur wahren Rampensau.
    Der Auftritt - im richtigen Outfit, versteht sich - war ihm wichtig, war gerade in den achtziger Jahren für ihn essentieller Bestandteil seines Daseins als Dichter. Er erfand das Wort „Sprachinstallation" - im kunstverrückten Düsseldorf jener Jahre galt es, über die Grenzen der bloßen Lyriklesung hinauszugehen. Dazu arbeitete er auch mit Musikern zusammen, mit dem bereits gehörten Schlagzeuger Frank Köllges etwa oder, nach seinem Umzug nach Köln, mit dem Komponisten und Pianisten Jörg Ritzenhoff. Klings Ansage für eine gemeinsame Radiosendung im Jahr 1987 zeugt von der Lust, das eigene Werk einem breiten Publikum darzubieten:
    "Guten Abend meine Damen und Herren. In den kommenden 55 Minuten versuchen Sie bei der Stange zu halten der 30-jährige Schriftsteller, genauer gesagt, und das trifft heute Abend zu, der Lyriker Thomas Kling, jetzt Köln, in Zusammenarbeit mit dem 1961 geborenen Komponisten Jörg Ritzenhoff, ebenfalls jetzt Köln, am Piano sowie am Alleinunterhalterörgelchen."
    Nicht allein an die überschaubare Gemeinde an Lyriklesern richtete sich Kling. Aus dieser Ecke wollte er heraus. Die bundesdeutsche Lyrik der Siebzigerjahre mit ihrem Hang zur Innerlichkeit, das WG-Geschreibsel, bei dem die Wörter sackartig in der Gegend hingen, wie er einmal sagte, war lange Jahre das, wogegen er anschrieb. Kling interessierte sich nicht für sein Innenleben, hielt es zumindest für gänzlich irrelevant, irgendwelche Seelenzustände in Verse zu packen. Ihn interessierte die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit, die metallverschraubten Ohrläppchen der Punker, die "monturen, blitze/ beschläge". Insofern war seine Lyrik auch "Pop": Die Oberfläche geriet hier in den Fokus, die rasante Abfolge von mal schummrigen, mal schillernden Bildern, der schrille Seitenschneider:
    "heinz!
    der wagen bricht!" (bei ins feld segelndem
    vorderreifen); schons blech zusamm-
    geschobn, verkeilt, entgrätete karossen;
    -teile, gestierte rufe, rußhelfer
    SCHÄRFER STELLN über teile stolpernde
    seitenschneider, rettungssanitäter
    GENAU IM BILD hinschlagend im löschschaum
    im krötenbrei in gesperrter trümmer
    landschaft"
    Das Talent zum Alleinunterhalter, der Hang zur Rampensau war Thomas Kling wohl in die Bingener Wiege gelegt. Andererseits trieb er sich Anfang der Achtziger Jahre auch in Theaterkreisen herum und überlegte, ob er Schauspieler werden sollte. Sein Aufenthalt in Wien, seine Nähe zum Wiener Aktionismus, lehrte ihn zudem so manches darüber, wie man Zuhörer, die in der Kleinkunstbühne, im Theater oder später im Literaturhaus eben nicht zuletzt Zuschauer waren, wie man sie anstachelte, provozierte, vielleicht von den Stühlen riss - wie man vor allem auf keinen Fall langweilte.
    Der Performer Thomas Kling ist auf den vier CDs der "Gebrannten Performance" freilich bloß zu hören, seine körperliche Präsenz, seine Aura nur indirekt zu spüren, sein Blick, mit dem er das Publikum an die Leine zu nehmen verstand, nicht zu sehen. Das lässt einen zuweilen etwas ratlos zurück. Vor allem in den Neunzigern, in denen Kling ohne Musiker auftritt, verpufft die Wirkung seiner stets messerscharfen Artikulation zuweilen. Manches wirkt unangemessen aggressiv.
