Dienstag, 16. April 2024

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Tiere in Kinderbüchern
Ehrliche Freunde, kluge Ratgeber, listige Feinde

Aus der Literatur sind Tiere nicht wegzudenken: Im Märchen verkörpern sie seelische Kräfte, im Mythos treten Götter den Menschen in Tiergestalt gegenüber. In der Fabel hingegen kommen Fuchs, Bär und Co. als sprechende Vermittler vor.

Von Karin Hahn | 25.10.2014
    Katzenhaltung in der Wohnung
    Auch in Kinderbüchern kommen häufig Tiere vor. (picture alliance / dpa / Ronald Wittek)
    Ob Hamster, Hund, Falke oder Maulwurf, Tiere können immer sie selbst sein oder ganz neue Rollen annehmen, als Symbol, Exempel oder Allegorie. Dabei kommunizieren Tierfiguren nicht unbedingt immer mit Menschen, sie reden mit ihren Artgenossen oder führen Monologe. Es gibt aber noch weitere Gründe, warum Autoren gerade Tiere in ihr Schreiben einbeziehen.
    "Ja, einmal haben die Tiere viele Eigenschaften, um die sie viele Menschen beneiden oder die viele Menschen nicht haben. Sie sind, gerade bei den Huskys, sehr verlässlich, sehr treu, sie sind auch sehr ausdauernd und können mehr als die meisten Menschen, weil sie halt länger durchhalten und eben auch so gebaut sich, das Fell haben, um eben bei extremer Kälte im Freien zu schlafen. Alles Dinge, die sich vielleicht so ein harter Fallensteller gern gewünscht hätte."
    Sagt Christopher Ross, Autor wirklichkeitsnaher Abenteuerromane mit wilden Tieren. In der Literatur folgen Tiere ihrer eigenen Natur oder sie werden anthropomorph darstellt, indem sie menschliche Verhaltensweisen wie in der Fabel annehmen. Aber das war zu bestimmten Zeiten in der Kinder- und Jugendbuchszene umstritten. Friedbert Stohner, langjähriger Verlagsleiter von Kinder- und Jugendbuchverlagen, resümiert:
    "Tiere in der Kinderliteratur haben eine nicht ganz unkomplizierte Geschichte, zumindest in den letzten 30 oder 40 Jahren. Weil, bei der großen Wende zu einer neuen literarischeren, wenn man so will auch politischeren, aufgeklärteren Kinderliteratur zu Beginn der 70er Jahre galten Tierbücher, nun ja als ein wenig zu harmlos möglicherweise, um das zu vermitteln, was man damals Kindern vermitteln wollte. Es galt ja in 70er Jahren vor allen Dingen, dass ein großer Realismus in die Kinder-Literatur einkehren sollte. Und in der richtigen Welt, da sprechen Tiere nun eben nicht, da haben sie eher eine Nebenrolle. Vielleicht galt ja auch die Tradition des in Fabelnerzählens ein bisschen als verdächtig, weil Fabeln ja auch immer eine sehr direkte Botschaft vermitteln. Und das hat sich dann im Laufe von 40 Jahren bis heute geändert. Und heute, würde ich sagen, sind Tierbücher einfach ein Teil des Kinderbuchkonzerts, wie sie es schon immer waren."
    Das Bilderbuchtier schafft Vertrauen
    Gerade beim Bilderbuchtier, ob kuschelig oder widerborstig, stellt sich für junge Leser schnell eine Vertrautheit ein, denn oftmals personifiziert es nur eine menschliche Eigenschaft. Später darf es dann komplexer werden. Und so verpacken Autoren unbeschwerte aber auch ernste Alltagsthemen gern in Tiergeschichten.
    "Wenn man nun den Kindern die Welt so darstellen will, wie sie tatsächlich ist, dann gehören erst mal Tiere dazu und heute bei den vielen Diskussionen, die wir haben, wie wir denn Tiere behandeln sollen, bevor wir sie aufessen, um das mal ganz drastisch zu sagen, und ob wir sie überhaupt aufessen sollen, da ist es ja sogar, ein wichtiges Thema. Und - hat man Tiere als Protagonisten, hat man natürlich eine Option mehr, was die Perspektive angeht, mit der man die Welt betrachtet."
