Heinlein: Halten Sie denn diese Verknüpfung der Arbeitsmarktproteste - Sie sagen ja, es sei eine gute Tradition - mit der Tradition der Montagsdemonstration in Wendezeiten für glücklich?
Tiefensee: Die Demonstrationen finden montags statt, haben ein festes Ritual, das übrigens jetzt durchbrochen wird. Es beginnt nämlich in der Regel um 17.00 Uhr mit dem Friedensgebet und um 18.00 Uhr ging man, geht man auf die Strasse. Was ich nicht gut finde, was zurückzuweisen ist, dass man die Inhalte von 1989 versucht zu vergleichen mit denen des Jahres 2004, damals gegen eine Diktatur, heute in einer freiheitlichen Demokratie mit Meinungsäußerung. Das sind zwei Paar Schuhe. Wer das versucht auf einen Nenner zu bringen, der liegt völlig verkehrt und dem muss man entscheiden entgegen treten.
Heinlein: Am Montag wird Oskar Lafontaine auf der Demonstration in Leipzig zu Wort kommen. Verliert die Protestbewegung damit ihre politische Unschuld?
Tiefensee: Ich will mich nicht einmischen in dass, was die Organisatoren besprochen haben. Das ist nicht meine Sache und wenn sie Oskar Lafontaine eingeladen haben, dann sollten sie zu dieser Meinung stehen. Ich finde es aber in Bezug auf Oskar Lafontaine keine gute Idee, des Napoleons von der Saar, auf dieses Weise vom selbstgewählten Elba wegzukommen, letztlich die Demonstrationen zu nutzen für seine persönliche Profilierung und für ein eventuelles Comeback. Die SPD sollte sich nicht zu lange damit aufhalten. Solange Oskar Lafontaine nicht für Diskussionen auf der richtigen Ebene, dort wo sie hingehören, zur Verfügung steht, sollte man dem nicht zu viel Beachtung schenken.
Heinlein: Überrascht Sie das, dass Oskar Lafontaine wie ein Hoffnungsträger für den Osten ist, oder es werden kann?
Tiefensee: Oskar Lafontaine ist ein hochintelligenter Vollblutpolitiker, mit Ansichten die sicherlich streitbar sind. Solche Menschen haben natürlich immer wieder die Gabe, Menschen zu begeistern, Menschen hinter sich zu versammeln. Aber noch einmal, ich fände es viel wichtiger, dass es zu einem politischen Diskussionsprozess kommt und nicht nur reden auf einer Demonstration, die für persönliche Dinge instrumentalisiert wird.
Heinlein: Zu diesem politischen Diskussionsprozess haben Sie ja selber beigetragen. Sie waren Mitglied der Hartz-Kommission. Sind Sie denn im Nachhinein überrascht, wie lautstark sich jetzt die Proteste gegen die Arbeitsmarkreform, gerade bei Ihnen in den neuen Ländern artikulieren?
Tiefensee: Ich habe im Jahr 2002 sehr gerne mitgearbeitet an der Hartz-Kommission, an der Kommission zur Reform des Arbeitsmarktes. Ich muss allerdings sagen, einige wesentliche Teile sind im Gesetzgebungsprozess auf dem Weg zum Vermittlungsausschuss bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Ich erinnere nur daran, dass wir heftig gestritten haben um die Dauer der Auszahlung des sogenannten Arbeitslosengeldes I, des jetzigen Arbeitslosengeldes. Wir wollten sechs bis 36 Monate. Und auch die Höhe des Arbeitslosengeldes II, die jetzt auf der Straße heftig attackiert wird, haben wir veranschlagt in der Höhe der Arbeitslosenhilfe. Aber ich muss respektieren, dass eine breite, übergroße Mehrheit im Bundestag hinter dem jetzigen Gesetz, hinter den Gesetzen Hartz I bis IV steht und das ist zu akzeptieren und zu respektieren. Das ist ein Reformprozess, der so viel in Gang setzt, dass er natürlich auch Widerstände weckt. Und die artikulieren sich eben auf der Straße und ich habe Verständnis dafür.
Heinlein: Sie respektieren und akzeptieren dies. Heißt das, Sie wollen keine Veränderungen an den Arbeitsmarktreformen trotz der Proteste gerade bei Ihnen in Leipzig?
Tiefensee: Ich habe folgende Überlegung: Ich glaube nicht, das es gut ist, dass sich jeder in der SPD, auch nicht der Leipziger Oberbürgermeister, ständig in den Chor derjenigen einreiht, die montags bis sonntags neue Änderungen fordern, sondern ich würde der Bundesregierung raten, zunächst einmal genau zuzuhören und das tut der Kanzler, wie Sie es am Anfang angesprochen haben, in dem er hingeht, in dem er hinhört, in dem wir auswerten, was an Fragebögen jetzt zurückkommt, die Summe darüber zu ziehen und das versuchen in Einklang zu bringen mit den zwei großen Zielen, nämlich die Schaffung von Arbeitsplätzen und die bessere Vermittlung von Arbeitslosen. Alles das, was dem dient, was Härten abbaut, die ungerechtfertigt sind, das muss unbedingt verändert werden und korrigiert werden. Es ist kein Wert an sich, an etwas festzuhalten, was nicht dem Ziel dient.
