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Tobias Lehmkuhl: "Nico. Biografie eines Rätsels"
Wie eine Galionsfigur auf dem Bug eines Wikingerschiffes

Das Besondere an Christa Päffgen alias Nico sei gewesen, dass sie es in den 1960er-Jahren geschafft habe, selbstbestimmt zu bleiben, sagte Biograf Tobias Lehmkuhl im Dlf. Aus eigener Kraft sei ihr eine Solokarriere mit eigenen Songs gelungen: zu dieser Zeit extrem ungewöhnlich, aber stilbildend für nachfolgende Frauen.

Tobias Lehmkuhl im Gespräch mit Angela Gutzeit |
    Sängerin und Model Nico, 1965.
    Von der teutonischen Blondine zum Vorbild für Gothic und Dark Wave: die im Oktober 1938 in Köln geborene Christa Päffgen alias Nico (Imago/United Archives International)
    Angela Gutzeit: Vorher schon ein international begehrtes Modell, wurde die blonde Schönheit, die sich Nico nannte, nicht zuletzt durch Warhols Factory in New York als Sängerin zu einem neuen Typus des weiblichen Superstars. Lou Reed von der Rockband "The Velvet Underground" schrieb für sie den Song "I'll be your mirror", der sich noch recht konventionell anhört, denkt man an ihre spätere Solokarriere. Der Journalist Tobias Lehmkuhl, der als Kritiker unter anderem auch für unseren "Büchermarkt" tätig ist, hat mit seinem Buch "Nico" die erste deutschsprachige Biografie dieser Ausnahmekünstlerin vorgelegt. Der Untertitel lautet, wie schon erwähnt, "Biographie eines Rätsels". Ich habe mit Tobias Lehmkuhl gesprochen und zuerst gefragt, ob auch für ihn die Rätsel, die Nicos kometenhaften Aufstieg begleiten, eine Herausforderung darstellten.
    Tobias Lehmkuhl: Das ist schön, dass Sie gleich den Plural benutzen! Es gibt ja tatsächlich viele Rätsel in ihrem Leben, angefangen damit, dass sie geworden ist, was sie geworden ist, und zwar aus einer Kindheit heraus, in der es überhaupt angelegt war. Sie war die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, ist im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen unter schwierigen Bedingungen und ist dann, ja, entdeckt worden zufällig, Mitte der 50er-Jahre, aufgrund ihrer Schönheit, als Model, vom KaDeWe. Und hat dann trotzdem einen doch überraschenden, spektakulären Weg genommen, über Paris, über Rom und Fellini zu Andy Warhol und zu einer eigenen Solokarriere. Das war überhaupt nicht abzusehen und das war auch damals ziemlich einzigartig. Also das ist ein Grund für meinen Faszination, dass es eigentlich keine vergleichbare internationale Karriere zu der von Nico gab.
    Gutzeit: Wir bleiben mal noch einen Moment bei dieser frühen Nico. Das ist ja auch eigentlich, muss man sagen, der vagste Teil Ihres Buches, diese frühe Zeit, die ja im Grunde genommen bis zu ihrem 15. oder 16. Lebensjahr ging, und dann hatte sie im Grunde genommen Deutschland schon verlassen. Und diese erste Phase ist recht spekulativ, sagen wir mal so. Wir bleiben mal im Moment dabei, dass sie zum Beispiel von der Berliner Ruinenlandschaft der Nachkriegszeit – sie hatte ja auch in Berlin gelebt – geprägt wurde, wenn nicht traumatisiert gewesen sei, damit spielen Sie ja auch so ein bisschen in dem Buch. Dann dass sie behauptete, sie wäre von einem schwarzen Soldaten vergewaltigt worden, und auch irgendwie was mit jüdischer Herkunft, da war schon mal die Rede davon, was offensichtlich nicht stimmte. Ich habe mir überlegt: Vielleicht wollte Nico ja gar keine Deutsche sein, vielleicht hat sie dieses Deutschsein auch abgelegt, stimmt das?
