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Todesfalle Eiserner Vorhang

Hartmut T. ist 18, als er schwer verletzt wird von Hunden der damaligen tschechoslowakischen Grenzpolizei am eisernen Vorhang. Er stirbt an seinen Verletzungen, und neben der Frage, ob die Grenzposten Hilfeleistung unterlassen haben, wirft sein Fall ein unrühmliches Licht auf den Grenzstreifen an der tschechoslowakischen Westgrenze. Dort, so weiß man heute, wurden Flüchtende mit aller zur Verfügung stehen Härte daran gehindert.

Von Peter Hornung |
    "Von dieser Straßenüberführung aus, am Rande von Petržalka, hat sich Hartmut T. 1986 umgeschaut. Hier hat er sich an den Lichtern von Kittsee orientiert.

    Es ist eine sehr schmale Stelle, wo es nur einige hundert Meter bis auf österreichisches Gebiet sind.

    Leider näherte sich gerade eine zweiköpfige Patrouille mit zwei Hunden. Nachdem die Signalwand durchgeschnitten wurde, wurden sie von der Kompanie informiert, dass jemand versucht, über die Grenze zu kommen. Diese Patrouille hat zwei Hunde losgelassen, und die haben Hartmut T. 22 Meter von der Staatsgrenze eingeholt. Ungefähr dort bei der Baumreihe verläuft die Staatsgrenze, und im Jahr ´86 war auch diese alte Straße schon hier, ebenso die Tankstelle. Diese Autobahn hier gab es noch nicht. Und hinter dem Draht war ein Maisfeld. "

    In diesem Maisfeld endet die Flucht von Hartmut T., in Sichtweite der niederösterreichischen Gemeinde Kittsee. Das war am 8. August 1986, einem Freitag, kurz nach zehn Uhr abends. Der Signaldraht ist dem 18- Jährigen zum Verhängnis geworden. Er hat ihn durchschnitten und damit Alarm ausgelöst.

    Was die tschechoslowakischen Grenzer zu tun hatten, wussten sie. Mit Lehrfilmen wie diesem war es ihnen immer wieder eingeschärft worden.

    "- Halt! Hände hoch!

    (Sprecher:) Beim Aufgreifen von Grenzverletzern in der Nähe der Staatsgrenze wird eine vorläufige Leibesdurchsuchung an einem entfernteren, sicheren und vor Beobachtung vom Gebiet des Nachbarstaates aus geschützten Ort unternommen.

    - Sie werden eskortiert. Wenn sie einen Fluchtversuch unternehmen, wird von der Waffe gegen sie Gebrauch gemacht. Steigen sie ein!"

    Doch mit der Wirklichkeit hatte so ein Lehrfilm nur wenig zu tun. Hartmut T. hatte nie eine Chance, sich zu ergeben. Was damals geschah- und wo es geschah, das wissen wenige so gut wie L'ubomir Morbacher. Der Historiker Morbacher ist Leiter der Dokumentationsabteilung des Amts für das nationale Gedächtnis, dem slowakischen Pendant der deutschen Gauck- Behörde. Viele hundert solcher Fälle hat er in den vergangenen Jahren ausgewertet: Menschen, die bei Fluchtversuchen starben, an der Westgrenze der Tschechoslowakei. Im Zeitraum zwischen der kommunistischen Machtergreifung 1948 und dem Jahr 1989 ist der Fall von Hartmut T. für L'ubomir Morbacher jedoch mit der grausamste, sagt er.

    "Der 18-jährige Hartmut T. wurde (von den Hunden) wortwörtlich zerrissen. Es wäre möglich gewesen, diesen Jungen zu retten, die damaligen Angehörigen der Grenzwache benahmen sich jedoch äußerst unmenschlich - sie haben den Tatort besichtigt, die Personaldokumente durchgeblättert, versuchten festzustellen, ob in der Gegend nicht weitere Spuren sind, und als sie diesen jungen Deutschen zur Grenzwachenstation brachten, war sein Schicksal, denke ich, schon besiegelt."

