Samstag, 20. April 2024

Archiv

Timothy Garton Ash über Redefreiheit
"Wir sollten uns ein dickeres Fell zulegen"

Die schnelle Verbreitung von Nachrichten durch das Internet hat viele positive Aspekte, provoziert aber auch kulturelle und politische Konflikte. Timothy Garton Ash hat mit seinem Buch "Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt" nun eine Debatte über die Meinungsfreiheit angestoßen, die längst überfällig war.

Von Christoph Sterz | 26.09.2016
    Der Historiker Timothy Garton Ash.
    Der Historiker Timothy Garton Ash lehnt in eine Regulierung der Meinungsfreiheit im Internet entschieden ab. "Es darf keine Grenzen geben", sagt er in seinem Buch. (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
    Egal ob über Facebook, Snapchat, Instagram oder Twitter, über Fernsehen, Radio oder die klassische Tageszeitung: Wir Menschen brauchen Platz, um uns ausdrücken, um unsere Meinung sagen zu können, um uns zu informieren. Und für all das brauchen wir Meinungsfreiheit.
    "Sie hilft uns dabei, mit Vielfalt umzugehen, mit einer immer diverseren Welt, in der alle mit allen verbunden sind. Wie sollten wir vernünftige politische Entscheidungen treffen, wenn wir nicht alle Fakten kennen? Und es gibt noch ein wichtiges Argument: Redefreiheit hilft uns beim Suchen und Streben nach der Wahrheit."
    "Das Netz bringt uns nicht nur Vorteile"
    Was der britische Historiker Timothy Garton Ash da in einer BBC-4-Serie zur Redefreiheit sagt, das geht zurück auf jahrelange Beschäftigung mit diesem Thema. Dabei ist Garton Ash auf eine enorme Zahl an Problemen gestoßen, die er in seinem aktuellen Buch ausführlich beschreibt – und mit denen er klarmacht, dass das Netz uns nicht nur Vorteile bringt.
    "Es erschwert es, etwas für sich zu behalten. (…) Wenn ein Staat oder ein Unternehmen alles weiß, was wir irgendeinem Menschen gegenüber je geäußert haben, sind wir weniger frei. Dabei sind sogar Dinge mit eingeschlossen, die wir gar nicht ausdrücklich sagen, sondern durch unsere Suchgeschichten im Internet enthüllen. Schon wenn wir nur fürchten, dass irgendein staatlicher oder konzerngesteuerter großer Bruder wissen könnte, was wir privat äußern, sprechen wir weniger frei."
    Ash unterteilt unsere Welt in drei Spezies
    Das liegt nach Ansicht von Garton Ash daran, dass unsere Welt wie eine Großstadt funktioniert. In dieser Großstadt identifiziert Garton Ash auf sehr unterhaltsame Art und Weise drei Spezies, die um die Wortmacht ringen: Hunde, Katzen und Mäuse. Hunde sind für ihn Staaten, und die waren lange Zeit am mächtigsten, vor allem die USA, als größter Hund. Katzen wiederum sind für Garton Ash die großen internationalen Medienkonzerne. Und dann sind da noch die Mäuse – das sind wir normalen Bürger. Wir Mäuse sind eigentlich ganz klein, können aber trotzdem Gehör finden. Allerdings nur, wenn die Katzen, die großen Medienkonzerne uns lassen. Wann sie uns lassen, das ist jedoch weder nachvollziehbar noch geschieht es transparent.
    "In allen Ländern der Welt blockiert Facebook Nacktbilder, wenn sie gemeldet werden. Diverse grausige Videos, die zeigen, wie Menschen in Syrien geköpft werden, sind auf Facebook vermutlich ebenfalls blockiert, aber auf YouTube zu sehen, wenn deren »Entscheider« ihnen einen Nachrichtenwert zubilligen. Wer mit den Verantwortlichen bei YouTube und Facebook redet, stellt fest, dass die Entscheidungen wohlüberlegt getroffen werden. Dennoch handelt es sich um intransparente redaktionelle Entscheidungen privater amerikanischer Supermächte, die keiner Rechenschaft unterliegen."
    "Wir sollten uns von Gewalt nicht einschüchtern lassen"
    Timothy Garton Ash lehnt diese unkontrollierte und unbeschränkte Einflussnahme ab. Und auch ganz grundsätzlich ist er dagegen, all das zu regulieren und zu verbieten, was vielen von uns missfällt. Stattdessen stellt er sehr reflektierte und gleichzeitig alltagsnahe Überlegungen an.