    Das ändert sich gegen Ende des Jahrzehnts. In dieser Zeit rückt für ihn historisches Material immer stärker in den Vordergrund. Archiv und Archäologie werden zunehmend wichtig, und wie von selbst stellt sich dabei ein neuer Vorlesegestus ein, ein Ton, der forschender ist, und auch vermittelnder:
    "manhattan mundraum
    die stadt ist der mund
    raum, die zunge, textus;
    stadtzunge der granit:
    geschmolzner und
    wieder aufgeschmo-
    lzner text. beiseite-
    gesprochen, abgedu-
    kelt von der hand: die
    ruinen, nicht hier, die
    zähnung, zählung der
    stadt!"
    "Poet, Barde, Liedermacher" - das waren Begriffe, die Thomas Kling zurückwies, sie standen für ihn für die formlosen 70er Jahre. Das Gedicht war für ihn zuallererst einmal geschriebener, rhythmisch freilich exakt komponierter Text. Aus einem Pastoren- und Lehrerfamilie stammend stand für ihn das Buch an erster Stelle, nicht das gesprochene Wort, wie er in einem der Interviews, die auf der vierten CD dieses Hörbuchs versammelt sind, bekennt. Das mag verwundern, angesichts dessen, das Kling zu Beginn seiner Karriere durch seine Auftritte mindestens ebenso für Furore sorgte wie durch seine ersten Gedichtbände, angesichts dessen auch, dass er sich gerne in die Nähe Oswald von Wolkensteins und anderer mittelhochdeutscher Dichter rückte, in eine geradezu schamanistische, sanglich-rezitative Tradition:
    "deilidurei faledirannurei,
    libundei faladaritturei!
    heinrich von strätlingen, 13. jahrhundert"
    Schrift und Stimme schließen sich selbstverständlich nicht aus, bedingen wohl vielmehr einander. Bei Kling kommt nun noch, es klang schon an, die Nähe zur bildenden Kunst hinzu, sein Blick fürs gute, gerne auch fürs krasse Bild. Wir sahen bereits, wie einem gewissen Heinz der Wagen wegbricht, die Karosse sich verkeilt und der Rettungssanitäter mit dem Seitenschneider anrücken muss. "Schärfer stelln" heißt es in diesem Gedicht mit dem Titel "verkehrsfunk", und "Genau im Bild". Wie ein Fotoreporter ist der Dichter hier unterwegs, und tatsächlich hat Kling kurze Zeit für die Rheinische Post geschrieben. Während jener Jahre erregte auch der Polizeireporter Weegee, der in den 40er Jahren spektakuläre Bilder von Morden und Unfällen schoss (und dafür nicht den Verkehrsfunk, aber doch den Polizeifunk abhörte), Klings Aufmerksamkeit:
    "WEEGEE am polizei
    -funk, hängts ohr ins wellengestammel,
    schnappt auf und: durchgestartet (auf
    coney island abgesoffm");
    noch warm der abgestochne nigger ('loddel?'), dazu
    gedroschen ein GENE-KRUPA-SOLO, er-
    drosselte fixerin, die fliesen im klo;
    WEEGEE'S gewilderte sofortbilder, kugel-
    sicherer augenfunk, kein fake!"
    In einem der Interviews auf "Die gebrannte Performance" spricht Thomas Kling über Paul Celan, der zu schnell zu viele Bilder aufeinandergeschossen habe, zurück geblieben sei da häufig nur totes Gestein, bloßes Wortmaterial. Es gehe um die richtige "Nachbildbeschleunigung". Und tatsächlich ist die Abfolge der Klingschen Bilder zwar häufig äußerst rasant, aber die Bilder blockieren einander nie, scheinen sich gegenseitig gar noch zu befeuern. Wie der Polizeireporter Weegee mit seiner Kamera hängt auch Thomas Kling sein Ohr ins Wellengestammel und wildert Sofortbilder. So wie der Fotograf den Finger stets zur richtigen Zeit am Auslöser hat, hat der Dichter das untrügliche Gespür fürs richtige Wort am richtigen Platz. Und wie der Reporter wahrt er stets kühlen Kopf, denn das Material, es soll ja heiß bleiben. Heiß ist auch Klings Vortrag, manchmal sogar überhitzt. Immer aber gibt er mehr her als selbst eine ganze Phalanx an Alleinunterhalterörgelchen.
    Thomas Kling: Die gebrannte Performance. Lesungen und Gespräche. Hg. von Ulrike Janssen und Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2015. 4 CD, 24,95 Euro.