    Den deutschen Akzent gepflegt
    Lehmkuhl: Ja, dann gibt es wieder die andere Seite, wo sie das "Deutschlandlied" singt vor großem Publikum, und zwar alle Strophen. Sie hat mit ihrer deutschen Herkunft auch gespielt, sie hat die auch häufig in den Vordergrund geschoben, sie hat auch ihren extrem starken deutschen Akzent immer gepflegt, das hat sie nicht abgelegt, den hätte sie sicherlich leichter Hand ablegen können, sie hat ja seit 1960 ungefähr nur noch in Amerika gelebt oder im anderssprachigen Umfeld, aber sie hat ihn weitergepflegt, das gehörte zu ihr. Und natürlich, Nico ist eine Herausforderung an jeden Biografen, weil die Fakten gerade dieser Kindheit und Jugend sehr ungesichert sind beziehungsweise es kaum Material gibt. Ich habe noch mit Verwandten sprechen können, mit den wenigen, die es gibt, aber für mich war tatsächlich – das habe ich auch so beschrieben – diese Zeit vor allen Dingen von 45 bis 55 so ein Verpuppungsstadium. Da gibt es verschiedene Hinweise, die sie gibt, aber man kann eigentlich nichts Genaues wissen. Und jetzt muss ich noch sagen, das empfand ich gar nicht wirklich als schlimm, weil es mir in erster Linie eigentlich darum ging, nicht eine Nico-Biografie von eins zu eins zu erzählen, sondern Nico in ihrer Zeit aufscheinen zu lassen, also vor allen Dingen auch das Drumherum deutlich zu machen.
    Gutzeit: Und sie vielleicht auch einfach als Sphinx, wie sie sein wollte, zu lassen, das kann man ja auch sagen.
    Lehmkuhl: Ja.
    Gutzeit: Tobias Lehmkuhl, schauen wir mal auf ihre Lebensstationen, die ja im Buch so spannend in Vor- und Rückblenden dargestellt werden! Ein Leben, kann man sagen, wie ein Roman: erstes deutsches international erfolgreiches Supermodel, mit Anfang 20 nicht ganz so erfolgreicher Versuch als Schauspielerin, unter anderem eine kleine Rolle in Fellinis "La dolce vita", mit etwa 20 oder Mitte 20 weiblicher Superstar in Andy Warhols "Factory". Und hier begann sie mit ihrer Gesangskarriere, zunächst mit der Gruppe "Velvet Underground", dann solo, 1966 wurde sie zum Popgirl des Jahres gewählt – ich muss jetzt einfach mal diesen Schnelldurchlauf machen –, mit 49 Jahren war sie tot. Nicht zuletzt das Heroin hatte sie ja ruiniert, wenn es auch nicht der Grund für ihren Tod war.
    Lehmkuhl: Ja.
    Eine besondere, auffällige, ungewöhnliche Stimme
    Gutzeit: Diese Nico konnte weder gut schauspielern, sage ich einfach mal so, nachdem ich Ihr Buch gelesen habe, noch besonders gut singen, nachdem ich mir jetzt noch mal etliches angehört habe. Was also machte sie in den 60er-Jahren so einzigartig? Versuchen Sie, das mal auf den Punkt zu bringen!
    Lehmkuhl: Ja, ich muss jetzt gleich einhaken: Gut singen in einem klassischen Sinne können ja die wenigsten Popmusiker und -musikerinnen. Es geht ja nicht um Schönheit und Reinheit des Klangs, sondern es geht darum, einen besonderen, eigenen Charakter auszustellen. Und der …
    Gutzeit: Na gut, aber wenn ich mir jetzt den Jim Morrison angehört habe, da muss ich sagen, der hat einfach eine tolle Stimme. Das einfach, ja?
    Lehmkuhl: Genau. Und Nico hat keine tolle Stimme, sie hat nur eine sehr besondere, auffällige, ungewöhnliche Stimme. Sie war ja eigentlich keine erfolgreiche Sängerin, sie hat mehrere beeindruckende Alben gemacht, aber sie hatte nie den kommerziellen Erfolg, den viele andere hatten. Sie hatte Einfluss, aber war nicht wirklich erfolgreich als Sängerin. Warum sie jetzt aber – um auf Ihre Frage zurückzukommen – in den 60er-Jahren so in die Höhe geschossen ist, das lag, ja, das muss man … Das ist ganz platt wahrscheinlich, es lag an ihrem Äußeren. Sie hatte ein ungewöhnliches Aussehen, ein ungewöhnliches Auftreten, sie hatte dieses Sphinxhafte auch in ihrem Auftreten und sie hat einfach extrem viele Männer fasziniert, angefangen von Musikern wie Bob Dylan, Jim Morrison erwähnten Sie, Brian Jones, oder sie soll auch mit Jimi Hendrix ins Bett gegangen sein und mit mehreren Dutzend anderer Rockgrößen der Zeit. Sie hat die alle schlicht umgehauen, inklusive solcher Männer wie Andy Warhol, die eigentlich jetzt nicht auf Frauen stehen. Aber bei Andy Warhol passte sie ins Bild, das war genau die Frau, die er gebrauchen konnte, der Typ, den er haben wollte für seine Musik, also für die von ihm promotete Band "The Velvet Underground", aber auch für seine Filme. Diese Filme von Andy Warhol sind heute nicht mehr so bekannt, aber die haben damals einen ungeheuren Einfluss gehabt. Andy Warhol war einfach das Zentrum der Weltkunst, es gab nichts Wichtigeres in der Kunst als die "Factory" in New York, in Manhattan. Und Andy Warhol selbst sagte einmal, Nico war wie so eine Galionsfigur, die auf dem Bug eines Wikingerschiffes über den Atlantik gekommen ist, und genauso hat er sie auch eingesetzt und ausgestellt. Und das war wiederum, wenn ich das noch gerade anfügen darf, das Tolle und Besondere auch an Nico, dass sie sich nicht darauf verlassen hat, dass sie trotzdem ihren eigenen Weg gegangen ist und sich nicht auch auf ihrem Ruhm ausgeruht hat.