Heinlein: Werden Sie in diesen Punkten auch den Konflikt mit dem Kanzler suchen? Sie wollen ja Veränderungen nach einem Prozess des Zuhörens?
Tiefensee: Das ist keine Frage des Konfliktes. Ich denke, dass auch die Stimme des Ostens gefragt ist, nach genauem Hinhören, nach genauem Überlegen, Vorschläge zu machen. Sie sprachen die Landtagswahlen in Sachsen an. Unser Spitzenkandidat Thomas Jurk ist am Sonntag beispielsweise im direkten Gespräch mit Franz Müntefering gewesen, hat dort vieles von dem, was wir auf der Straße hören - wir sind in Schmiedeberg gewesen, wir sind in Königsstein, in einer schwierigen Gegend in Sachsen, wie Sie wissen, - hat das dem Parteivorsitzenden vorgetragen. Alles das zusammengenommen sollte vielleicht zu einem Stichtag im Jahr 2004, zu einem weiteren im Jahr 2005 dazu führen, dass wir nachbessern, dass wir korrigieren, denn es gibt sicherlich an dieser oder jener Stelle bei einem solch großen Reformwerk noch Veränderungsbedarf.
Heinlein: Droht ohne diese Veränderung, die Sie gerade angesprochen haben, die Stimmung, der Protest im Osten zu kippen? Wie explosiv ist die Stimmung?
Tiefensee: Eine große Zahl von Menschen fühlt sich bedroht, ich denke aber, dass diese Reformgesetze, besonders das Reformgesetz IV, ein Anlass ist, Unmut zu äußern. Ich stelle immer wieder fest, dass es eine gewisse Anzahl, eine große Anzahl von Menschen gibt, die um ihre Perspektive Angst haben. Da ist eben der 52-jährige Ingenieur, der 30 Bewerbungen geschrieben hat, der arbeiten will und der nicht nur in seinem finanziellen Auskommen bedroht ist. Das ist die eine Seite. Die zweite, viel wichtiger, der wir uns zu wenig widmen, ist, dass er vom Status her, von seinem Selbstwertgefühl, von seinen familiären, gesellschaftlichen Zusammenhängen her bedroht ist. Wir sagen, es sind prekäre Arbeitsverhältnisse und das macht etwas mit der Gesellschaft, was nicht gut ist und dieses Klima zu verändern, das mahnen diejenigen an, die auf die Straße gehen. Das muss auch ein Anliegen der Sozialdemokratie sein, denn sie ist angetreten wirtschaftliche Vernunft mit sozialen Gerechtigkeit zu verbinden. Das darf nicht den Bach runter gehen.
Heinlein: Hat der Kanzler, hat die Bundesregierung insgesamt das richtige Gespür für diese von Ihnen gerade geschilderte Stimmungslage im Osten? Man kann den Eindruck gewinnen, aufgrund der letzten Auftritte des Kanzlers in den neuen Ländern, nicht nur Wittenberge, sondern auch bei Ihnen in Leipzig war er ja in dieser Woche zu Gast, dass Gerhard Schröder derzeit eher eine Belastung für die Ost-SPD, statt einer Bereicherung ist?
Tiefensee: Was heißt Belastung? Ich hoffe darauf, dass in den Landtagswahlen und bis hin zur Bundestagswahl sich die Meinung durchsetzt, dass Politiker gewählt werden, dass Politiker einen Pluspunkt bekommen, die zu einer Meinung stehen. Sie können sie korrigieren, aber sie stehen dazu und lassen sich nicht zu leicht beirren. Ich denke, dass ist ein wesentliches Kriterium momentan. Andererseits denke ich, dass wir in einem atemberaubenden Tempo, nämlich seit 2002 diese große Reform in Gang gesetzt haben. Wir haben eine Zeitverzögerung in Kauf nehmen müssen durch die kontraproduktiven Vorschläge des hessischen Ministerpräsiden, Stichwort Optionsmodell. Das hat viel Zeit gekostet, die Zeit fehlt jetzt bei der Kommunikation, die fehlt auf dem Verordnungswege dieses oder jenes noch schärfer zu fassen und jetzt ist die Zeit, ich betone es noch einmal, genau zuzuhören, ran an die Menschen zu gehen und das wird auf breiter Linie getan. Das was man dort hört, muss man einfließen lassen.
Heinlein: Kurz zum Schluss noch ein Wort zu Peter Porsch, der PDS-Mann soll wegen seiner Stasi-Vergangenheit aus dem Hochschuldienst entlassen werden, so berichten es zumindest einige Zeitungen. Wird dies den Wahlkampf beeinflussen, oder in welcher Form?
Tiefensee: Sicherlich ist alles das, was mit Spitzenkandidaten zu tun hat, also auch mit Herrn Porsch, von Einfluss auf die Landtagswahl. Ich erkenne auch in der populistischen Nutzung der Montagsdemonstration, auch in dem neuerlichen Stasi-Fall, dass die PDS einen Rückschritt macht, die sie zehn Jahre zurückwirft, wenn man mit diesen beiden Dingen so umgeht, wenn man nicht klar sagt, dass es Veränderungen geben muss und dass man auf der anderen Seite auch klar zu seiner Vergangenheit steht, dann zeigt man, dass man noch lange, lange nicht angekommen ist, dort, wo man eigentlich sein will.