    Als das Kinderbuch "Ich bin hier bloß die Katze" von Hanna Johansen erschien, bat Friedbert Stohner, damals noch Verlagsleiter bei Hanser Kinderbuch, Autoren um eine Fortsetzung. "Ich bin hier bloß der Hund" von Jutta Richter erschien. Dann sollte ein Hamster zu Wort kommen, aber niemand wollte sich dieser Thematik nähern.
    "Und dann dachte ich, dann mache ich das doch selber, denn ich kenne mich mit Hamstern aus. Komischerweise nicht als Kind, aber als junger Mann hatte ich welche und habe mich so ein bisschen mit ihnen auseinandergesetzt."
    Im Band "Ich bin hier bloß der Hamster" verkündet Hamster Oleg in einem langen Monolog, immer durch kurze Pausensnacks unterbrochen, seine Weltanschauung im Allgemeinen und seine Sicht auf seine neue, vierköpfige Familie im Speziellen.
    "Sagen wir es offen: Im Gegensatz zum Hamster ist der Mensch an sich unvollkommen. Er mag lieb, klug, höflich, witzig sein, aber er ist nie alles zusammen. Darin liegt der große Unterschied zu uns Hamstern. Warum der Mensch sich trotzdem für die Krönung der Schöpfung hält, ist uns schleierhaft, aber wir sind höflich genug, ihn in dem Glauben zu lassen. Soll er sich halten, wofür er will – Hauptsache, er tanzt nach unserer Pfeife."
    Um die Gattung Mensch besser zu verstehen, darf Hamster Oleg so richtig schön über sie herziehen.
    Ein Hamster, der über die Menschen herzieht
    "Ja, selbstverständlich. Aber im Umgang mit Menschen kann er eben sein ganzes Potenzial entfalten, und dann kann man ihn auch zu einem sehr, sehr genauen Beobachter machen, denn dass der einen Blick für Schwächen hat, das ist ja offensichtlich. Und die nutzt er dann gnadenlos aus, und auch indem ist er ein bisschen eine Kinderfigur. Wenn sie manipulatives Verhalten lernen wollen, müssen sie nur Kinder beobachten oder Hamster.
    "Meine Familie ist top, und was die vier noch lernen müssen, bringe ich ihnen schön eins nach dem anderen bei. Lass ihnen Zeit, dann wachsen sie mit ihren Aufgaben, sage ich immer. Der Mensch als solcher ist nicht der Fixeste, aber im Großen und Ganzen ist er willig, und darauf kommt es an."
    Oleg als Einzeltier ohne jegliche Selbstzweifel hat alles im Griff. Problematisch jedoch wird es, wenn ein verhasstes Katzenvieh sich dem Hamsterkäfig nähert oder gar eines der Kinder sich neuerdings einen Hund wünscht. Dann muss Oleg erstmal eine Runde im Hamsterrad drehen. Ob man Hamster nach der Lektüre dieses Buches anders betrachtet als vorher, schon möglich. Auf jeden Fall zeigt Friedbert Stohner als subtil ironischer Alltagsbeobachter, wie innerfamiliäre Differenzen gelöst werden können, welche typischen Verhaltensmuster sich einbürgern und wie ein unpopulärer Vater, zumindest beim Hamster, es schafft, trotz nervigem Humor und Pingelichkeit, alle auszutricksen. Und schließlich endet die witzige Geschichte gegen alle Regeln der Kinderliteratur auch noch mit einer offenen Frage. Wie kann es sein, dass der kleine
    Hamster ohne Superkräfte am helllichten Tag den verschlossenen Käfig verlassen kann?
    "Wenn ich Hamster wäre, würde ich es für mich behalten."
