Tietmeyer: Ich glaube schon. Das ist eine wichtige Entscheidung, denn das Parlament hat doch wichtige Mitbestimmung in europäischen Fragen. Wenn es auch nicht die gleiche Kompetenz hat wie nationale Parlamente im nationalen Bereich, so ist es doch sehr wichtig für die europäische Politik. Insofern ist auch die Zusammensetzung des Parlamentes von erheblicher Bedeutung.
DLF: Ist Ihnen der Integrationswille, den man beobachten kann, auf dem politischen Parkett da ausreichend, oder sollte man noch mehr tun?
Tietmeyer: Ich glaube, daß Europa in einer Zwischenstation sich befindet. Europa muß sicher den Prozeß der politischen Integration weiter gehen. Wir sind im Währungsbereich jetzt für eine Reihe von Mitgliedsstaaten voranmarschiert, und ich hoffe, daß die politische Integration sich weiterentwickelt, denn wir müssen zwei Dinge beachten. Das eine ist: Wir müssen handlungsfähig nach draußen sein. Europa muß in der Lage sein – in den internationalen Organisationen schlechthin –, mitzureden. Und zum andern – was mindestens ebenso wichtig ist: Es muß der innere Zusammenhalt weiterentwickelt werden. Das heißt nicht den Aufbau eines Zentralstaates, das heißt nicht egalitäre Verhältnisse zwischen allen Ländern, sondern das heißt:, es muß entschieden werden: Was bedarf der Entscheidung auf der europäischen Integrationsebene, und was kann im nationalen Bereich weiter verbleiben. Entscheidend ist, daß die Wettbewerbsfähigkeit nach außen gesichert wird und daß im Innenverhältnis keine Spannungen entstehen. Und das heißt: Man muß sich auf den verstärkten Wettbewerb einstellen, der mit der Währungsunion im Innenverhältnis entstanden ist.
DLF: Es wird ja auch in diesem Zusammenhang oft von der Asymmetrie des Maastrichter Vertrages gesprochen, also davon, daß man zwar die Geldpolitik harmonisiert hat, integriert hat in Europa, aber die anderen Politikbereiche nicht. Ist das für die Währungsunion und für ihren Verlauf möglicherweise schädlich?
Tietmeyer: Wir haben mit dem Maastricht-Vertrag in der Tat einen neuen Weg begangen. Das heißt: Wir haben die Währungsintegration so weit entwickelt, daß dort supranational entschieden wird, während die übrigen Politikentscheidungen weitgehend auf der nationalen Ebene verblieben sind. Das ist dann kein Problem, wenn alle Teile der Europäischen Union tatsächlich wettbewerbsfähig sind und sich an die Regeln halten, die im Maastricht-Vertrag festgelegt sind.
DLF: Haben Sie daran Zweifel im Augenblick?
Tietmeyer: Nein, ich glaube, alle bemühen sich. Aber wir haben noch nicht hinreichend alles erreicht, und vor allem: Es kommt darauf an, daß man sich den neuen Herausforderungen stellen muß. Und es ist so, daß wir in Europa zum Beispiel eine Arbeitslosigkeit haben, die so auf Dauer nicht tolerabel ist. Wir müssen im Innenverhältnis und im Außenverhältnis wettbewerbsfähiger werden. Und insoweit kommt es darauf an, daß die richtige Politik betrieben wird. Weniger wichtig, als eine egalitäre gemeinsame Politik in allen Bereichen ist es, daß die Politik auf dem richtigen Wege ist und sich an die Regeln hält.
DLF: Sie haben einmal gesagt, daß die Währungsunion wie ein Korsett sein kann: Sie könne stützen, sie könne aber auch die Luft abschnüren. Unter welchen Bedingungen würden Sie sagen, daß sie eher letzteres tut?
Tietmeyer: Nein, es kommt entscheidend darauf an, daß die Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft gesichert ist. Das ist genau der entscheidende Punkt. Wenn ein Land oder große Teile der Union nicht in der Lage sind, im Wettbewerb mitzugehen, dann – in der Tat – kann die Währungsunion für sie ein abschnürendes Korsett werden. Abschnürend in der Weise, daß man eben die Geldpolitik als nationale Politik nicht mehr verfügbar hat und Wechselkursänderungen nicht mehr vornehmen kann. Man ist auf Gedeih und Verderb in diese Währungsunion eingebunden, dessen müssen sich alle Länder bewußt sein. Wir haben den Schritt gewagt, das war gut so und richtig so. Jetzt kommt es aber darauf an, daß auch die innere Flexibilität, die innere Beweglichkeit hinreichend entwickelt wird, um damit fertig zu werden. Ich sag’s noch mal deutlich: Die Währungsunion bietet große Chancen – nach außen wie nach innen –, wenn die Voraussetzungen stimmen. Aber damit die Voraussetzungen dauerhaft stimmen, müssen auch die Herausforderungen akzeptiert werden. Das gilt für die nationale Politik, das gilt für die Lohnpolitik, das gilt für die Unternehmensentscheidungen, das gilt für alle Bereiche, die die Ökonomie bestimmen.
DLF: Die Bundesbank hat im letzten Jahr, bevor die Teilnehmer für die Währungsunion ausgewählt wurden, ein Gutachten, eine Stellungnahme formuliert, und darin sind die beiden hochverschuldeten Länder Belgien und Italien angesprochen worden. Es hieß darin, daß sich diese Besorgnis nur ausräumen lasse, wenn zusätzliche Verpflichtungen verbindlich eingegangen würden. Wie beurteilen Sie diese Passage aus der Stellungnahme von damals im Lichte der Entscheidung, Italien nun mehr Spielraum zu geben, was die Neuverschuldung betrifft?
