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Tiefengrabung in der DDR-Vergangenheit

"Suche: ehemalige Stasi-Offiziere und Inoffizielle Mitarbeiter zwecks Interview, Veröffentlichung auf Englisch, Anonymität und Diskretion garantiert". Mit dieser Anzeige in der "Märkischen Allgemeinen" begann die Australierin Anna Funder die Recherche zu ihrem Buch "Stasiland", das inzwischen auch auf Deutsch vorliegt. Herausgekommen ist bei ihrem ersten Buchprojekt eine literarische Tiefengrabung, die ans Licht holt, was unter der Oberfläche des "neuen Deutschland" und der Ostalgie-Welle liegt. Täter und Opfer von einst, die auch heute mit einer Vergangenheit leben, die sie - so oder so - für immer geprägt hat.

Von Lutz Rathenow | 30.08.2004
    Eigentlich war so ein Titel überfällig: "Stasiland". In Bezug auf die DDR strahlt er etwas Mehrdeutiges aus. Er scheint simpel und polemisch den Staat auf eines seiner Machtorgane zu verkürzen. Doch dieses Ministerium entwickelte eine besondere Macht auch außerhalb der klassischen Geheimdienstaufgaben und prägte den Staat DDR sehr. Und Stasiland hat auch eine subtile Komponente. Es ist kein Naziland und nicht einfach nur "Unrechtsstaat" oder "Diktatur". Man assoziiert einen Augenblick "Legoland"und denkt an eine Spielvorgabe für Erwachsene, Ziel: Machterhalt um jeden Preis. "Stasi" bleibt eine Verniedlichungsform für das Ministerium für Staatssicherheit. Der Begriff erweist sich als Aufforderung zur differenzierten Wahrnehmung. Was bedeutete diese Staatssicherheit konkret und aus der Distanz aller Erfahrungen und Erkenntnisse nach dem Ende der DDR?
    Stasiland heißt das Buch von Anna Funder und zeigt auf dem Titelbild eine grell geschminkte junge Frau im Sexy-Outfit. Der optische Reiz assoziiert eine Erotik der Macht, die das Buch nicht bedient. Wer die ganz spektakulären Geschichten oder gar Enthüllungen sucht, findet sich im falschen Text wieder. Es geht um Alltag und das Unerhörte im scheinbar Normalen. Der Beobachter von außen sieht oft unvoreingenommener und klarer. Anna Funder aus Australien erweist sich als solche Beobachterin. 1966 in Melbourne geboren, lebte sie 97 als "Writer in Residence" ein Jahr in Potsdam und entdeckte im Osten Deutschlands die ehemalige DDR. Überall begegnete sie Geschichten und Erlebnissen von und mit der Stasi - auch bei denen, die eigentlich nichts mehr davon hören wollen. So schrieb sie ungeplant ihr erstes Buch und kam auf den Titel, der die Erstausgabe auch im englischsprachigen Raum schmückte. Anna Funder porträtiert Menschen und verweist so auf gesellschaftliche Umstände, in den sie agierten und agieren. Geschichten von damals werden geschickt kombiniert mit ihren Beobachtungen, wie und wo diese heute erzählt werden. Die Australierin beschreibt das Leben von Mirjam, die mit der Freundin 1968 kleine Flugblätter gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche herstellte. Später versucht Mirjam in Berlin Richtung Westen abzuhauen und sucht in einer Kleingartenanlage eine Leiter.

    Wir lachen über die Absurdität, dass jemand, kaum mehr als ein Kind, eine Leiter sucht, um eine der am strengsten bewachten Grenzanlagen der Welt zu überwinden. Wir beide mögen das Mädchen, das sie war, und ich mag die Frau, die sie geworden ist.

    Es ist diese Liebe zu den Menschen und ihre Bereitschaft, sich auf andere einzulassen, die das Buch von Anna Funder sympathisch machen. Sie besticht durch Genauigkeit im Detail. Einige Ungenauigkeiten bei der Zuordnung von Fakten und verallgemeinernden Äußerungen verzeiht man da gern. Nebenher wird in eingeschobenen Passagen der nicht eingeweihte Leser in Australien oder Deutschland über Hintergründe, Zahlen und politische Zusammenhänge informiert. Dieses eingestreute Mini-Bildungsprogramm kann nichts schaden. Wirklich überzeugend sind aber die kleinen und großen Storys aus dem Stasiland. Funder erzählt sie, wie sie für jemanden erzählt werden müssen, der noch nie davon gehört hat. Passagenweise könnte es ein Buch für neugierige Jugendliche sein, die genauso alt sind wie die bereits erwähnte Mirjam. Sie wird gefasst, kommt in Untersuchungshaft.