    Hartmut T. wurde Opfer einer Grenze, die als Eiserner Vorhang in die Geschichte einging. Er wollte in den Westen, aber nicht über die innerdeutsche Grenze. Die galt in der DDR als nahezu unüberwindbar. So versuchten es viele über die Tschechoslowakei. Dort war das Grenzregime tatsächlich weniger perfekt, wie zahlreiche gelungene Fluchten zeigten. Doch es war nicht weniger grausam als das innerdeutsche - im Gegenteil. Die Hunde zum Beispiel waren abgerichtet, um Menschen schwer zu verletzten oder gar zu töten, eine der perfidesten Formen der "Grenzsicherung", sagt L'ubomir Morbacher.

    "Anfang der achtziger Jahre begann man, Hunde an den tschechoslowakischen Westgrenzen einzusetzen. Hundeführer ließen sie entweder frei laufen im Raum zwischen der Drahtbarriere und der eigentlichen Grenze oder sie ließen sie dann von der Leine, wenn ein Flüchtling den Draht durchgeschnitten und so ein Signal ausgelöst hat. Deutsche Schäferhunde waren das."

    Erst in jüngster Zeit wird auch in der Slowakei die kommunistische Vergangenheit in größerem Umfang systematisch aufgearbeitet. Das autoritäre Mečiar- Regime hat das in den Neunziger Jahren verhindert- und noch heute ist Mečiars Partei Koalitionspartner in der slowakischen Regierung. Lange Zeit waren die Archive des Innenministeriums nicht zugänglich. Dort aber lagerten die Akten über das, was an den Grenzen geschehen war. Jetzt, wo sie nicht mehr geheim sind, macht sich das Amt für das nationale Gedächtnis daran, die Todesfälle am Eisernen Vorhang einzeln aufzuarbeiten - auch den von Hartmut T. aus dem Jahr 1986.

    "Der zuständige Minister der UdSSR lässt folgende Erklärung verlesen. Es werden umfassende Maßnahmen eingeleitet. ( ... ) Die Lage im KKW steht jetzt unter ständiger Kontrolle von Spezialisten."

    1986 war das Jahr der Katastrophe von Tschernobyl. Am 26. April kam es zu dem Super-GAU in einem ukrainischen Atomkraftwerk, der von der Sowjetunion anschließend lange Zeit heruntergespielt wurde.

    "Zum Generalsekretär der SED wurde Genosse Erich Honecker gewählt. "Liebe ... !" Hoch soll er leben. ( ... )"

    Nahezu gleichzeitig ließ sich Erich Honecker in Ostberlin feiern. Auf dem 11. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED.

    "Unter Führung unseres Kampfbundes ... wird unsere prächtige Jugend mit neuen Taten weiter die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft gestalten und so allmählich die grundlegenden Voraussetzungen zum Übergang des Kommunismus schaffen."

    Doch die prächtige Jugend der DDR hat 1986 auch anderes im Sinn. Seit dem vergangenen Jahr ist Michail Gorbatschow Parteichef in Moskau. Noch ist es kaum mehr als eine Ahnung, was in den Jahren darauf passieren wird. Doch ganz allmählich nimmt man neue Töne aus Moskau wahr. Hartmut T. ist im Februar 18 Jahre alt geworden, Schüler an der Erweiterten Oberschule EOS, er steht kurz vorm Abitur. Ein hagerer junger Mann mit einem jungenhaft- schmalen Gesicht, aus einer musikalischen Familie, sein Vater war Opernsänger. Und auch seine größte Liebe war die Musik, sagt seine Mutter.

    "Er hat sich sportlich gern betätigt, musikalisch, also musisch. Und hat lange Jahre zuerst Blockflöte geblasen, acht Jahre dann Klarinette, die letzten zwei Jahre dann im Jugendsinfonieorchester in Magdeburg. Dort hat er sehr viele öffentliche Auftritte gehabt, auch solistische. Es hat ihm sehr viel Spaß gemacht, er war ein sehr fleißiger Junge sozusagen.

    Ein Individualist vielleicht, aber trotzdem ein Hans- Dampf- in- allen- Gassen, fröhlich, lebensbejahend, ein richtiger junger Bengel."

    Individualist zu sein, das jedoch ist eine Eigenschaft, die in der DDR damals nicht sonderlich gefragt war. Und dass er gerne offen aussprach, was er dachte, brachte ihn nicht selten in Schwierigkeiten.