Tietmeyer: Also, ich will mich jetzt nicht zu einem Land besonders äußern, aber ich will darauf hinweisen, daß die damalige Stellungnahme, die Sie zu recht zitiert haben, sehr wohl auf die besondere Schuldensituation der beiden Länder abstellte. Zunächst einmal kann ich feststellen, daß doch beide Länder erhebliche Bemühungen unternehmen. Diese Bemühungen müssen aber fortgesetzt werden, und das ist nicht ein Thema, das man in einem halben Jahr oder in zwei oder in drei Monaten lösen kann, sondern es kommt darauf an, wie glaubwürdig und wie nachhaltig tatsächlich der Konsolidierungsprozeß in Gang gesetzt ist. Einige Länder, zu denen Italien gehört, haben ja schon von der Währungsunion einen erheblichen Vorteil bekommen, nämlich: Das Zinsniveau, das zuvor wesentlich höher war und das maßgebend war für die Bedienung der Staatsschulden, ist jetzt wesentlich niedriger; und das bedeutet auch, daß für die Bedienung der Schulden weniger Lasten anfallen. Und es kommt jetzt sehr darauf an, daß diese Begünstigung infolge der Währungsunion auch tatsächlich genutzt wird. Ich habe den Eindruck, daß die italienische Regierung sich sehr darum bemüht. Ich wünsche ihr dabei großen Erfolg im italienischen Interesse - aber auch vor allem in unserem eigenen und gemeinsamen Interesse.
DLF: Sie haben also nicht den Eindruck, daß die Glaubwürdigkeit des Konsolidierungsprozesses ein bißchen beschädigt worden ist durch diese Entscheidung?
Tietmeyer: Also ich glaube, das kann man nach so kurzer Zeit nicht sagen, das hängt gar nicht von Monaten ab, nein. Das hängt davon ab, wie in den nächsten Jahren tatsächlich der Prozeß läuft und wie die Länder sich bemühen. Das gilt bei uns übrigens genauso. Wir haben nicht in erster Linie das Problem des Schuldenstandes, aber wir haben andere Probleme. Wir haben die hohe Arbeitslosigkeit, wir haben die Strukturprobleme - die müssen bei uns adressiert werden. Dasselbe ist in einigen anderen Ländern der Fall, das ist in Frankreich der Fall, das ist in Spanien der Fall, das ist in anderen Ländern ebenso der Fall. Insofern – glaube ich – sollte man nicht mit dem Finger auf ein Land zeigen und sollte schon gar nicht aus einer Entscheidung, die zunächst ja nur ein Anerkennen einer besonderen Situation bedeutet, sollte man nicht falsche Schlußfolgerungen ziehen.
DLF: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt allerdings verlangt ausgeglichene Haushalte in einem bestimmten Zeitraum bis zum Jahr 2002. Sehen Sie denn – auch wenn Sie sich zu einem einzelnen Land nicht äußern wollen – sehen Sie denn die Chancen gleichwohl gewahrt, auch wenn inzwischen schon um ein bißchen Nachlaß gebeten worden ist?
Tietmeyer: Also, die Chancen sind zweifelsohne vorhanden. Es kommt jetzt darauf an, daß der Wille und die Fähigkeit, diese Probleme tatsächlich anzugehen, jetzt nicht nachläßt. Das ist einer der wichtigen Punkte. Und ich hoffe, daß die politisch Verantwortlichen in allen Ländern sich dieser Herausforderung voll bewußt sind. Der Präsident der Europäischen Zentralbank hat zu recht darauf hingewiesen: Die monetäre Politik hat nun wirklich alle Leistungen erbracht, die erbracht werden können. Wir haben das niedrigste Zinsniveau, das wir je gehabt haben in Europa. Wir haben niedrige Preis-Inflationsraten, wir haben also geradezu eine Stabilität des Preisniveaus. Das heißt, die Voraussetzungen von der monetären Seite - auch für Wachstum und Beschäftigung - sind gegeben. Jetzt kommt es entscheidend darauf an, daß auch die anderen Bereiche die Herausforderungen nicht nur für einen Tag anerkennen, nicht nur für eine Woche anerkennen, nicht nur für Monate anerkennen, nicht nur für ein Jahr anerkennen – sondern tatsächlich die Herausforderungen über die nächsten Jahre anerkennen. Und Sie haben zu recht darauf hingewiesen, daß der Stabilitäts- und Wachstumspakt vorsieht - über die mittlere Frist -, ausbalancierte oder ausgeglichene Haushalte zu haben, das heißt, die Defizite über die mittlere Sicht herunterzufahren oder gar in Überschuß zu geraten für die Länder, die einen extrem hohen Schuldenstand haben. Ich habe den Eindruck, daß die Länder sich bemühen, aber sie dürfen in ihrem Bemühen nicht nachlassen.
DLF: Was wäre, wenn sie nachließen?
Tietmeyer: Dann könnte es Spannungen geben, vor allen Dingen zwischen den Ländern. Und das ist sehr wichtig, denn das würde ja bedeuten, daß dann ein Land beispielsweise in der Fiskalkalpolitik expansiver fährt als das andere. Und das würde bedeuten, daß die Kapitalmärkte unterschiedlich in Anspruch genommen werden. Das würde bedeuten, daß damit möglicherweise das Zinsniveau an den Kapitalmärkten nicht so günstig sein kann, wie es wäre, wenn alle sich vernünftig verhalten würden. Das ist das eine. Das übrige ist, daß – wenn die Länder nicht in ihrem eigenen Interesse die Probleme adressieren – daß dann auch die Gefahr ist, daß dann sie in Konflikt mit der monetären Politik geraten, und zwar in Konflikt in dem jeweiligen Land. Das heißt, daß dann die Menschen sagen: 'Ja, hier muß aber die monetäre Politik expansiver werden, weil wir in den andern Bereichen offenbar die Voraussetzungen nicht haben'. Insofern will ich noch einmal sagen: Es kommt darauf an, daß – in der Tat – die Balance zwischen den verschiedenen Bereichen der Politik stimmt, und daß in allen Ländern die Bemühungen tatsächlich ausreichen, denn sonst könnte es Konflikte geben zwischen den Ländern und dann könnten die Chancen des weiteren Wachstums und der Beschäftigungsverbesserung geringer werden. Und das darf nicht sein, denn das könnten dann die Menschen möglicherweise der Währungsunion zulasten, was aber eine falsche Zulastung wäre.