    "Wenn wir die Konfrontation mit etwas Anstößigem im öffentlichen Raum oder in einem Bus nicht vermeiden können, haben wir die Möglichkeit, es entweder zu ignorieren oder uns verbal dagegen zu wehren, wobei wir freilich die Anwendung von Gewalt stets vermeiden sollten. Statt immer dünnhäutiger zu werden, können wir, angefangen bei uns selbst, alle ermutigen, sich ein dickeres Fell zuzulegen."
    Und das gilt auch und gerade für Extremisten, die nach Ansicht von Garton Ash viel zu viel Aufmerksamkeit von uns bekommen; die es also schaffen, öffentlichkeitswirksam ein Veto einzulegen. Das Veto des Mörders, wie Garton Ash es im Buch genau wie in seiner BBC-Sendung nennt.
    "Das Prinzip, das ich dafür vorschlage, ist folgendes: Wir wenden selbst keine Gewalt an – und wir lassen uns von Gewalt auch nicht einschüchtern. Jedes einzelne Mal, an dem wir uns einschüchtern lassen – und das passiert viel zu oft – jedes einzelne Mal motivieren wir damit Fanatiker, das Veto des Mörders zu nutzen."
    Die Stimmung im Netz ist vergiftet, doch Ash argumentiert gegen eine Regulierung
    Der Historiker stellt ausführlich und überzeugend dar, warum er trotz der zunehmend vergifteten Stimmung im Netz gegen starke Regulierung ist. Wer zu Gewalt aufrufe, durch sein Reden das Leben anderer gefährde, müsse juristisch belangt werden. Aber wer einfach nur Hass verbreite, der müsse anders, nämlich gesellschaftlich sanktioniert werden.
    "Wer (…) bei einem privaten Essen einen Witz mit rassistischem Beigeschmack erzählt, sollte eine kühle Reaktion oder scharfe Zurechtweisung erfahren. Auch wenn nicht die Polizei morgens um fünf Uhr an die Tür klopft, kann dies eine Beschränkung sein, und zwar eine besonders erstrebenswerte. Nur so lernen wir, auf dem Ozean der freien Rede zu navigieren: Indem wir mit dem Boot hinausfahren, wo wir kabbeliger See, widrigen Winden und anderen Booten begegnen."
    "Wir müssen in der Lage sein unsere Meinung frei zu äußern, ohne Rücksicht auf Grenzen"
    Das allerdings ist ein Punkt, der zumindest mit der Netz-Realität kaum Stand hält. Denn dass sich rassistische Social-Media-Trolle zurückhalten, weil sie kritisiert werden, das kommt selten vor. Wobei es in der Tat keinen einzigen Troll mehr geben würde, wenn sich jeder an die zehn Redefreiheits-Prinzipien halten würde, die Timothy Garton Ash im Verlauf seines Buchs vorschlägt. Der bereits erwähnten Ablehnung von Gewalt, dem größtmöglichen Verzicht auf Tabuthemen und dem Verbot von tatsächlicher Diskriminierung stellt Garton Ash dabei ein unverzichtbares Grundprinzip voran.
    "Wir – alle Menschen – müssen in der Lage und befähigt sein, frei unsere Meinung zu äußern und ohne Rücksicht auf Grenzen, Informationen und Ideen zu suchen, zu empfangen und mitzuteilen."
    Dazu kommt der Wunsch nach vertrauenswürdigen und unzensierten Medien. Außerdem plädiert Garton Ash für robuste Zivilität, also Benehmen und Höflichkeit – und dafür, auch über Religion sprechen zu dürfen. Man muss Garton Ash in diesem und anderen Punkten nicht zustimmen, aber sein sehr lesenswertes, mit zahlreichen spannenden Beispielen gespicktes Buch ist ein wertvoller Beitrag zu einer dringend zu führenden Debatte. Einer Debatte, die jeden Einzelnen etwas angeht, weil wir Mäuse sonst den Hunden, den Katzen oder den anderen, böswilligen Mäusen das Feld überlassen und unsere Redefreiheit dadurch aufs Spiel setzen. Dass die aber gerade in Zeiten kompletter Vernetzung unerlässlich ist, mindestens das bleibt ein für alle Mal hängen, nach der Lektüre von Garton Ashs Buch über die Redefreiheit.
    "Wir werden uns niemals alle einig sein, und das wäre auch nicht gut. Doch wir müssen uns darum bemühen, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir uns darüber einig sind, wie wir uneinig sind."
    Timothy Garton Ash: "Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt", Hanser Verlag, 688 Seiten, 28 Euro