    Nichts gegen Hamster, aber von allen Tieren hat sich der Hund als Gefährte evolutionär am weitesten zum Menschen hin entwickelt. Kein Wunder, dass er neben der Katze zu den beliebstesten Tierfiguren zählt. Bereits in der Geschichte "Ein Hund wie Sam" erzählt der niederländische Autor Edward van de Vendel von dem riesigen weißen Hund, der alle mit seiner eigenwilligen Art und seiner märchenhaften Erscheinung bezaubert. Sam ist ein alter, ziemlich scheuer aber erfahrener Pyrenäenberghund, der jahrelang Schafe gehütet hat. Edward van de Vendel erzählt eine wahre, selbst erlebte Geschichte. Als er die Familie seines Bruders vor vier Jahren auf einer kleinen Farm in Kanada besuchte, stand der Geisterhund, der mal auftaucht und dann wieder verschwindet, plötzlich eines Tages auf dem Hof. Auch der zweite Band "Der Winter mit Sam" beruht auf authentischen Geschehnissen. Sam hat sich die Familie von Edward van de Vendels Bruder als seine "Herde" erwählt. Besonders zum neunjährigen Kix fühlt er sich hingezogen. Bei aller Anhänglichkeit erwartet Sam von seiner Familie zwar innige Streicheleinheiten, aber auch Freiräume.
    "In seinem Jaulen steckte manchmal eine verborgene Mitteilung, eine Nachricht für Kix. Das hatte Kix noch nie jemandem erzählt, aber er war sich sicher, dass es so war. Manchmal sagte Sam Kix mit seinem Jaulen 'Gute Nacht', aber manchmal erzählte er auch, dass es ihm gut gefiel hier bei ihnen auf der kleinen Farm. Dass er mit den Pferden Freundschaft geschlossen hatte. Und auch mit Springerchen und Holly, den anderen Hunden. Manchmal sagte Sam 'Entschuldigung'. Entschuldigung, dass ich wieder eine Nacht lang fort gewesen bin. Denn das machte Sam ab und zu. Er war ein Hund für draußen, der selbst entschied, wo er schlief und bei wem er wohnte. Kix wusste, dass er darüber nicht bestimmen konnte."
    Aber nicht immer versteht Kix das rätselhafte Verhalten von Sam, auch wenn er glaubt, dass seine innere Stimme eine Verbindung zu ihm herstellt.
    Wenn ein treuer Begleiter stirbt
    "Aber am Spätnachmittag passierte etwas Merkwürdiges. Etwas, das Kix schon einige Male bei seinem Hund gesehen hatte: Von der einen Sekunde auf die andere hörte Sam auf zu spielen und starrte plötzlich nur mehr vor sich hin. Auf den Schnee. Oder in die Luft. Sam war immer noch stark und lieb, aber wenn man gut achtgab, sah man etwas Blasses in seinen Augen. Nein, nicht in seinen Augen, sondern dahinter."
    Als Sam im bitterkalten Winter dann mehrere Wochen unauffindbar bleibt, kann Kix nur mit Aggressionen seinen Kummer verarbeiten. Vorsichtig versucht der Opa dem Enkel zu erklären, dass ein Hund nach einem langen Leben sehr verspielte Tage verleben könne. Sie erinnern ihn an seine Kindheit. Aber dann gebe es auch die vergesslichen, grauen Tage. Nach diesem Gespräch ahnt Kix, wohin sein Hund in seiner Verwirrung gelaufen ist. Und er wird recht behalten. Beim Lesen stapft man unwillkürlich mit Kix verzweifelt rufend durch den dicken
    Schnee und erlebt mit ihm an der Seite Sams glückliche und wehmütige Augenblicke. Kix muss sich zum allerersten Mal in seinem Leben mit Endlichkeit auseinandersetzen. Edward van de Vendel findet für die innige Zuneigung und respektvolle Distanz zwischen Mensch und Tier eine einfühlsame Sprache, ohne ins Sentimentale abzurutschen. Seine kurzen präzisen Sätze treffen genau das, was in Kix' Innerem vor sich geht, sein Schwanken zwischen Hoffnung und Verlustangst. Am Ende werden die Rollen getauscht. Kix wird die Verantwortung für Sam übernehmen und entscheiden, wo er seine letzten Tage verbringt, denn der Hund kann es nicht mehr.
    Unter dem Autorennamen Erin Hunter erschienen bereits die Fantasy-Buchreihen "Warrior Cats", "Seekers" und nun neu "Surviver Dogs". Die englische Autorin Gillian Philip und die aus Israel stammende Autorin Inbali Iseless, beide begeisterte Hundebesitzerinnen, verbergen sich hinter diesem Pseudonym. Erschienen ist bereits der Band "Die verlassene Stadt", in der ein schweres Erdbeben die Stadt verwüstete. Die Menschen, die sogenannten Langpfoten, sind geflohen und haben ihre verängstigten Leinenhunde zurückgelassen. Lucky, ein gutmütiger Einzelkämpfer, begegnet nun einer Gruppe von verunsicherten Hunden. Alle warten treu und ergeben auf die Rückkehr ihrer Menschen.