DLF: An den Devisenmärkten ist argumentiert worden, als der Außenwert des Euro zurückging, daß es natürlich ein Kosovo-Kriegseffekt war, daß es auch ein Unterschied in den Konjunkturen Europa – USA war, aber daß es auch möglicherweise die Politik der Europäischen Zentralbank war, die – wie einige Händler sagten – nicht eindeutig genug den Euro verteidigt habe, verbal verteidigt habe. Teilen Sie diese Kritik, oder sehen Sie die Unterstützung von dieser Seite ausreichend?
Tietmeyer: Also, von der verbalen Verteidigung möchte ich nicht ausgehen, sondern es kommt entscheidend auf die Substanz an. Und wenn man sich die Substanz ansieht, dann kann man nur feststellen: Erstens – wir haben ein niedriges Preisniveau, wie wir es noch nie gehabt haben in der Nachkriegszeit in allen Ländern, wir haben niedrige Zinsen, wie wir sie noch nicht gehabt haben, nicht nur die Notenbankzinsen, sondern – und das ist sehr wichtig für die Glaubwürdigkeit – auch die Langfristzinsen, das heißt, Fünf- bis Zehnjahreszinsen sind so niedrig, wie sie - selbst in der Bundesrepublik - zuvor nie waren. Und das zeigt, daß die Märkte offenbar Vertrauen in die Geldwertstabilität haben. Ein Problem ist zweifelsohne, daß der Wechselkurs zur gleichen Zeit nachgelassen hat, aber das hängt zusammen mit den ökonomischen Divergenzen, die wir gegenwärtig zwischen USA und Europa haben, das hängt mit den politischen Vorgängen, die Sie angesprochen haben, mit der Kosovoentwicklung zusammen. Aber erfreulicherweise hat sich ja auch schon gezeigt, daß die Entlastung von der Kosovoseite jetzt auch an den Märkten zu einer gewissen Entlastung geführt hat.
DLF: Wird das eine nachhaltige Entlastung sein?
Tietmeyer: Allein wird das nicht entscheidend sein. Es kommt darauf an, daß die Politik die Stabilität über eine längere Frist intern sichert. Wenn dieses intern gesichert wird, dann – in der Tat – wird auch der Wechselkurs nach meiner festen Überzeugung über die Zeit hinweg stärker werden. Daß der Wechselkurs auf unterschiedlich ökonomische Situationen reflektiert und entsprechend sich bewegt, das ist ganz natürlich, das hat es übrigens auch der DM gegenüber gegeben. Aber ich will durchaus nicht einer Politik des Vernachlässigens des Wechselkurses das Wort reden. Nein, der Wechselkurs ist für uns ein Element. Ein zu weit abrutschender Wechselkurs kann negative Effekte auf die Inflationsrate intern auf Dauer haben. Nur bisher ist das eindeutig nicht der Fall und bisher würde ich die derzeitige Situation nicht als - für die Inflationsentwicklung - gefährlich ansehen. Wichtig ist aber, daß wir den Wert des Euro – daß der auch sich allmählich in der Welt durchsetzt, das heißt, allmählich eine entsprechende Reputation an den Märkten gewinnt. Ich wiederhole aber: Erstens – der Euro hat ein – wie ich glaube – erhebliches Aufwertungspotential, und es könnte sehr wohl sein, daß wir im Laufe dieses Jahres mit einer anderen extremen Entwicklung konfrontiert werden: Daß der Wechselkurs plötzlich anders bewertet wird. Wenn in Europa die Dinge weiter gut gehändelt werden, dann glaube ich in der Tat, daß das zu einer allmählichen verbesserten Bewertung auch im Außenverhältnis führt. Aber ich sage noch einmal: Es kommt darauf an, daß wir in Europa die Herausforderungen auch akzeptieren. Mit verbalen Interventionen kann man die Situation klarstellen, aber letztlich sind verbale Interventionen nicht entscheidend. Man kann darüber reden, ob jede Aussage, die bisher getroffen worden ist, der Weisheit letzter Schluß war, das lasse ich mal so stehen. Aber entscheidend ist, daß wir Vertrauen aufbauen. Und ich bin fest überzeugt, daß uns das gelingen wird, wenn wir die Politik innerhalb Europas auf den richtigen Kurs bekommen.
DLF: Mit welcher konjunkturellen Entwicklung rechnen Sie?
Tietmeyer: Zunächst einmal glaube ich, daß in den meisten europäischen Ländern der Tiefpunkt hinter uns liegt, wobei wir allerdings sehen müssen, daß in den Euro-Ländern die konjunkturelle Lage schon unterschiedlich war zu Beginn. Ich glaube, daß wir jetzt feststellen können – jedenfalls darauf deuten die Indikatoren hin –, daß die schwächste Entwicklung im Euro-Raum allmählich erreicht ist und wir jetzt in eine allmähliche Aufwärtsbewegung hineinkommen. Das mag von Land zu Land ein bißchen unterschiedlich sein, aber insgesamt – glaube ich – kommen wir jetzt in eine Aufwärtsbewegung hinein. Es kommt nur darauf an, daß diese Aufwärtsbewegung – das hängt entscheidend von den Politiken ab – die genügende innere Dynamik gewinnt, denn Europa braucht eine eigendynamische Entwicklung, weil wir nicht davon ausgehen können, daß die 'Weltlokomotive' USA nun immer und auf längere Sicht allein die Weltwirtschaft bewegen kann. Wir haben die ersten Signale, daß selbst Japan jetzt etwas sich nach oben bewegt. Ich hoffe, daß das nicht nur eine kurzfristige Verbesserung ist, sondern eine dauerhafte Verbesserung ist. Insofern muß man die gesamte Weltwirtschaft im Blick haben, aber Europa – glaube ich – ist in einer Situation, daß es allmählich wieder in eine Anstiegsphase hineinkommt.
DLF: Könnte das eine konjunkturelle Entwicklung sein, die auch in diesem Jahr noch eine Zinserhöhung denkbar machen könnte?
