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Tod an der Kreuzung
Diskussion um verpflichtende Abbiegesysteme für Lkw

Etwa 40 Fahrradfahrer kommen jährlich in Deutschland ums Leben, weil sie von abbiegenden Lastwagen übersehen werden. Abbiegeassistenten könnten den LKW-Fahrern bessere Übersicht bringen und den LKW im Notfall sogar stoppen. Doch eine Vorschrift für die lebensrettende Technik gibt es bislang nicht.

Von Frank Capellan | 22.06.2020
Der Monitor eines Abbiegeassistenten zeigt in einem Müllwagen der Stadtreinigung Hamburg einen Mann im Gefahrenbereich an
Weniger als zehn Prozent der Lastwagen in Deutschland sind mit modernen Abbiegeassistenten versehen (picture alliance/Daniel Bockwoldt/dpa)
Ein weißes Kinderfahrrad, angelehnt an einen Ampelmast, drum herum ein Meer von Plüschtieren, frische Blumen, darüber zwei Fotos eines kleinen, fröhlich lachenden Jungen mit schwarzer Brille – Constantin.
"Also ein kleiner lebendiger Kerl… ich habe mich noch mit ihm unterhalten, und auf einmal ist er nicht mehr da!" Seine Mutter kommt jede Woche an diesen Ort. Julia Werner-Schwarz bringt Blumen, säubert das Rad vom Straßendreck, hält inne. Zwei Jahre liegt der schwärzeste Tag ihres Lebens zurück. Damals bringt sie ihren Sohn zur Schule, an dieser belebten Kreuzung in Berlin Spandau müssen sie mit ihren Rädern warten. "Und die Ampel wurde grün und ich sag zu meinem Sohn: Fahr los! Er fuhr los und in dem Moment bog der weiße Lkw um die Ecke. Und dann touchierte er meinen Sohn, das Hinterrad überfuhr ihn dann."
Lkw-Fahrer bemerkt den Jungen nicht
"Radfahrer 8 Jahre, 13. Juni 2018", steht auf einem Schild, das heute an dem kleinen weißen Fahrrad hängt. Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub stellt solche Geisterräder zur Mahnung auf, dies hier ist nicht irgendeins, es ist das, auf dem Constantin Radfahren lernte. "Man ist wie ihn Watte. Man kann nicht verstehen, was da passiert ist gerade. Ich wusste aufgrund der Verletzungen, die er hatte, dass er sofort tot war."
Julia Werner Schwarz kann über diesen Tag im Juni 2018 reden, sie will darüber reden. Ihr Sohn hatte keine Chance. Der Fahrer des Lkw bemerkt den Jungen nicht, auch nicht, als er zu Boden stürzt. Er fährt einfach weiter. Das Hinterrad überrollt den Kopf des Schülers, Augenzeugen schreien und winken, erst dann stoppt der Spediteur.
"Er stieg aus dem Wagen und kam auf mich zu. Ich fragte ihn dann, ob er der Lkw-Fahrer wäre und er sagte 'ja'. Dann habe ich auf meinen Sohn gezeigt, der auf der Straße lag und er sagte zu mir: Auf was soll ich noch alles achten?"
Abbiegeassistenten sind nicht vorgeschrieben
Im Prozess wird er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Den Führerschein darf er behalten. Gerechtigkeit? Gibt es nicht. Nichts kann ihren Sohn wieder lebendig machen. Und die Statistik kennt keine Schicksale, nur Zahlen. Etwa 40 Radfahrer kommen jährlich in Deutschland ums Leben, weil sie von abbiegenden Lastern übersehen werden.
"Das ist die absolut häufigste Unfallursache!" Nikolas Linck vom ADFC Berlin ist mit zum Unfallort gekommen. Es passiert immer auf die gleiche Weise, sagt er und zeigt auf den Radweg. "Es gibt ein gemeinsames Grün. Der Lkw biegt nach rechts ab, übersieht eine Radfahrerin oder Radfahrer und überrollt die dann, im zweiten Schritt, meistens ist dieses Überrollen, das dann zum Tod führt, ein Moment später."
"Radfahrer 8 Jahre, 13. Juni 2018“,  steht auf einem Schild, das an einem kleinen weißen Fahrrad hängt
Eine Tafel erinnert an den tödlichen Fahrradunfall des achtjährigen Constantin (Deutschlandradio / Frank Cappelan)
Moderne Abbiegeassistenten könnten die Fahrer vor dem toten Winkel warnen oder den Lkw im Fall der Fälle zum Stoppen bringen, vorgeschrieben sind sie nicht, beklagt Linck. Zumindest baulich hat die Stadt Berlin hier auf Druck der Radfahrerlobby etwas getan, berichtet er: "Die wichtigste Änderung an dieser Kreuzung ist, dass es jetzt eine getrennte Ampelschaltung gibt für den Radverkehr und den KFZ-Verkehr. Dass die eben nicht mehr gemeinsam grün haben."