    Radikal neu erfunden
    Gutzeit: Genau, da wollte ich auch eigentlich einhaken, weil ich gedacht habe, Sie bleiben jetzt bei der Schönheit stecken! Also was machte sie in den 60er-Jahren so einzigartig, war eigentlich meine Frage auch gewesen. Sie hatte sich ja im Grunde genommen in den 60er-Jahren radikal neu erfunden, wenn ich das jetzt richtig sehe.
    Lehmkuhl: Ja.
    Gutzeit: Also musikalisch, wie aber auch ihre Erscheinung betreffend. Also weg vom blonden Modepüppchen und bloßen Blickfang der Gruppe "Velvet Underground", weg vom süßlichen Pop und hin zur dunkel dräuenden Solosängerin am Harmonium. Das ist ja eine fulminante musikalische Veränderung, und wir hören mal kurz hinein in den Song "Janitor of Lunacy".
    Gutzeit: Ja, Tobias Lehmkuhl, "Janitor of Lunacy" von Nico. Welche Einflüsse, die auch in der Zeit dieser wilden 60er-Jahre begründet liegen, waren denn für diesen fulminanten Wandel maßgeblich? Sie erwähnen ja einiges wie Philosophie, Literatur, ich frage jetzt auch noch Vietnam-Krieg, politisch war sie ja wohl nicht besonders, …
    Lehmkuhl: Nein.
    Unpolitisch aber belesen
    Gutzeit: … aber durchaus belesen und sie hatte ja nur sieben Schuljahre hinter sich, aber hat da in der Hinsicht doch eine enorme Entwicklung genommen!
    Lehmkuhl: Ich glaube, entscheidend für diese Solokarriere, also für ihre Entscheidung, es auf ihre eigene Weise als Künstlerin zu versuchen, war die Begegnung mit Jim Morrison, weil Jim Morrison derjenige war, der ihr sagte, du musst deine eigenen Songs schreiben. Und das hat nie zuvor irgendein Mann zu irgendeiner Frau gesagt. Und Nico hat das sofort sich zu Herzen genommen und hat von da aus angefangen, ihre eigene Musik zu machen, also selber sich dieses Harmonium beizubringen, sie spielte ja häufig auf so einem alten indischen Harmonium, und ihre eigenen Songs zu schreiben. Das heißt, sie hatte auch dann immer ein Notizbuch dabei und hat Ideen notiert. Und das war damals schon extrem ungewöhnlich, dass eine Frau aus eigener Kraft eine Solokarriere mit eigenen Stücken auch noch anstrebte. Das war, denke ich, die entscheidende Begegnung für Nico als Künstlerin, obwohl sie natürlich vorher schon zehn Jahre lang nur mit Künstlern zu tun gehabt hat, mit bildenden Künstlern, mit Literaten, mit Regisseuren. Da war es natürlich, dass sie auch Künstlerin werden wollte, aber dass sie eine solche besondere Künstlerin geworden ist, das, muss man sagen, war wohl das Verdienst von Jim Morrison.
    Gutzeit: Von den "Doors".
    Lehmkuhl: Von den "Doors".
    Gutzeit: Sie stellen in Ihrem Buch wiederholt die wichtige Frage: Was bedeutete es, Mitte der 60er-Jahre eine Frau zu sein? Das werden wir hier jetzt sicherlich nicht erschöpfend beantworten können, wohl aber die Frage: Was bedeutete es, Mitte der 60er-Jahre eine eigenständige Künstlerin in der drogenberauschten, männlich dominierten Pop-und-Rock-Welt zu sein? Der Preis war ja immens hoch, nicht wahr?