Tietmeyer: Also, ich sehe nicht das Element der Zinserhöhung in nächster Zeit vor uns stehen, aber es ist ja die Aufgabe der Europäischen Zentralbank – und das heißt des Europäischen Zentralbankrates, dem ich angehöre – dieses alle 14 Tage zu prüfen. Nur – im Augenblick sehe ich das nicht am Horizont.
DLF: Es wird in den kommenden Tagen auch auf dem anstehenden internationalen Treffen auch über die Goldreserven gesprochen werden. Welche Haltung nimmt die Bundesbank dazu ein, Herr Tietmeyer?
Tietmeyer: Also zunächst einmal geht es ja beim Gipfel darum, wie man eine Entschuldung der überschuldeten armen Länder erreichen kann, und zwar so, daß diese Länder davon auch nachhaltigen Vorteil haben. Es nützt nichts, Schulden zu streichen, wenn dieses nur etwa – jetzt sage ich mal – bestimmten Gruppierungen innerhalb der Länder zugute kommt. Und es nützt überhaupt nichts, wenn dann am nächsten Tag alles weitergeht, wie bisher, sondern es muß auch der Beginn einer neuen Entwicklung sein. Und deswegen ist das Element der Konditionalität so wichtig. Die bisherigen Vorbereitungen laufen ja darauf hin, daß erst im Herbst im Internationalen Währungsfonds endgültig entschieden wird. Auf dem G-7-Gipfel und den vorbereitenden Treffen wird wohl nur über die allgemeine Richtung gesprochen werden: Die Größe des Nachlasses, die Kriterien, welche Länder könnten in Frage kommen und woher kommen die Mittel. Und dabei muß man unterscheiden zwischen den Mitteln, die notwendig sind auf der supranationalen Ebene innerhalb des Währungsfonds und den Mitteln, die national notwendig werden in den Haushalten, etwa dadurch, daß bisherige Kredite erlassen werden. Was den Internationalen Währungsfonds angeht, so würde ich eine Finanzierung der dort notwendigen Mittel durch bilaterale Beiträge bevorzugen, und die Bundesbank hat dazu bereits vor längerer Zeit einen Vorschlag und ein Angebot – auch seitens der Bundesbank – gemacht. Wenn das nicht ausreicht - und es sieht so aus, daß das möglicherweise nicht ausreicht -, dann muß man sicher auch prüfen, ob der Goldbestand teilweise genutzt werden kann, und zwar in einem ganz kleinen Teil. Für die Bundesbank ist das keine Glaubensfrage, sondern eine Frage der ökonomischen Reaktion. Und hier würde ich sagen, daß wir eines beachten müssen: Jeder Goldverkauf drückt den Goldpreis tendenziell weiter nach unten, und davon werden ein Teil der ärmsten Länder besonders betroffen, weil sie Goldproduzenten sind . . .
DLF: . . . Südafrika zum Beispiel . . .
Tietmeyer: . . . ja, nicht nur Südafrika, sondern auch die ärmsten Länder in Afrika zum Teil und auch in anderen Teilen, so daß man sehr genau überlegen muß: Was ist eigentlich das richtige Maß. Und hier - will ich sagen -: Wenn es überhaupt zu Goldverkäufen kommen muß, dann sollte man es nur in sehr kleinen Dimensionen tun, und man sollte einen Teil zur Aufstockung der Reserven für den Internationalen Währungsfonds nutzen. Aber wie gesagt: Dies ist eine Entscheidung, die noch nicht ansteht. Nur – dieses sollte man nicht im Sinne einer ideologischen Position 'für oder gegen Goldverkäufe' grundsätzlich entscheiden, sondern dies sollte man so entscheiden, daß man die Wirkungen, die von Goldverkäufen ausgehen, daß man die sorgfältig einbezieht – und zwar die direkten Wirkungen und die indirekten Wirkungen. Und manchmal habe ich den Eindruck, daß die Diskussion sich nicht genügend im sachlichen Bereich bewegt.
DLF: Zum Schluß noch zur deutschen Innenpolitik. Es stehen auch hier Entscheidungen an, was Steuer, Renten und andere Politikfelder angeht. Sehen Sie die Bundesregierung auf dem richtigen Weg?
Tietmeyer: Es steht mir nicht an, die Bundesregierung zu zensieren, sondern das muß das Parlament, das müssen die politischen Instanzen sehen. Ich kann nur sagen: Für die Entwicklung in Deutschland ist es wichtig, bald Klarheit zu bekommen über die Entwicklung der Finanzen, der öffentlichen Finanzen, das heißt – der Haushalte. Und ich habe den Eindruck, daß der neue Finanzminister sich sehr darum bemüht, hier die notwendigen Einsparungen vorzunehmen und die Defizitlücke zu reduzieren. Und zweitens ist es notwendig, daß wir bald Klarheit darüber bekommen, wie das Steuersystem der Zukunft aussehen soll . . .
DLF: . . . 'bald' – würde was bedeuten, also nicht noch ein Jahr warten, so wie das die Bundesregierung überlegt? . . .
Tietmeyer: . . . ich glaube, es kommt nicht auf Tage oder Wochen an, sondern es kommt darauf an, daß bald Klarheit besteht. Das heißt nicht, daß alles in einem Schritt gemacht werden muß. Aber Klarheit ist wichtig, denn die Investoren entscheiden ja in Abschätzung der Bedingungen nicht des nächsten halben Jahres, sondern der nächsten Jahre. Und deswegen sollten sie Klarheit haben. Und lassen Sie mich noch hinzufügen: Ich glaube darüber hinaus – deswegen habe ich mit Interesse zur Kenntnis genommen, was der Bundeskanzler mit dem englischen Premierminister Blair als Erklärung vorgelegt hat – ich glaube darüber hinaus müssen wir auch unser gesamtes Sozialsystem überprüfen, inwieweit es dauerhaft finanzierbar ist, ohne den Arbeitsmarkt übermäßig zu belasten, und inwieweit es genügend Anreize schafft für neue Aktivitäten, für neue Jobs, für mehr Beschäftigung und weniger Anreize schafft, daß dieses nicht geschieht. Das scheint mir sehr wichtig zu sein.
DLF: Heißt das, Sie begrüßen das Papier, das Tony Blair und Gerhard Schröder vorgelegt haben?