    "Das war eigentlich das Problem. Mit den schulischen Leistungen kam er sehr gut zurecht. Aber politisch hat er sich leider zu oft geäußert, aber nicht im Sinne der DDR. Sondern er hat nicht den Mund gehalten. Er war keiner, der alles hingenommen hat, was man ihm gesagt hat. Das konnte er nicht."

    Schon zu Beginn des Jahres 1986 gibt es ein ernstes Problem für Hartmut. Mitschülerin Ute Dietrich kann sich noch daran erinnern. Sie gehörte damals zu Hartmuts engstem Freundeskreis.

    "Es war eine Gruppe von Leuten, vielleicht fünf ungefähr. Wir haben in einer Ecke gestanden. Es war im Januar, das war diese Wandzeitung zum Tode von Liebknecht/Luxemburg. Und da war ein Trauerflor dran. Irgendwann hing dieser Trauerflor über dem darüber hängenden Erich Honecker-Bild."

    "Heute ist der schönste Tag in meinem Leben" habe er in diesem Moment gesagt, berichtet Hartmut seiner Mutter später. Ein unbedachter Ausspruch in einem heiklen Moment. Der Staatsratsvorsitzende mit Trauerflor- ein harmloser Schülerstreich, der schnell gefährlich wurde. Denn einer der Schüler verriet die anderen.

    "Es ist nicht rausgekommen, wer's war. Es ist nicht geklärt worden. Es wurde gedroht. Es wurde viel Druck ausgeübt. Das war die Phase, in der wir unsere Studienbewerbungen abgeben mussten. Das heißt, die hatten ein Druckmittel kurz vorm Abitur. Man hat damit gedroht, dass wir die Schule verlassen müssten. Es ist nichts rausgekommen außer diesem starken Druck. Und möglicherweise ist der auf Hartmut ganz besonders stark ausgeübt worden."

    Hartmut glaubt danach, dass ihn alle meiden. So sagt er es seiner Mutter. Ohnehin hat er es schwerer als seine Mitschüler. Das System, die Ideologie sorgten dafür, dass Kinder bevorzugt werden, deren Eltern Parteigenossen sind oder bei der Stasi. Aber nicht er, Sohn einer bürgerlichen Familie. Doch er will studieren, er braucht das Abitur- und muss deshalb auch die sogenannte vormilitärische Erziehung mitmachen, ein mehrwöchiges Lager als Vorbereitung für den Wehrdienst: Exerzieren, Schießübungen, Anlegen von Schutzmasken. Der sensible junge Mann fährt nur sehr widerwillig, erinnert sich seine Mutter.

    "Wir haben gesagt, das schaffst Du doch. Die anderen schaffen das doch auch, warum solltest du das nicht schaffen. Jedenfalls: Er kam wieder, ich holte ihn ab am Bahnhof. Der Zug hatte noch gar nicht richtig gehalten im Bahnhof. Und er sprang schon ab und das erste, was er mir gesagt hat war: Frage mich nie, wie es dort war.

    Deswegen, vermute ich, wollte er auf keinen Fall im Oktober zur Armee."

    Hartmuts Traum rückt langsam in die Ferne: Musiker zu werden, irgendwann. Sie sagen ihm in der Schule, dass er nur Abitur machen dürfe, wenn er danach Pädagogik studiere. Ein Musikstudium wird ihm verwehrt. So scheint es ein Glück, was ihm sein Musiklehrer vorschlug. Wenn er, der Begabte, schon in die verhasste Armee müsse, dann solle er sich doch beim Armeemusikkorps bewerben. Vielleicht werde ihm später dann noch sein Studienwunsch erfüllt.

    "Also ist er mit seinem Musiklehrer, ich glaube bei Halberstadt, ist er dort hingefahren, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Ja, er hat dort vorgespielt, wurde gleich eingesetzt an diesem Tag, in das Orchester gleich rein. Hat alles superklasse geschafft. Man hat gesagt: Das ist in Ordnung, so dass man gesagt hat: Wir sehen uns dann wieder in 14 Tagen."

    Doch nach einem Kadergespräch die Ernüchterung: Nach Verwandtschaft im Westen wird der künftige Soldat da gefragt. Ja, die habe er, sagt er, und nicht zu wenige.