    "Lucky verstummte. Seine Gedanken liefen durcheinander. Leinenhunde. Verhätschelte Hunde. Zahme, dumme, nutzlose Hunde ... Sie hatten zugelassen, dass Langpfoten ihnen Halsbänder anlegten. Alles ließen sie sich von ihnen besorgen: Futter, Unterhaltung, Bewegung, einen Schlafplatz. Ohne ihre Langpfoten waren sie hilflos, hoffnungslos verloren... Wie wollten Leinenhunde das Ende der Welt überleben?"
    Mögen die Leinenhunde haargenau wie ihre Besitzer denken, in ihrem Verhalten bleiben sie tierische Wesen, die kläffen, winseln, hecheln und andere vor Freude ablecken. Die menschliche Sprache ist hier nur ein Vehikel, ein notwendiges Verständigungsmittel zwischen den Tieren. Als ein Nachbeben die Erde erschüttert, führt Lucky die Leinenhunde in die Wildnis. Auch wenn ihre "Hundegeister", ihre Urinstinkte, beim Jagen nach Eichhörnchen, Maulwürfen oder Kaninchen langsam erwachen, sie bleiben weiterhin in Gefahr, denn vom Halsband will sich niemand trennen.
    Der Hund als bester Freund des Menschen
    "'Lucky, du musst versuchen, das zu verstehen. Die Halsbänder sind uns sehr wichtig. Sie sind ein Teil von dem, was wir sind. Sie sind ein Teil von dem, wozu ihr gemacht worden seid, wollte er sagen."
    Im zweiten Band "Ein verborgener Feind" wagt sich der sympathische, aber disziplinlose Hundehaufen in das Revier eines wilden Waldhunderudels, in dem unter Alpha, einem arroganten Wolfshund, eine strenge Hierarchie herrscht. Die Leinenhunde werden mit brutaler Gewalt gezwungen, in dem Areal des Waldes zu bleiben, in dem der Fluss bereits verseucht ist. Lucky erklärt sich bereit, im Waldhunderudel zu spionieren. Sein Auftrag, er soll Schwachstellen finden, damit die Leinenhunde an Wasser und Futter gelangen. Für einen freiheitsliebenden Streuner wie Lucky ist das eine schwere Prüfung, denn er muss sich an unterster Position im Rudel an Befehle und Pflichten Organisation gewöhnen.
    "Rudel sind eben seltsam, sagte er sich und dachte an die Leinenhunde: Ja, sie waren vielleicht ungeschickte Jäger, die sich ganz erbärmlich nach der Sicherheit ihres Lebens bei den Langpfoten sehnten, aber sie waren echte Freunde, und keiner von ihnen hätte es zugelassen, dass ein Rudelgefährte nicht satt wurde."
    Ganz anders beim Wildrudel, hier bekommt der letzte Hund nur noch winzige Happen und die anderen schauen gehässig auf ihn herab. Und doch, bei aller Härte und Mitleidlosigkeit, im Rudel geht es gerecht zu. Lucky ist einerseits fasziniert vom Zusammenhalt der wilden Hunde, will aber andererseits den naiven Leinenhunden helfen. Als diese ihn jedoch mit unberechenbaren Füchsen hintergehen und das Waldhunderudel angreifen, steht Lucky zwischen den Fronten. Die domestizierten Leinenhunde können ihre Unfreiheit im Kopf nicht überwinden. Aber sie spüren in ständiger Anspannung, dass ihre Existenz in Gefahr ist, wenn sie ihre angeborenen Fähigkeiten nicht nutzen. Im Mehrteiler "Surviver Dogs" spielen die Autorinnen innerhalb des geradlinigen Handlungsverlaufes zwar mit Stereotypen und doch berührt diese rasant geschriebene Entwicklungsgeschichte, in der jeder einzelne Hund im Überlebenskampf eine neue Identität finden muss.