Tietmeyer: Auch da will ich mich nicht zu jedem einzelnen Satz äußern, das ist nicht meine Sache. Aber die Grundrichtung scheint mir zu stimmen.
DLF: Ist Ihnen der Integrationswille, den man beobachten kann, auf dem politischen Parkett da ausreichend, oder sollte man noch mehr tun?
Tietmeyer: Ich glaube, daß Europa in einer Zwischenstation sich befindet. Europa muß sicher den Prozeß der politischen Integration weiter gehen. Wir sind im Währungsbereich jetzt für eine Reihe von Mitgliedsstaaten voranmarschiert, und ich hoffe, daß die politische Integration sich weiterentwickelt, denn wir müssen zwei Dinge beachten. Das eine ist: Wir müssen handlungsfähig nach draußen sein. Europa muß in der Lage sein – in den internationalen Organisationen schlechthin –, mitzureden. Und zum andern – was mindestens ebenso wichtig ist: Es muß der innere Zusammenhalt weiterentwickelt werden. Das heißt nicht den Aufbau eines Zentralstaates, das heißt nicht egalitäre Verhältnisse zwischen allen Ländern, sondern das heißt:, es muß entschieden werden: Was bedarf der Entscheidung auf der europäischen Integrationsebene, und was kann im nationalen Bereich weiter verbleiben. Entscheidend ist, daß die Wettbewerbsfähigkeit nach außen gesichert wird und daß im Innenverhältnis keine Spannungen entstehen. Und das heißt: Man muß sich auf den verstärkten Wettbewerb einstellen, der mit der Währungsunion im Innenverhältnis entstanden ist.
DLF: Es wird ja auch in diesem Zusammenhang oft von der Asymmetrie des Maastrichter Vertrages gesprochen, also davon, daß man zwar die Geldpolitik harmonisiert hat, integriert hat in Europa, aber die anderen Politikbereiche nicht. Ist das für die Währungsunion und für ihren Verlauf möglicherweise schädlich?
Tietmeyer: Wir haben mit dem Maastricht-Vertrag in der Tat einen neuen Weg begangen. Das heißt: Wir haben die Währungsintegration so weit entwickelt, daß dort supranational entschieden wird, während die übrigen Politikentscheidungen weitgehend auf der nationalen Ebene verblieben sind. Das ist dann kein Problem, wenn alle Teile der Europäischen Union tatsächlich wettbewerbsfähig sind und sich an die Regeln halten, die im Maastricht-Vertrag festgelegt sind.
DLF: Haben Sie daran Zweifel im Augenblick?
Tietmeyer: Nein, ich glaube, alle bemühen sich. Aber wir haben noch nicht hinreichend alles erreicht, und vor allem: Es kommt darauf an, daß man sich den neuen Herausforderungen stellen muß. Und es ist so, daß wir in Europa zum Beispiel eine Arbeitslosigkeit haben, die so auf Dauer nicht tolerabel ist. Wir müssen im Innenverhältnis und im Außenverhältnis wettbewerbsfähiger werden. Und insoweit kommt es darauf an, daß die richtige Politik betrieben wird. Weniger wichtig, als eine egalitäre gemeinsame Politik in allen Bereichen ist es, daß die Politik auf dem richtigen Wege ist und sich an die Regeln hält.
DLF: Sie haben einmal gesagt, daß die Währungsunion wie ein Korsett sein kann: Sie könne stützen, sie könne aber auch die Luft abschnüren. Unter welchen Bedingungen würden Sie sagen, daß sie eher letzteres tut?
Tietmeyer: Nein, es kommt entscheidend darauf an, daß die Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft gesichert ist. Das ist genau der entscheidende Punkt. Wenn ein Land oder große Teile der Union nicht in der Lage sind, im Wettbewerb mitzugehen, dann – in der Tat – kann die Währungsunion für sie ein abschnürendes Korsett werden. Abschnürend in der Weise, daß man eben die Geldpolitik als nationale Politik nicht mehr verfügbar hat und Wechselkursänderungen nicht mehr vornehmen kann. Man ist auf Gedeih und Verderb in diese Währungsunion eingebunden, dessen müssen sich alle Länder bewußt sein. Wir haben den Schritt gewagt, das war gut so und richtig so. Jetzt kommt es aber darauf an, daß auch die innere Flexibilität, die innere Beweglichkeit hinreichend entwickelt wird, um damit fertig zu werden. Ich sag’s noch mal deutlich: Die Währungsunion bietet große Chancen – nach außen wie nach innen –, wenn die Voraussetzungen stimmen. Aber damit die Voraussetzungen dauerhaft stimmen, müssen auch die Herausforderungen akzeptiert werden. Das gilt für die nationale Politik, das gilt für die Lohnpolitik, das gilt für die Unternehmensentscheidungen, das gilt für alle Bereiche, die die Ökonomie bestimmen.
DLF: Die Bundesbank hat im letzten Jahr, bevor die Teilnehmer für die Währungsunion ausgewählt wurden, ein Gutachten, eine Stellungnahme formuliert, und darin sind die beiden hochverschuldeten Länder Belgien und Italien angesprochen worden. Es hieß darin, daß sich diese Besorgnis nur ausräumen lasse, wenn zusätzliche Verpflichtungen verbindlich eingegangen würden. Wie beurteilen Sie diese Passage aus der Stellungnahme von damals im Lichte der Entscheidung, Italien nun mehr Spielraum zu geben, was die Neuverschuldung betrifft?