    "Da habe ich gesagt, wie konntest Du das alles sagen. Da sagte er: Ich kann doch nicht lügen, das sind doch meine Verwandten. Das geht doch gar nicht. Nach 14 Tagen kommt dann die Absage. Das war für ihn so erschütternd."

    Hartmuts Traum ist zerstört, nicht der erste, aber wohl der Wichtigste. Die DDR muss ihm in diesem Moment wie ein Gefängnis vorgekommen sein. Ein Land mit einem vorbestimmten Leben, das nicht seines war. Weggehen könnte in diesem Moment eine reelle Perspektive geworden sein, sagt seine Mutter heute.

    "Ja, das könnte durchaus sein. Dass er doch manchmal gesagt hat, er will das alles nicht mehr. Und er will diesen ganzen Staat und diese ganze Schwierigkeiten und diese politischen Schwierigkeiten. Und diese Unehrlichkeit.

    Das letzte halbe Jahr, das der zwölften Klasse, das war für seine Entscheidung das Wesentliche. Da hat sich eines aufs andere aufgebaut."

    Auf dem Weg in den Sommerurlaub nach Ungarn war die Familie schon früher durch die Tschechoslowakei gefahren. In Bratislava hatten sie die Grenze gesehen, von der Transitstraße aus.

    "Und dann hat er immer gesagt, guck mal wie die Grenze nah ist. Da habe ich gesagt. Kommt hör auf. So ein Quatsch. Wirst doch nicht dein Leben aufs Spiel setzten. Die kriegen alle. Da hat keiner ne Chance."

    Mitte Juli, das Abitur hat er inzwischen in der Tasche. Jetzt werde er mit seiner Klasse noch eine Abschlussfahrt nach Leningrad machen. So sagt er es seiner Mutter. Ein Abschied- für immer.

    "Er stand am Gartentor- wir hatten einen großen Vorgarten gehabt - und da stand er und da hat er zu mir gesagt. Weißt Du was, Muttern, guck mal, was für eine kurze Lebenslinie habe. Wortwörtlich gesagt. Und da habe ich noch zu ihm gesagt. Ach Quatsch, der Flieger wird schon nicht runter kommen. Ich dachte, er hat tatsächlich da Angst und macht sich einen Kopf. Und da wollte ich ihn eigentlich ein bisschen beruhigen. Tja. Und das war's. Dann ist er gegangen."

    Was Hartmut dann tut, lässt sich aus den nun freigegebenen Akten der tschechoslowakischen Staatssicherheit rekonstruieren - und aus den Unterlagen, die die DDR-Stasi sammelte. Der 18-Jährige fährt von Magdeburg Richtung Süden. Am 31. Juli, einem Donnerstag, überquert er im östlichen Erzgebirge die Grenze zur ČSSR, illegal, wie die Stasi später feststellen wird. Als DDR- Bürger hätte er die Grenze auch legal nur mit dem Personalausweis überqueren können. Doch offenbar will er sichergehen, dass seine Reisetasche nicht kontrolliert wird. Er hatte eine Kneifzange und anderes Werkzeug dabei, das ihm helfen sollte bei dem, was er nun vorhatte. Mit der Bahn fährt er am folgenden Tag die 400 Kilometer nach Bratislava, Hauptstadt der slowakischen Teilrepublik- und Grenzstadt zu Österreich. Dort quartiert er sich ein im Studentenwohnheim "Družba", direkt an der Donau. Zimmer 409, mehrere Betten. Zwei Jugoslawen schlafen noch dort, später drei andere junge Leute aus der DDR und schließlich ein Pole. Der stille Hartmut fällt offenbar keinem auf. Er ist unentschlossen, scheint es. Erst will er nur vier Nächte bleiben, dann verlängert er nochmals um drei. Späht er die Grenze aus, schaut, wo sie am besten zu überwinden ist? Wahrscheinlich. Am Freitag, den 8. August, jedenfalls muss er das Wohnheim verlassen. Eine große Gruppe wird erwartet, Teilnehmer des "Zuges der Freundschaft", und für den 18- Jährigen ist kein Platz mehr. An diesem Abend geht er los Richtung Grenze.
    Zwei junge Wehrdienstleistende haben Dienst an diesem Sommerabend, am Grenzabschnitt südwestlich der Plattenbausiedlung Petržalka. Sie sind ausgebildete Hundeführer, 19 und 21 Jahre, kaum älter als Hartmut. Mit dabei zwei Schäferhunde, Roby und Ryšo, auf Menschen abgerichtet. Ja, er könne sich noch erinnern, sagt einer der beiden, der anonym bleiben will. Sie hätten an diesem Abend gerade zusammen mit einem Hundetrainer in Grenznähe geübt, wie man so genannte Grenzverletzer mit Hilfe der Tiere stoppt. Um 22.16 gab es Alarm: Der Signalzaun habe ausgelöst. Darauf lassen sie die Hunde von der Leine.

