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Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD)
"Doppelspitze hängt von Personen und nicht von Strukturen ab"

Der kommissarische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel hat sich zurückhaltend zur Idee einer Doppelspitze in der Parteiführung geäußert. Die Grünen hätten damit in den vergangenen 25 Jahren viele Flügelkämpfe erlebt, sagte er im Dlf. Andererseits könne eine Doppelspitze eine größere Bandbreite an Inhalten schaffen.

Thorsten Schäfer-Gümbel im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
Der SPD-Politiker Thorsten Schäfer-Gümbel
Thorsten Schäfer-Gümbel über die SPD: "Das tut jedem von uns weh" (picture alliance / Erwin Elsner)
Jürgen Zurheide: Die SPD sucht den Neuanfang – so sind in diesen Tagen wieder viele, viele Meldungen überschrieben. Da geht es dann mal um neues Personal, schon wieder einmal, und natürlich auch die Frage, wofür steht denn eigentlich die älteste Partei in Deutschland. Beides ist unklar, eine Partei auf der Suche nach sich selbst mit unklarem Ausgang, vielleicht verliert sie sich auch. Über alles wollen wir reden mit Thorsten Schäfer-Gümbel, im Moment aktuell einer der drei kommissarischen Vorsitzenden. Guten Morgen, Herr Schäfer-Gümbel!
Thorsten Schäfer-Gümbel: Schönen guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Sind Sie eigentlich froh, dass Sie im Moment die aktuellen Umfragewerte – ich tue Ihnen jetzt etwas Gutes, ich nenne sie nicht –, dass Sie die nicht alleine vertreten und kommentieren müssen?
Schäfer-Gümbel: Nein. Das ist natürlich eine schreckliche Woche, also erstens mit dem Wahlergebnis, aber vor allem auch mit den Ereignissen innerparteilich und letztlich natürlich auch den Umfrageergebnissen, die ja letztlich das Resultat auch der Verhältnisse sind. Das tut jedem von uns weh, und deswegen bleibt uns auch gar nichts anderes übrig, darüber zu reden.
"Die SPD war auch immer die Partei der Solidarität"
Zurheide: Hat denn eine Doppelspitze möglicherweise Vorteile? Jetzt bleibe ich mal bei dieser Frage, dass man das nicht alleine vertreten muss, egal ob es gut oder schlecht läuft, oder laufen Sie dann, wenn Sie so etwas machen würden, zu sehr den Grünen hinterher?
Schäfer-Gümbel: Na ja, wenn wir das machen würden, was die Grünen machen, gemacht haben die letzten 25, 30 Jahre, indem wir versuchen, da jeweils einen Flügel durch die eine Spitze und den anderen Flügel durch die anderen Spitze abzudecken, dann würden wir einen großen Fehler machen, aber Doppelspitzen haben natürlich auch die Möglichkeit, eine größere Breite in Personen, in Inhalt zu schaffen, aber das hängt am Ende vor allem von Personenkonstellationen ab und nicht von Strukturen.
Zurheide: Jetzt fangen wir mal an – jetzt tue ich Ihnen den Gefallen, dass wir von Personen im Moment mal weggehen –, kommen wir mal zu Inhalten. Wenn ich im Moment so rumlese, was da alles auf dem Nachrichtenmarkt ist: Im Ruhrgebiet gründet sich eine wahre SPD, da geht es um Wirtschaft, Arbeit, Soziales, das ist nicht überraschend im Ruhrgebiet. Dann gibt es andere, die geben so Hinweise, die dänischen Sozialdemokraten, die gerade eine Wahl zumindest nicht nur nicht verloren haben, sondern man könnte auch sagen: gewonnen haben, mit Zuwanderung, Humanität und Ordnung, eben die Ordnung stärker zu betonen. Was wollen Sie?