Tietmeyer: Also, ich will mich jetzt nicht zu einem Land besonders äußern, aber ich will darauf hinweisen, daß die damalige Stellungnahme, die Sie zu recht zitiert haben, sehr wohl auf die besondere Schuldensituation der beiden Länder abstellte. Zunächst einmal kann ich feststellen, daß doch beide Länder erhebliche Bemühungen unternehmen. Diese Bemühungen müssen aber fortgesetzt werden, und das ist nicht ein Thema, das man in einem halben Jahr oder in zwei oder in drei Monaten lösen kann, sondern es kommt darauf an, wie glaubwürdig und wie nachhaltig tatsächlich der Konsolidierungsprozeß in Gang gesetzt ist. Einige Länder, zu denen Italien gehört, haben ja schon von der Währungsunion einen erheblichen Vorteil bekommen, nämlich: Das Zinsniveau, das zuvor wesentlich höher war und das maßgebend war für die Bedienung der Staatsschulden, ist jetzt wesentlich niedriger; und das bedeutet auch, daß für die Bedienung der Schulden weniger Lasten anfallen. Und es kommt jetzt sehr darauf an, daß diese Begünstigung infolge der Währungsunion auch tatsächlich genutzt wird. Ich habe den Eindruck, daß die italienische Regierung sich sehr darum bemüht. Ich wünsche ihr dabei großen Erfolg im italienischen Interesse - aber auch vor allem in unserem eigenen und gemeinsamen Interesse.
DLF: Sie haben also nicht den Eindruck, daß die Glaubwürdigkeit des Konsolidierungsprozesses ein bißchen beschädigt worden ist durch diese Entscheidung?
Tietmeyer: Also ich glaube, das kann man nach so kurzer Zeit nicht sagen, das hängt gar nicht von Monaten ab, nein. Das hängt davon ab, wie in den nächsten Jahren tatsächlich der Prozeß läuft und wie die Länder sich bemühen. Das gilt bei uns übrigens genauso. Wir haben nicht in erster Linie das Problem des Schuldenstandes, aber wir haben andere Probleme. Wir haben die hohe Arbeitslosigkeit, wir haben die Strukturprobleme - die müssen bei uns adressiert werden. Dasselbe ist in einigen anderen Ländern der Fall, das ist in Frankreich der Fall, das ist in Spanien der Fall, das ist in anderen Ländern ebenso der Fall. Insofern – glaube ich – sollte man nicht mit dem Finger auf ein Land zeigen und sollte schon gar nicht aus einer Entscheidung, die zunächst ja nur ein Anerkennen einer besonderen Situation bedeutet, sollte man nicht falsche Schlußfolgerungen ziehen.
DLF: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt allerdings verlangt ausgeglichene Haushalte in einem bestimmten Zeitraum bis zum Jahr 2002. Sehen Sie denn – auch wenn Sie sich zu einem einzelnen Land nicht äußern wollen – sehen Sie denn die Chancen gleichwohl gewahrt, auch wenn inzwischen schon um ein bißchen Nachlaß gebeten worden ist?
Tietmeyer: Also, die Chancen sind zweifelsohne vorhanden. Es kommt jetzt darauf an, daß der Wille und die Fähigkeit, diese Probleme tatsächlich anzugehen, jetzt nicht nachläßt. Das ist einer der wichtigen Punkte. Und ich hoffe, daß die politisch Verantwortlichen in allen Ländern sich dieser Herausforderung voll bewußt sind. Der Präsident der Europäischen Zentralbank hat zu recht darauf hingewiesen: Die monetäre Politik hat nun wirklich alle Leistungen erbracht, die erbracht werden können. Wir haben das niedrigste Zinsniveau, das wir je gehabt haben in Europa. Wir haben niedrige Preis-Inflationsraten, wir haben also geradezu eine Stabilität des Preisniveaus. Das heißt, die Voraussetzungen von der monetären Seite - auch für Wachstum und Beschäftigung - sind gegeben. Jetzt kommt es entscheidend darauf an, daß auch die anderen Bereiche die Herausforderungen nicht nur für einen Tag anerkennen, nicht nur für eine Woche anerkennen, nicht nur für Monate anerkennen, nicht nur für ein Jahr anerkennen – sondern tatsächlich die Herausforderungen über die nächsten Jahre anerkennen. Und Sie haben zu recht darauf hingewiesen, daß der Stabilitäts- und Wachstumspakt vorsieht - über die mittlere Frist -, ausbalancierte oder ausgeglichene Haushalte zu haben, das heißt, die Defizite über die mittlere Sicht herunterzufahren oder gar in Überschuß zu geraten für die Länder, die einen extrem hohen Schuldenstand haben. Ich habe den Eindruck, daß die Länder sich bemühen, aber sie dürfen in ihrem Bemühen nicht nachlassen.
DLF: Was wäre, wenn sie nachließen?
Tietmeyer: Dann könnte es Spannungen geben, vor allen Dingen zwischen den Ländern. Und das ist sehr wichtig, denn das würde ja bedeuten, daß dann ein Land beispielsweise in der Fiskalkalpolitik expansiver fährt als das andere. Und das würde bedeuten, daß die Kapitalmärkte unterschiedlich in Anspruch genommen werden. Das würde bedeuten, daß damit möglicherweise das Zinsniveau an den Kapitalmärkten nicht so günstig sein kann, wie es wäre, wenn alle sich vernünftig verhalten würden. Das ist das eine. Das übrige ist, daß – wenn die Länder nicht in ihrem eigenen Interesse die Probleme adressieren – daß dann auch die Gefahr ist, daß dann sie in Konflikt mit der monetären Politik geraten, und zwar in Konflikt in dem jeweiligen Land. Das heißt, daß dann die Menschen sagen: 'Ja, hier muß aber die monetäre Politik expansiver werden, weil wir in den andern Bereichen offenbar die Voraussetzungen nicht haben'. Insofern will ich noch einmal sagen: Es kommt darauf an, daß – in der Tat – die Balance zwischen den verschiedenen Bereichen der Politik stimmt, und daß in allen Ländern die Bemühungen tatsächlich ausreichen, denn sonst könnte es Konflikte geben zwischen den Ländern und dann könnten die Chancen des weiteren Wachstums und der Beschäftigungsverbesserung geringer werden. Und das darf nicht sein, denn das könnten dann die Menschen möglicherweise der Währungsunion zulasten, was aber eine falsche Zulastung wäre.
DLF: An den Devisenmärkten ist argumentiert worden, als der Außenwert des Euro zurückging, daß es natürlich ein Kosovo-Kriegseffekt war, daß es auch ein Unterschied in den Konjunkturen Europa – USA war, aber daß es auch möglicherweise die Politik der Europäischen Zentralbank war, die – wie einige Händler sagten – nicht eindeutig genug den Euro verteidigt habe, verbal verteidigt habe. Teilen Sie diese Kritik, oder sehen Sie die Unterstützung von dieser Seite ausreichend?