Vorschrift für Technik? Europarecht steht im Weg.
Constantins Mutter reicht das nicht. Sie kämpft dafür, dass die Politik endlich etwas tut, um moderne Technik zur Vorschrift zu machen. Die Systeme seien mit rund 2.000 Euro zu teuer, hieß es zunächst. Sie seien nicht serientauglich. Dann stand das Europarecht einem deutschen Alleingang im Weg. Das betont auch Kirsten Lühmann. Sie ist Verkehrsexpertin, war selbst mal Polizistin, sitzt für die SPD im Bundestag.
"Wenn wir das für alle Fahrzeuge, die in Deutschland zugelassen sind, vorschreiben, können wir es noch lange nicht vorschreiben für Fahrzeuge, die aus dem Ausland zu uns kommen. Das heißt, die können mit ungesicherten Fahrzeugen weiter fahren, aber unsere deutschen Firmen sind verpflichtet, diese Kosten aufzubringen. Das ist EU-rechtlich nicht erlaubt. Das nennt sich Inländer-Diskriminierung."
Verkehrsminister Andreas Scheuer setzt auf eine europaweite Einführung der Abbiegesysteme ab 2022, aber nur für Neufahrzeuge. "Der Tod ist in Deutschland bei der Verkehrspolitik einfach eingepreist", beklagt der grüne Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar voller Sarkasmus. "Wir haben Jahr für Jahr 3.000 Verkehrstote. Das hängt an zu hohem Tempo. Aber das hängt eben auch daran, dass man das als Kollateralschaden einfach so hinnimmt."
Die Technik ist ausgereift, auch eine Nachrüstung alter Lkw mit Abbiegeassistenten wäre möglich, ist aber nicht geplant. Scheuer, der sich gern auch als Fahrradminister bezeichnet, muss sich einigen Spott anhören. Selbst Satiriker Oliver Welke nimmt den CSU-Mann auf die Schippe: "Scheuer sagt, ein deutscher Alleingang sei hier leider nicht möglich wegen Europarecht. Erstens: Bei der Maut war Dir Europarecht auch egal. Zweitens: In Österreich geht´s! In der Hauptstadt Wien gilt ab nächstem Jahr ein Rechtsabbiegeverbot für Lkw ohne Abbiegeassistenten!"
Lkw-Fahrer in Großstädten verunsichert
Warum geht in Wien, was in Hamburg oder Berlin nicht möglich sein soll? Rechtsabbiegeverbote für Lkw ohne Sensoren ließen sich über lokale Ergänzungen der Straßenverkehrsordnung umsetzen. Dirk Engelhardt, Chef des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, hält das für die schlechteste Lösung. Der Vertreter vieler Spediteure setzt auf den Umbau von besonders gefährlichen Kreuzungen und auf die weitere finanzielle Förderung der Assistenzsysteme, auch für Nachrüstungen. Gemeinsam mit dem ADFC wirbt sein Verband für mehr Sicherheit der Radfahrer. Auch zum Schutz der Lkw-Fahrer.
"Wir haben mittlerweile die Situation in einigen großen Städten, dass Fahrer unserer Mitgliedsunternehmen sagen: Ich fahr nicht mehr in die Stadt. Weil sie einfach Angst haben. Weil sie sagen, es ist so viel Verkehr. Soviel Radverkehr. Ich trau mir das nicht mehr zu, da den kompletten Überblick zu bewahren."
Durch die Corona-Pandemie ist allerdings auch dieses Thema liegengeblieben. Immerhin – so Burkhard Stork, ADFC-Geschäftsführer, wurden neue Radwege eingerichtet, die Pop-up-Wege, die auch das Abbiegerisiko zumindest etwas entschärfen können. "Die helfen das ein bisschen abzumildern, wenn sie an den Kreuzungen gut gemacht sind, wenn sie bis an die Kreuzung rangehen und wenn dadurch der Lkw ohnehin gezwungen ist, einen weiteren Bogen zu ziehen."
Treffen mit Verkehrsminister, Briefe nach Brüssel
Julia Werner-Schwarz hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Abbiegeassistenten doch noch früher eingeführt werden könnten. Sie hat sich mit Verkehrsminister Scheuer getroffen, sie hat Briefe nach Brüssel geschrieben und will weiter bohren. "Ich glaube, da ist man nicht machtlos. Man muss nur angehört werden."
Sie schaut auf die Plüschtiere, es hat geregnet, alles ist mit einem schmutzig-braunen Film überzogen, vorbeidonnernde Lastwagen wirbeln den Dreck immer wieder hoch. Den Kampf zu führen, anderen Menschen das Schicksal ihres Sohnes zu ersparen, ist sie ihrem Constantin schuldig, meint sie. Kurz nach dem schrecklichen Unfall wäre sein Geburtstag gewesen.
"Es war alles vorbereitet. Die Geschenke stehen heute noch im Schrank. Wir hatten eine Gartenparty geplant mit seinen Schulkameraden. Es ist alles noch da!"