    Lehmkuhl: Ja. Wir hatten es vorhin nicht ganz zu Ende geführt, natürlich zu ihrem Imagewandel, zu ihrer Entwicklung als eigenständige Künstlerin zählt auch, dass sie sich äußerlich verändert hat. Sie hat diese blonde Deutsche, sie hat das Blondsein, Schönsein abgelegt, sie hat ihre Haare dunkel gefärbt, sie hat ihre Körperpflege vernachlässigt und sie hat angefangen, stark Drogen zu nehmen. Sie fand Anfang der 70er-Jahre Einstieg ins Heroin, vielleicht auch schon Ende der 60er-Jahre, und war dann 15 Jahre heroinabhängig. Und das geht natürlich an niemandem spurlos vorüber. Aber das war ihre eigene Entscheidung – solange man eben als Drogenabhängige noch eigene Entscheidungen treffen kann – und es waren nie die Männer, die sie kaputt gemacht haben. Das ist das Besondere an ihr, es sind so viele andere Frauen in den 60er-Jahren zugrunde gegangen an den Drogen und aber auch an dem, was die Männer von ihnen erwarteten oder zu was sie sie zwangen. Zum Beispiel ihre Vorgängerin bei Andy Warhol, Edie Sedgwick, ist an den Drogen zugrunde gegangen. Aber Nico schaffte es immer, selbstbestimmt zu bleiben. Natürlich, sie musste Leute beklauen irgendwann, sie hat immer wieder Leute angebettelt um Geld, aber ich hatte niemals den Eindruck, dass sie sich oder ihre Prinzipien irgendwie verkauft oder verraten hätte.
    Stilbildend für nachfolgende Frauen in der Musikszene
    Gutzeit: Nicos Soloalbum "The Marble Index" gilt als Meisterwerk, wegweisend für spätere Musikrichtungen wie unter anderem Gothic Rock, und sie selbst in ihrem schwarzen Look als stilbildend für nachfolgende Frauen in der Musikszene, das ist ja auch wichtig, das noch mal zu betonen. Sie betonen in diesem Zusammenhang, Tobias Lehmkuhl, dass Nico nicht nur ihren ganz eigenen musikalischen Stil ausbildete, sondern schließlich auch ihre Texte selbst schrieb, da haben Sie eben schon im Zusammenhang mit Jim Morrison drauf angesprochen. Da spielte die englischsprachige Lyrik eine wichtige Rolle, von Wordsworth über Bob Dylan bis Sylvia Plath, aber offensichtlich auch die gefühlvolle Schwere der deutschen Romantik. Und da wären wir vielleicht wieder beim Anfang meiner Frage, die Sie nicht bejaht haben, was das Deutschsein angeht. Aber auf der einen Seite hatte ich das Gefühl, sie wollte diese Vergangenheit des Deutschseins und Deutschland hinter sich lassen, aber hier ist sie wieder sehr deutsch.
    Lehmkuhl: Ja, unbedingt. Wenn man jetzt dieses Stereotyp – an Stereotypen ist ja auch immer ein wahrer Kern – nach vorne stellt, dass Deutschsein heißt, schwerblütig zu sein, romantisch zu sein, sehnsuchtsvoll zu sein, das ist natürlich in ihren Texten, in ihrer Musik sehr drin. Und das ist auch ein weiterer erstaunlicher und faszinierender Punkt ihrer Biografie, dass sie, die eine minimale Schulbildung hatte, die als Analphabetin Mitte der 50er-Jahre von Kollegen verlacht wurde, sicherlich eine der belesensten Künstlerinnen dann schließlich ihrer Zeit war. Sie hat unentwegt vor allen Dingen Lyrik gelesen. Auch durchaus mit Einfluss von Jim Morrison, mit dem hat sie da viel geteilt, aber sie hat auch die deutsche Lyrik irgendwann sehr gut gekannt und sie hat angeblich ja auch Nietzsche mit sich herumgetragen. Ob sie den wirklich gelesen hat, weiß ich nicht, aber sie war alles andere als eine Analphabetin. Und auch die Neigung zum deutschen Geist ist natürlich in ihrer Herkunft begründet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Tobias Lehmkuhl: "Nico. Biographie eines Rätsels." Verlag Rowohlt Berlin. 284 Seiten, 24.- Euro