Tietmeyer: Also, von der verbalen Verteidigung möchte ich nicht ausgehen, sondern es kommt entscheidend auf die Substanz an. Und wenn man sich die Substanz ansieht, dann kann man nur feststellen: Erstens – wir haben ein niedriges Preisniveau, wie wir es noch nie gehabt haben in der Nachkriegszeit in allen Ländern, wir haben niedrige Zinsen, wie wir sie noch nicht gehabt haben, nicht nur die Notenbankzinsen, sondern – und das ist sehr wichtig für die Glaubwürdigkeit – auch die Langfristzinsen, das heißt, Fünf- bis Zehnjahreszinsen sind so niedrig, wie sie - selbst in der Bundesrepublik - zuvor nie waren. Und das zeigt, daß die Märkte offenbar Vertrauen in die Geldwertstabilität haben. Ein Problem ist zweifelsohne, daß der Wechselkurs zur gleichen Zeit nachgelassen hat, aber das hängt zusammen mit den ökonomischen Divergenzen, die wir gegenwärtig zwischen USA und Europa haben, das hängt mit den politischen Vorgängen, die Sie angesprochen haben, mit der Kosovoentwicklung zusammen. Aber erfreulicherweise hat sich ja auch schon gezeigt, daß die Entlastung von der Kosovoseite jetzt auch an den Märkten zu einer gewissen Entlastung geführt hat.
DLF: Wird das eine nachhaltige Entlastung sein?
Tietmeyer: Allein wird das nicht entscheidend sein. Es kommt darauf an, daß die Politik die Stabilität über eine längere Frist intern sichert. Wenn dieses intern gesichert wird, dann – in der Tat – wird auch der Wechselkurs nach meiner festen Überzeugung über die Zeit hinweg stärker werden. Daß der Wechselkurs auf unterschiedlich ökonomische Situationen reflektiert und entsprechend sich bewegt, das ist ganz natürlich, das hat es übrigens auch der DM gegenüber gegeben. Aber ich will durchaus nicht einer Politik des Vernachlässigens des Wechselkurses das Wort reden. Nein, der Wechselkurs ist für uns ein Element. Ein zu weit abrutschender Wechselkurs kann negative Effekte auf die Inflationsrate intern auf Dauer haben. Nur bisher ist das eindeutig nicht der Fall und bisher würde ich die derzeitige Situation nicht als - für die Inflationsentwicklung - gefährlich ansehen. Wichtig ist aber, daß wir den Wert des Euro – daß der auch sich allmählich in der Welt durchsetzt, das heißt, allmählich eine entsprechende Reputation an den Märkten gewinnt. Ich wiederhole aber: Erstens – der Euro hat ein – wie ich glaube – erhebliches Aufwertungspotential, und es könnte sehr wohl sein, daß wir im Laufe dieses Jahres mit einer anderen extremen Entwicklung konfrontiert werden: Daß der Wechselkurs plötzlich anders bewertet wird. Wenn in Europa die Dinge weiter gut gehändelt werden, dann glaube ich in der Tat, daß das zu einer allmählichen verbesserten Bewertung auch im Außenverhältnis führt. Aber ich sage noch einmal: Es kommt darauf an, daß wir in Europa die Herausforderungen auch akzeptieren. Mit verbalen Interventionen kann man die Situation klarstellen, aber letztlich sind verbale Interventionen nicht entscheidend. Man kann darüber reden, ob jede Aussage, die bisher getroffen worden ist, der Weisheit letzter Schluß war, das lasse ich mal so stehen. Aber entscheidend ist, daß wir Vertrauen aufbauen. Und ich bin fest überzeugt, daß uns das gelingen wird, wenn wir die Politik innerhalb Europas auf den richtigen Kurs bekommen.
DLF: Mit welcher konjunkturellen Entwicklung rechnen Sie?
Tietmeyer: Zunächst einmal glaube ich, daß in den meisten europäischen Ländern der Tiefpunkt hinter uns liegt, wobei wir allerdings sehen müssen, daß in den Euro-Ländern die konjunkturelle Lage schon unterschiedlich war zu Beginn. Ich glaube, daß wir jetzt feststellen können – jedenfalls darauf deuten die Indikatoren hin –, daß die schwächste Entwicklung im Euro-Raum allmählich erreicht ist und wir jetzt in eine allmähliche Aufwärtsbewegung hineinkommen. Das mag von Land zu Land ein bißchen unterschiedlich sein, aber insgesamt – glaube ich – kommen wir jetzt in eine Aufwärtsbewegung hinein. Es kommt nur darauf an, daß diese Aufwärtsbewegung – das hängt entscheidend von den Politiken ab – die genügende innere Dynamik gewinnt, denn Europa braucht eine eigendynamische Entwicklung, weil wir nicht davon ausgehen können, daß die 'Weltlokomotive' USA nun immer und auf längere Sicht allein die Weltwirtschaft bewegen kann. Wir haben die ersten Signale, daß selbst Japan jetzt etwas sich nach oben bewegt. Ich hoffe, daß das nicht nur eine kurzfristige Verbesserung ist, sondern eine dauerhafte Verbesserung ist. Insofern muß man die gesamte Weltwirtschaft im Blick haben, aber Europa – glaube ich – ist in einer Situation, daß es allmählich wieder in eine Anstiegsphase hineinkommt.
DLF: Könnte das eine konjunkturelle Entwicklung sein, die auch in diesem Jahr noch eine Zinserhöhung denkbar machen könnte?
Tietmeyer: Also, ich sehe nicht das Element der Zinserhöhung in nächster Zeit vor uns stehen, aber es ist ja die Aufgabe der Europäischen Zentralbank – und das heißt des Europäischen Zentralbankrates, dem ich angehöre – dieses alle 14 Tage zu prüfen. Nur – im Augenblick sehe ich das nicht am Horizont.