    Echte Wölfe, Elche oder Grizzlys in freier Natur erleben oder einmal auf einem Hundeschlitten durch die verschneite unendliche Weite Alaskas jagen. Durch die Fantasywelle leicht in den Hintergrund gerückt sind gerade Abenteuerromane, die faktentreu im hier und jetzt spielen, unterhaltsames Lesefutter. Unter dem Titel "Alaska Wilderness" veröffentlichte Christopher Ross bisher drei Romane. Unter seinem bürgerlichen Namen Thomas Jeier schreibt er historische Romane, Thriller, aber auch Sachbücher über die amerikanische Geschichte.
    "Alaska war immer so ein Traumland von mir und ich bin natürlich viel dort, um zu recherchieren und weil es mir auch Spaß macht, mich dort aufzuhalten und bin dort auf der Suche nach neuen Geschichten und Legenden, war auch viel mit Musherinnen, wie die Schlittenhundführerinnen heißen, unterwegs, die mir vieles erklärt haben und habe mit Ladys in Nationalparks gesprochen, Rangern, denn die Hauptperson in der Alaska Wilderness – Reihe ist ja eine angehende Rangerin. Habe natürlich viel mit so einer Rangerin gesprochen, um herauszufinden, wie die Denke bei der ist, wie der Tagesablauf ist, was da passiert, auch mit den Huskys, die ja immer im Einsatz sind. Das hat alles einen authentischen Hintergrund."
    Die selbstbewusste, wie ehrgeizige Julie Wilson liebt die flackernden Nordlichter und versorgt ihre Schlittenhunde, mit denen sie so oft wie möglich auf Patrouille hinausfährt. Im Zentrum jedes Bandes stehen Konfliktsituationen, die Menschen untereinander oder mit wilden Tieren austragen müssen. Julie und die Ranger spüren mithilfe der Polizei Wilderer auf, die in geschützten Gebieten Elche jagen, aber auch durch Vorurteile verblendet Wölfe töten und damit deren Lebensweise empfindlich stören.
    Von der Hierarchie im Tierreich
    "Banu, der Anführer des Rudels, hinkte leicht. Anscheinend hatte ihn eine Kugel der Wolfskiller gestreift. Keine schwere Verletzung, aber wohl schlimm genug, um seine Fähigkeit zu jagen und seine Stellung innerhalb des Rudels zu gefährden. Ein zweiter Rüde gab durch sein Imponiergehabe zu erkennen, dass er nicht abgeneigt wäre, die Rolle des Rudelsführers zu übernehmen. Nur noch aus sechs Wölfen bestand das Rock-Creek-Rudel, das durch den Tod ihres jungen Mitgliedes schwer getroffen war und anscheinend die Orientierung verloren hatte."
    Die schmerzliche Degradierung des stolzen Wolfes berührt Julie, die eigentlich hart im Nehmen ist. Sind in den herkömmlichen Abenteuerromanen die Männer die Hauptfiguren und Helden, so rückt Christopher Ross die Aufmerksamkeit in "Alaska Wilderness" auf die Frauen, denn auch Julies engste Vertraute und Vorgesetzte ist eine Rangerin.
    "Frauen haben sicher eine ganz andere Beziehung zu Huskys als Männer, schon daraus ergeben sich andere Geschichten. Das haben mir viele Musherinnen bestätigt und das soll auch der Grund dafür sein, das nicht selten Frauen z.B. die großen Schlittenrennen, das Iditarod in Alaska gewinnen.
    Voller Einfühlungsvermögen und äußerst kommunikativ meistert Julie mit ihren Huskys ein Abenteuer nach dem anderen. Dabei schießt sie auch ab und zu übers Ziel hinaus. Christopher Ross beschreibt nicht das Innenleben seiner Figuren, sondern bereitet die Szenen eher filmisch auf und charakterisiert seine Personen durch ihr Verhalten und lange Dialogpassagen. Durch seine klare Dramaturgie baut er Szenen zu großer Spannung auf. Dabei verliert er nie, ohne den Erzählfluss zu unterbrechen, den Blick für die Schönheit Alaskas, schaut aber auch kritisch auf die Lebenssituation mancher Tiere und erzählt von der fragilen Beziehung zwischen Mensch und Tier in einer noch teilweise unberührten Natur.