Schäfer-Gümbel: Ich glaube, dass die Kernfrage nicht so sehr ist, was ist das Sachthema – Sie haben das ja auch anmoderiert –, sondern es geht um die Frage, was ist eigentlich der Kern dessen, warum wir Politik machen, was ist die Kernherausforderung, was ist, um es ein bisschen zuzuspitzen, das Übel, mit dem wir uns zu beschäftigen haben. Die Grünen versuchen das mit der ökologischen Krise zu definieren. Das haben auch viele nach der Europawahl in unseren Reihen nachgeplappert. Ich teile das nicht. Andere sagen, es ist die Migrationsfrage und haben das jetzt nach dem Sieg der dänischen Sozialdemokratie ebenfalls alle nachgeplappert. Ich glaube, das verstellt uns den Blick. Was ist die Wurzel des Übels aus meiner Sicht – das ist vor allem die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, also der Versuch, alles einer ökonomischen Logik zu unterwerfen, getreu dem Motto, wenn jeder an sich selbst denkt, ist irgendwie auch an alle gedacht. Diese Form – lassen Sie mich das mal umgangssprachlich Egoismus nennen –, dass jeder nur noch an sich selber denkt, das ist doch der eigentliche Punkt, warum wir in all diesen inhaltlichen Fragen nicht wirklich weiterkommen. Ich glaube, dass das die Frage ist, mit der sich die Sozialdemokratie wieder stärker beschäftigen muss. Die SPD war ja auch immer die Partei der Solidarität. Das ist jetzt in den letzten Wochen nicht so sehr deutlich geworden, –
Zurheide: Kann man wohl sagen!
Schäfer-Gümbel: – aber im Kern geht es genau darum. Wir sind davon überzeugt, dass wenn nicht jeder an sich selber denkt, sondern auch mal das Ganze gesehen wird, dass dann daraus auch gute Antworten werden. Dann sind auch Themen, die man nebeneinanderstellen kann, von der Steuerfrage, der Migrationsfrage, über den Wohnungsbau, dann sind die nicht mehr unverbunden nebeneinander, sondern folgen einer Logik, und das ist uns null gelungen in den letzten Jahren, das deutlich zu machen.
"Integration ist keine Einbahnstraße"
Zurheide: Jetzt aber die Frage: 20 Monate nach der Bundestagswahl – das kann ich Ihnen jetzt auch nicht ersparen – fragt man sich immer noch, wofür steht diese SPD? Ist denn möglicherweise das gescheitert, dass man in einer Bundesregierung nebenher sich mal neu aufstellt und die Fragen, die Sie ja zu Recht andressieren, dass man die nicht beantwortet kriegt, war das ein Fehler, oder ist das vielleicht wieder die falsche Diskussion?
Schäfer-Gümbel: Also erstens, es ist lieb, dass Sie mich da ein bisschen schonen wollen, aber mir bleibt im Moment gar nichts erspart. Das ist nun mal Umstand der Verhältnisse. Eine Partei, die aufgibt, den Anspruch, dass sie sowohl in Regierung als auch in Opposition sich zu erneuern, eine Partei wie die SPD, die würde etwas grundlegend falsch machen. Das muss uns in beidem gelingen. Die entscheidende Frage ist, warum ist es uns nicht gelungen in den letzten Monaten, deutlich zu machen, dass den Anspruch, den wir auch bei dem Eintritt in diese Koalition, in die wir ja nicht ganz freiwillig eingetreten sind, in der wir uns in staatspolitische Verantwortung haben nehmen lassen angesichts des Scheiterns von Jamaika, da soll schon noch mal erinnert sein …
Zurheide: Ja, aber das hilft im Moment nicht weiter.
Schäfer-Gümbel: Das hilft uns nix, aber es ist trotzdem ein Hinweis, dass die Lage ja nicht so ganz einfach war zu Beginn, dass aber bei uns offensichtlich der Zusammenhang unserer Themen noch nicht gesehen wird und wahrscheinlich, weil wir noch nicht entschieden genug oder weil wir gar nicht darüber geredet haben, und das muss sich als allererstes ändern. Wir müssen sagen und auch entscheiden, was ist der Kernzugang zu Politik, was wollen wir in dieser Gesellschaft, weil es nicht darum geht, irgendwelchen Sachfragen einfach hinterherzurennen. Das ändert nichts daran, dass man in sachpolitischen Fragen gute Antworten geben muss, aber der tiefere Sinn dessen, was wir da machen, der muss erkennbarer werden, und ich glaube, dass wir uns um die Frage zu lange herumgemogelt haben.