DLF: Es wird in den kommenden Tagen auch auf dem anstehenden internationalen Treffen auch über die Goldreserven gesprochen werden. Welche Haltung nimmt die Bundesbank dazu ein, Herr Tietmeyer?
Tietmeyer: Also zunächst einmal geht es ja beim Gipfel darum, wie man eine Entschuldung der überschuldeten armen Länder erreichen kann, und zwar so, daß diese Länder davon auch nachhaltigen Vorteil haben. Es nützt nichts, Schulden zu streichen, wenn dieses nur etwa – jetzt sage ich mal – bestimmten Gruppierungen innerhalb der Länder zugute kommt. Und es nützt überhaupt nichts, wenn dann am nächsten Tag alles weitergeht, wie bisher, sondern es muß auch der Beginn einer neuen Entwicklung sein. Und deswegen ist das Element der Konditionalität so wichtig. Die bisherigen Vorbereitungen laufen ja darauf hin, daß erst im Herbst im Internationalen Währungsfonds endgültig entschieden wird. Auf dem G-7-Gipfel und den vorbereitenden Treffen wird wohl nur über die allgemeine Richtung gesprochen werden: Die Größe des Nachlasses, die Kriterien, welche Länder könnten in Frage kommen und woher kommen die Mittel. Und dabei muß man unterscheiden zwischen den Mitteln, die notwendig sind auf der supranationalen Ebene innerhalb des Währungsfonds und den Mitteln, die national notwendig werden in den Haushalten, etwa dadurch, daß bisherige Kredite erlassen werden. Was den Internationalen Währungsfonds angeht, so würde ich eine Finanzierung der dort notwendigen Mittel durch bilaterale Beiträge bevorzugen, und die Bundesbank hat dazu bereits vor längerer Zeit einen Vorschlag und ein Angebot – auch seitens der Bundesbank – gemacht. Wenn das nicht ausreicht - und es sieht so aus, daß das möglicherweise nicht ausreicht -, dann muß man sicher auch prüfen, ob der Goldbestand teilweise genutzt werden kann, und zwar in einem ganz kleinen Teil. Für die Bundesbank ist das keine Glaubensfrage, sondern eine Frage der ökonomischen Reaktion. Und hier würde ich sagen, daß wir eines beachten müssen: Jeder Goldverkauf drückt den Goldpreis tendenziell weiter nach unten, und davon werden ein Teil der ärmsten Länder besonders betroffen, weil sie Goldproduzenten sind . . .
DLF: . . . Südafrika zum Beispiel . . .
Tietmeyer: . . . ja, nicht nur Südafrika, sondern auch die ärmsten Länder in Afrika zum Teil und auch in anderen Teilen, so daß man sehr genau überlegen muß: Was ist eigentlich das richtige Maß. Und hier - will ich sagen -: Wenn es überhaupt zu Goldverkäufen kommen muß, dann sollte man es nur in sehr kleinen Dimensionen tun, und man sollte einen Teil zur Aufstockung der Reserven für den Internationalen Währungsfonds nutzen. Aber wie gesagt: Dies ist eine Entscheidung, die noch nicht ansteht. Nur – dieses sollte man nicht im Sinne einer ideologischen Position 'für oder gegen Goldverkäufe' grundsätzlich entscheiden, sondern dies sollte man so entscheiden, daß man die Wirkungen, die von Goldverkäufen ausgehen, daß man die sorgfältig einbezieht – und zwar die direkten Wirkungen und die indirekten Wirkungen. Und manchmal habe ich den Eindruck, daß die Diskussion sich nicht genügend im sachlichen Bereich bewegt.
DLF: Zum Schluß noch zur deutschen Innenpolitik. Es stehen auch hier Entscheidungen an, was Steuer, Renten und andere Politikfelder angeht. Sehen Sie die Bundesregierung auf dem richtigen Weg?
Tietmeyer: Es steht mir nicht an, die Bundesregierung zu zensieren, sondern das muß das Parlament, das müssen die politischen Instanzen sehen. Ich kann nur sagen: Für die Entwicklung in Deutschland ist es wichtig, bald Klarheit zu bekommen über die Entwicklung der Finanzen, der öffentlichen Finanzen, das heißt – der Haushalte. Und ich habe den Eindruck, daß der neue Finanzminister sich sehr darum bemüht, hier die notwendigen Einsparungen vorzunehmen und die Defizitlücke zu reduzieren. Und zweitens ist es notwendig, daß wir bald Klarheit darüber bekommen, wie das Steuersystem der Zukunft aussehen soll . . .
DLF: . . . 'bald' – würde was bedeuten, also nicht noch ein Jahr warten, so wie das die Bundesregierung überlegt? . . .
Tietmeyer: . . . ich glaube, es kommt nicht auf Tage oder Wochen an, sondern es kommt darauf an, daß bald Klarheit besteht. Das heißt nicht, daß alles in einem Schritt gemacht werden muß. Aber Klarheit ist wichtig, denn die Investoren entscheiden ja in Abschätzung der Bedingungen nicht des nächsten halben Jahres, sondern der nächsten Jahre. Und deswegen sollten sie Klarheit haben. Und lassen Sie mich noch hinzufügen: Ich glaube darüber hinaus – deswegen habe ich mit Interesse zur Kenntnis genommen, was der Bundeskanzler mit dem englischen Premierminister Blair als Erklärung vorgelegt hat – ich glaube darüber hinaus müssen wir auch unser gesamtes Sozialsystem überprüfen, inwieweit es dauerhaft finanzierbar ist, ohne den Arbeitsmarkt übermäßig zu belasten, und inwieweit es genügend Anreize schafft für neue Aktivitäten, für neue Jobs, für mehr Beschäftigung und weniger Anreize schafft, daß dieses nicht geschieht. Das scheint mir sehr wichtig zu sein.
DLF: Heißt das, Sie begrüßen das Papier, das Tony Blair und Gerhard Schröder vorgelegt haben?
Tietmeyer: Auch da will ich mich nicht zu jedem einzelnen Satz äußern, das ist nicht meine Sache. Aber die Grundrichtung scheint mir zu stimmen.