    Das Verhör von Miriam Weber, Alter sechzehn, fand zehn Nächte lang jede Nacht sechs Stunden statt, von 22 Uhr bis vier Uhr morgens. Um acht Uhr gingen die Lichter in der Zelle aus, und sie schlief zwei Stunden, bis man sie zum Verhör holte. Zwei Stunden, bevor die Lichter um sechs Uhr wieder angingen, brachte man sie zurück in ihre Zelle. Tagsüber durfte sie nicht schlafen. Ein Wächter beobachtete sie durch das Guckloch und hämmerte an die Tür, wenn sie einnickte …

    Zu den traurigen Absurditäten dieses Landes gehört auch der Prozess, bei dem der Richter in seiner Urteilsverkündung gegen ein junges Mädchen am Schluss sagt: "Jugendliche Angeklagte Nummer 725, ist Ihnen klar, dass Ihre Taten den Dritten Weltkrieg hätten auslösen können?" Aber Anna Funder erzählt nicht nur von Betroffenen oder gar Opfern - sie schenkt ihre Neugier auch der anderen Seite und will verstehen, was war. Sie gibt eine Anzeige auf und möchte mit Offizieren und ehemaligen IM sprechen. Vielleicht sind das die erhellendsten Stellen für den Leser, der schon einiges über die Strukturen und Methoden dieses ehemaligen Ministeriums weiß. Denn die Mitarbeiter außer Dienst melden sich reichlich, viele von ihnen wohnen ja rund um Berlin im Bundeslande Brandenburg. Sie wollen Geld oder vom Kommunismus überzeugen und schenken zum Abschied das "Manifest" von Karl Marx. Merkwürdige Dialoge entstehen, wenn um das erste Treffen wie zu DDR-Zeiten ein konspiratives Versteckspiel absolviert werden soll. Einem macht es Vergnügen, die Autorin in seinem Zimmer bei Sonnenuntergang durch seine Weigerung, Licht einzuschalten, ein wenig zu ängstigen. Alle reden mit ihr, weil sie eine junge hübsche Frau ist, die von weit herkommt. Einer besteht auf ihrem Pass und will herausfinden, ob sie wirklich geborene Australierin ist und keine ausgesiedelte Deutsche. Sie alle nehmen Anna Funder wichtig, aber nicht wirklich ernst und entblößen sich so zu einer Kenntlichkeit, die sie einem deutschen Journalisten nicht offenbaren würden. Es erweist sich, dass die Dinge und Menschen oft doch so sind, wie sie es auf dem ersten Blick zu sein schienen. Die Stasileute in dem Buch sind korrekt, banal und gleichzeitig unheimlich. Sie verteidigen alle ihr Tun - an dem Punkt erzeugt das Buch eine vielstimmige Eindeutigkeit, die erschreckt. Daran ändern auch zwei von den Ex-Kollegen geächtete Überläufer nichts. Der eine, Günther Bohnsack, der seine Desinformationsarbeit mehrfach öffentlich beschrieb, über seine Ex- Kollegen:

    Es ist fast so eine Art Ehrenkodex, der sie beherrscht. Sie treffen sich je nach Rängen in Gruppen, auch zu Geburtstagen und bei Beerdigungen. Ein General, der mit ihm hin und wieder noch spricht, erzählte ihm, bei seinem 70. Geburtstag vor kurzem sei alles so abgelaufen wie ein Abteilungstreffen in alten Zeiten. Es gab eine Tagesordnung, an die sich die Männer Punkt für Punkt hielten. Sie bestand hauptsächlich darin, ausgeschnittene Artikel über Berichte und Fernsehsendungen gegen die Stasi herumzureichen. Es war, als hätten die Stasiführer hier einen neuen Feind ausgesucht: die Medien.

    Anna Funder dämonisiert nicht und schwadroniert auch nicht vorschnell von der Gefährlichkeit von Leuten, die heute in der Regel nicht viel zu sagen haben. Doch sie schreibt immer wieder Reaktionen ihrer Gesprächspartner auf, die gleichzeitig erheiternd und gespenstisch wirken. Da gibt es einen Christian von der Grenzkontrolle. Er offenbart seine Tricks, mit denen er Fluchtversuche in den Westen täglich ausspionierte. Wie er Leute aufspürte, um sie verhaften zu lassen. Jeden Tag durfte er sich als verdeckter Ermittler anders verkleiden. Gern war er Tourist aus dem Westen, da gab es echte Lederhandschuhe und Westwagen.

    Wir gehen zurück zu seinem BMW, und er klickte ihn wach. 'Aber wissen Sie, was das Beste war?’ - Er gibt mir einen spöttischen Klaps auf die Schulter - 'Wenn ich mich als Blinder verkleidete: mit Stock, Brille, Armbinde mit drei Punkten. Manchmal bekam ich sogar ein Mädchen als Blindenführerin an den Arm. Aber ich durfte nicht vergessen, meine Armbanduhr abzunehmen!’ Er sieht sich auf diesem öden Platz um und genießt die Erinnerung an ordentlich verrichtete Arbeit. Ein Auto fährt vorbei; wir sind nur zwei kleine Figuren, die an einer Tankstelle in einen großen Wagen steigen. 'Ja,’ sagt er, 'blind zu sein, ist die beste Art, Leute zu beobachten.’ Er gluckst, schiebt sich die dunkle Brille wieder über die Augen und startet den Motor seiner riesigen schwarzen Maschine.

    So gerät "Stasiland" zum poetischen und doch nüchtern beschreibenden Titel eines gelungenen Buches. Er erklärt die DDR aus sich selbst, niedlich und gefährlich gleichermaßen. Ein Untertanenstaat ganz eigener Prägung, von Anna Funder in ein Buch verbannt. Um mit australischen Erfahrungshintergrund diese Geschichte und ihre Wirkungen heute besser zu begreifen.

    Anna Funder: Stasiland. Die deutsche Ausgabe ist erschienen bei der Europäischen Verlagsanstalt Stuttgart. Das Buch umfasst 350 Seiten und kostet 24 Euro und 90 Cent.