Zurheide: Aber wie wollen Sie das ganz praktisch machen? Fangen wir an bei Zuwanderung. Humanität und Ordnung habe ich gerade gesagt, da heißt es dann immer so schön, wir müssen das beides ausgleichen. Das ist so ähnlich wie zwischen Ökologie und Ökonomie, das sagt man auch. Es gibt aber manchmal Punkte, wo man es nicht ausgleichen kann. Was ist Humanität oder Ordnung, oder brauchen wir nicht ein bisschen Ordnung? Das ist ja nicht falsch, oder?
Schäfer-Gümbel: Es muss am Ende immer beides zusammenkommen. Chancen müssen gegeben werden, aber sie müssen auch ergriffen werden. Deswegen richtet sich nach unserem Grundverständnis Integration nicht nur an Menschen mit Migrationshintergrund. Die Suche nach seiner eigenen Identität und gleichzeitig die Integration in eine Gesellschaft ist für jeden einzelnen, für Sie, für mich, für viele andere eine doppelte Herausforderung. Es ist offensichtlich, dass gerade Menschen mit sozial benachteiligten Lebenslagen deutlich höhere Risiken dabei haben, aber es ist eben klar, Integration ist keine Einbahnstraße, Integration bedeutet auch ein hohes Maß an Eigenverantwortung, und zwar in allen Bereichen.
"Wir sind für die vollständige Abschaffung des Solis"
Zurheide: Ich wechsel jetzt die Themenfelder: Steuerpolitik – wo drückt sich sozialdemokratische Steuerpolitik aus? Ich gebe vor, bei Herrn Scholz erkenne ich das nicht, Punkt.
Schäfer-Gümbel: Ja, das ist einer der Punkte, der macht mich, ehrlich gesagt, ein bisschen ratlos, weil Olaf Scholz …
Zurheide: Nur ratlos oder auch wütend?
Schäfer-Gümbel: Nein, ratlos, weil Olaf Scholz nun sehr deutlich auf dem Gaspedal steht, wenn es darum geht, im internationalen Kontext Lösungen zu finden für die Digitalbesteuerung, für die Mindestbesteuerung von großen Unternehmen, dass das alles das Bohren dicker Bretter ist, das ist auch so, und da ist es nicht getan damit, dass man einfach mal eine Schlagzeile raushaut, sondern dass man am Ende Bündnispartner hat, die einen dazu bringen, dass wir genügend Leute, genügend Staaten haben, die unsere Interessenslagen dazu teilen. Dazu gehört zweitens, dass die Soli-Abschaffung für 90 Prozent aller derer, die das zahlen, außer für diejenigen, die höchste Einkommen haben, dass die in dieser Periode kommen muss, und wir erwarten in diesem Jahr noch diesen Gesetzentwurf. Dass wir andere Vorstellungen hatten vor Eintritt in diese Koalition ist allerdings auch erkennbar. Wir sind für die vollständige Abschaffung des Solis, aber unter der Bedingung, dass die, die höchste und wirklich hohe Einkommen haben, diesen höheren Beitrag dann in der Einkommenssteuer oben draufzahlen, weil wir uns nicht erlauben können, auch mit Blick auf die Investitionsbedarfe bei Bildung, bei Verkehr, bei Mobilität, bei Wohnen, bei vielen anderen auf die Einnahmen zu verzichten. Dass die Chancen in diesem Land anders und schlechter verteilt sind mittlerweile, das wissen auch alle. Deswegen muss eine Steuerpolitik sozialdemokratischer Prägung dem nachkommen, und Olaf Scholz steht dafür, auch wenn sich das offensichtlich nicht immer transportiert.
Zurheide: Das war jetzt … Da muss ich es nicht sagen. Genau. Kommen wir zum Thema Mieten. Da haben wir die nächste nette Diskussion. Dass Mieten und Wohnen ein Grundrecht sind, das sind auch wieder schöne Sprüche, da sagen die Leute, klasse, habe ich jetzt gehört, aber ich finde trotzdem keine bezahlbare Wohnung. So, und jetzt haben wir in Berlin Erhöhungsstopp, dann haben wir Verstaatlichungsfantasien eines möglichen künftigen Vorsitzenden Ihrer Partei. So, was wollen Sie konkret machen, damit die Menschen da ihr Grundrecht erfüllt bekommen?