    "Ein dunkler Punkt tauchte am nördlichen Ufer auf, dann noch einer und noch einer. Durch einen Feldstecher sah Julie, dass es sich um ein Wolfsrudel handelte. Zehn ausgewachsene Wölfe, die im losen Gänsemarsch zum Fluss hinabstiegen und über das harte Eis nach Westen liefen. Nur schemenhaft hoben sie sich gegen den blassen Schnee ab, wie Geisterwölfe aus einer indianischen Legende. Die Wölfe vom Riley Creek, noch widerstandsfähiger als das Rudel vom Rock Creek, weil sie in einem Gebiet lebten, das teilweise sehr unzugänglich war und ihnen alles abverlangte. Die Wilderer hatten diese Tiere bisher in Ruhe gelassen."
    Das Mädchen Eleisa versteht die Sprache der Vögel und sie weiß alles über Laubsänger, Spatzen, Krähen, Elstern oder Bachstelzen. Ohne Absicht durchbricht sie jedoch die Grenze zwischen ihrer Welt und der der Vögel in Hannele Houvis fantasievoller Geschichte "Die Federkette". Als Eleisa fasziniert den stolzen Falkenprinzen beobachtet und er zu ihr fliegt, ergreift sie seinen Fuß. Er schlägt ihr daraufhin mit dem Schnabel in die Augen und sie
    erblindet. Ein Gericht unter dem Vorsitz des Uhus wird einberufen, denn Eleisa darf nicht zurück in die Menschenwelt. Falke und Mädchen werden zur Strafe gemeinsam an eine Federkette angeschlossen. Der zentrale Topos des Buches ist etabliert: Die Sehnsucht nach Freiheit in einer unsicheren Welt. Dabei hatte Eleisa vom Land der Vögel als Paradies geträumt. Der Falke und der Rabe Huki, dem sie später begegnen wird, benehmen sich allerdings wie Menschen, sie sind zynisch, auch freundlich und dann wieder egoistisch.
    "'Ich finde', sagte ich, so leise ich konnte, 'dass wir wenigstens versuchen sollten, miteinander auszukommen. Und uns gegenseitig helfen. Es dem andern ein bisschen leichter machen.'
    'Du meinst, ich soll dir helfen', sagte der Falke. 'Jedenfalls hilfst du mir am besten, wenn du den Mund hälst.'
    'Halt du selber den Mund!'
    'Frei sein – darum geht's!'"
    Um sich ihrer Fessel zu entledigen, begeben sich Falke und Mädchen zu drei Hexenschwestern. Auf ihrem langen Weg dorthin begegnen beide, die nun ein Zweckbündnis eingehen, seltsamen Erscheinungen, Steintrollen, einem wankenden Wald und immer wieder streift sie das Geheimnis der Schatten als fehlende Hälfte der Menschen. Die finnische Autorin Hannele Houvi wählt für ihr modernes Märchen eine poetisch leichte Sprache. In der vielschichtigen, wie hintersinnigen Handlung jedoch verbergen sich zahlreiche Themen: Es geht um Schuld, Verwandlung, Erlösung, Zauberei, den Verlust der Träume und das Überschreiten von Grenzen bis hin zum Land der Zeitlosen, der Toten.
    Vom Leben eines Maulwurfs
    Aus den Flughöhen der Vögel führt das letzte Buch ins tiefe Erdreich. Im hohen Alter von 84 Jahren veröffentlichte die englische Autorin Philippa Pearce 2004 ihr Kinderbuch "Der kleine Herr im schwarzen Samt". Ihre Hauptfigur ist ein eigensinniger, launischer, mit menschlicher Stimme sprechender Maulwurf. Er ist ein betagter Herr, der bereits 300 Jahre auf dem Buckel hat und von der Welt der Menschen überhaupt nichts hält.
    "Nach der Schlacht nannte man ihn nur noch den 'Schlächter' von Cumberland und dabei fand das Gemetzel nur zum Teil auf dem Kampfplatz statt. Die Toten und die Sterbenden, zwischen denen mir die Flucht gelang, waren keineswegs Soldaten auf dem Schlachtfeld. Ringsum wohnende Männer, Frauen, Kinder, Alt und Jung, wurden massakriert, ihre Häuser angezündet und dem Erdboden gleichgemacht."
    Nichts wurde dem Maulwurf erspart, der 1700 in Hampton Court südwestlich von London geboren wurde. Die Jakobiten nahmen ihn als Maskottchen mit nach Schottland, da angeblich der verhasste König Wilhelm III. mit seinem Pferd über einen Maulwurfshügel zu Tode stürzte. Nach gelungener Flucht und einer bedrohlichen Begegnung mit einem geldgierigen Schausteller lebt der Maulwurf nun geruhsam im Garten von Mr Franklin und lässt sich vorlesen, am liebsten aus den Texten von Charles Darwin. Er liebt die Passagen über Regenwürmer, aber nicht wegen ihres wissenschaftlichen Wertes. Der Maulwurf, und das ist durchgängig komisch, schwadroniert gern über seine Kenntnisse und hält sich immer für ein bisschen klüger als alle anderen. Allerdings muss der sprechende Maulwurf, der seine Stimme magischen Hexenkräften zu verdanken hat, auch hier in der Idylle erneut seine Freiheit verteidigen. Mr Franklin ist seit der Erwähnung eines Terrariums in Ungnade gefallen. Bess, die stille Enkelin der Haushälterin von Mr Franklin, ist an seine Stelle getreten und darf dem anspruchsvollen Maulwurf Gedichte von Alfred Lord Tennyson vortragen. In den langen Gesprächen der beiden erzählt der kleine Herr nicht nur von seinem wechselvollen Leben über und unter der Erde, es wird auch deutlich, wie unglücklich er sich als "Wundertier" fühlt.
    "Aufgebracht sagte der Maulwurf: 'Ich bin weder Schotte noch Engländer! Ich bin Maulwurf, lateinisch talpa europaea! Mein Heimatland ist die Erde, das Erdreich, durch das ich mich grabe. Was scheren mich Monarchen und ihre Streitereien? Throne, Länder, Nationalitäten, Vaterlandsliebe – sie bedeuten mir nichts. Rein gar nichts."
    In der fantastischen Geschichte von Philippa Pearce verzichtet der Maulwurf liebend gern auf den menschlichen Zivilisationsapparat, trotz Begeisterung für die schönen Künste. Mithilfe des Mädchens Bess und seinen inneren Hexenkräften will der Maulwurf endlich zu seiner wahren Natur zurückkehren. Doch auch Bess steht vor einer wichtigen Entscheidung. Kann sie in der neuen Familie ihrer Mutter, die sie als Baby verlassen hat, ein Zuhause finden? Wenn Mensch und Tier letztendlich wieder sie selbst sein können, erst dann stellt sich für Philippa Pearce ein natürliches Gleichgewicht her.
    Tiere treten in der Kinder- und Jugendliteratur als sie selbst auf, aber auch als Mahner, Ratgeber, Kritiker, Beobachter oder Gefährten. Sie sind unser Gegenüber, die Anderen, die im besten Fall unseren Erfahrungshorizont erweitern.
    Verwendete Literatur:

    Friedbert Stohner: Ich bin hier bloß der Hamster, Carl Hanser Verlag, München 2014, 128 Seiten, €10,00, ISBN 978-3-446-24517-4

    Edward van de Vendel: Ein Winter mit Sam, Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Carlsen Verlag, Hamburg 2014, 128 Seiten, €12,90, ISBN 978-3-551-55652-3

    Erin Hunter: Surviver Dogs, Ein verborgener Feind, Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2014, 271 Seiten, €13,99, ISBN 978-3-407-74447-0

    Christopher Ross: Alaska Wilderness, Die Wölfe vom Rock Creek, Ueberreuter Verlag, Berlin 2014, 236 Seiten, €12,95, ISBN 978-3-7641-7003-5

    Hannele Houvi: Die Federkette, Aus dem Finnischen von Anu Stohner, Carl Hanser Verlag, München 2014, 240 Seiten, €14,90, ISBN 978-3-446-24628-7

    Philippa Pearce: Der kleine Herr im schwarzen Samt, Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier, Aladin Verlag, Hamburg 2014, 184 Seiten, €12,90, ISBN 978-3-8489-2027-3