Schäfer-Gümbel: Also die Verstaatlichungsfantasien im Wohnungsbau, die kam als allererstes von einem Grünen-Parteivorsitzenden, die anschließend ein Juso-Vorsitzender mitaufgenommen hat, dem das sozusagen in seiner Rolle eigentlich auf den Leib geschrieben ist, über solche Fragen zu reden. Aber um die Frage ernsthaft zu beantworten: Wir haben ein Riesenproblem, gerade im Wohnungsbau haben wir ein System in Teilen von organisierter Unzuständigkeit – Kommunen, Länder, Bund, Private, öffentliche Akteure. Im Prinzip muss man sich an einen Tisch setzen – das ist auch meine Erwartungshaltung. Andrea Nahles und ich haben ja gemeinsam im letzten Jahr dazu Vorschläge auch auf den Tisch gelegt, wie man auf der einen Seite mit einem echten Mietenstopp dafür sorgt, dass wir Zeit gewinnen. Diese Zeit muss dann aber genutzt werden, damit Wohnungen gebaut, gebaut und noch einmal gebaut werden. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Dazu muss die öffentliche Hand eine sehr viel größere Rolle spielen. Die Wohnungsprivatisierung der letzten 25 Jahre war in diesem Kontext ein großer Fehler.
Brauchen eine Renaissance des Werkswohnungsbaus
Zurheide: Auch von Sozialdemokraten.
Schäfer-Gümbel: Ja, natürlich. Auch Sozialdemokraten haben da Fehler gemacht, überhaupt keine Frage. Ich persönlich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich noch nie die Hand für eine Wohnungsprivatisierung gehoben habe, weil ich das immer für falsch gehalten habe, aber es gibt auch andere, die das so gesehen haben. Da war die Linkspartei dabei, die Grünen, die FDP, die Union, es waren alle dabei, wenn es um Wohnungsprivatisierung geht. Ich glaube übrigens auch, dass wir eine Renaissance des Werkswohnungsbaus brauchen. Auch das war früher ein starker Zweig von bezahlbarem Wohnraum. Es ist auch mit Blick auf die Altersarmut einer der ganz großen Aufgaben, dafür zu sorgen, dass Wohnraum bezahlbar wird. Deswegen habe ich ja in meinem Hessenplan, den ich letztes Jahr vorgestellt habe, klar gesagt, das Ziel muss sein, dass niemand mehr als ein Drittel seines Einkommens für Wohnen und Mieten aufbringen muss, damit Wohnen bezahlbar bleibt, aber das bedeutet eine große Kraftanstrengung von uns allen und nicht der Versuch ständig, sich die Zuständigkeit und die Verantwortung dazu hinzuschieben. Es bedeutet am Ende auch, vor Ort Konflikte zu lösen. Ich meine, natürlich da, wo wir Wohnungen bauen am Ende, die über Verdichtung reden, über Stadtentwicklung, über Verkehrsfragen, also es ist nicht trivial. Der Einstein hat ja mal den wunderbaren Satz geprägt: Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber bitte nicht einfacher. Insofern ist das eine große Aufgabe, aber man muss sie endlich angehen. Da wünsche ich mir in der Tat mehr Dynamik.
Zurheide: So, jetzt zum Schluss ganz kurz: Und mit wem wollen Sie das alles machen? Haben Sie da bis Dezember Zeit bis zum Parteitag, oder soll Herr Kühnert vorher gewählt werden?
Schäfer-Gümbel: Also erstens, Personaldebatten stellen sich im Moment gar nicht, und ich glaube, dass manche Fantasie, die im Moment im Umlauf ist, mit der Realität nur wenig zu tun hat. Das ist übrigens häufiger so. Zweitens werden wir sehr bald schon die ersten Vorschläge machen. Wir sind so eng miteinander verabredet, Malu Dreyer, Manu Schwesig und ich, dass ich zuversichtlich bin, dass wir ein bisschen was liefern.
Zurheide: Dann werden wir ein weiteres Interview machen.
Schäfer-Gümbel: Gerne.
Zurheide: Sie sind damit schon angefragt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.