    "Ich habe eine Meldung bekommen, wusste aber nicht wie viele, was oder wo ... ich habe einfach eingegriffen. Erst nach einiger Zeit habe ich den "Grenzverletzer", wie man sie zu der Zeit bezeichnete - gefunden. Da konnte man aber nichts mehr machen. "

    Fast genau 22 Jahre sind seither vergangen, und um zu erfahren, was in dieser Nacht wirklich geschah, ist ein Blick in das Verhörprotokoll hilfreich, das die tschechoslowakische Staatssicherheit am nächsten Morgen anfertigte. Der Hundeführer äußert sich darin detailliert zu dem Vorfall. Er habe die beiden Hunde dorthin geschickt, wo das Signal hergekommen war und sei dann mit seinem Kameraden gefolgt. Es sei schon dunkel gewesen, der 2 Meter hohe Mais habe keine freie Sicht zugelassen, so hätten sie nicht gleich sehen können, wo die Hunde nun waren. Sie hätten zwar das Bellen gehört, doch bis sie den Mann gefunden hätten, seien einige Minuten vergangen.

    "Nachdem ich einige Meter zurückgelegt hatte, hat das andere Patrouillenmitglied mir zugerufen, dass er den Grenzverletzer gefunden habe. Ich bin darauf zur Stelle des Aufgreifens gelaufen. Dort sah ich im Mais einen platt gewalzten Bereich mit etwa 3 Metern Durchmesser, wo auf dem Boden ein unbekannter Mann lag, der am Körper mehrere Verletzungen aufwies. Neben ihm auf dem Boden lag Diensthund Roby, der Diensthund Ryšo lief um ihn rum. Der unbekannte Mann hat "HILFE" gerufen, woraus ich den Schluss zog, dass es ein Deutscher ist, der um Hilfe ruft."

    Der andere Soldat habe daraufhin den Personalausweis kontrolliert und den schwer verletzten Hartmut gefragt, ob noch jemand mit ihm sei. Der habe nicht geantwortet, sondern nur vor Schmerzen gestöhnt, so die Aussage des Hundeführers laut Verhörprotokoll. Er hatte große Wunden an Kopf und Beinen, die stark bluteten. So wie Hartmut da lag, sagt der Mann heute, sei ihm eben klar gewesen: Dem könne nicht mehr geholfen werden. Doch wurde überhaupt versucht, ihm zu helfen? Das ist eine zentrale Frage in diesem Fall. Die beiden Hundeführer informierten nur ihren Vorgesetzten, taten selbst aber nichts, um die Blutungen zu stillen. Der Aufsichtsoffizier, der 32- jährige Viliam Švirk, sagte am Folgetag laut Verhörprotokoll, er habe den Schwerverletzten verbunden, der habe jedoch weiter geblutet. In einem Dienstwagen habe er ihn zur Grenzwache fahren lassen. Dorthin sei dann ein Krankenwagen mit Arzt bestellt worden. Um 23 Uhr, also etwa 40 Minuten, nachdem Hartmut von den Hunden schwer verletzt worden war, sei er nach ärztlicher Erstversorgung ins Militärkrankenhaus von Bratislava gebracht worden, behauptet ein zweiter Offizier. Dort starb er gut zwei Stunden später, um 1.15 Uhr nachts. Diagnose: Blutungsschock aufgrund zahlreicher äußerer Verletzungen. Ein unausweichliches Geschehen? Nein, sagt der Historiker L'ubomir Morbacher.

    "Es war möglich, diesen Jungen zu retten, die damaligen Angehörigen der Grenzwache benahmen sich jedoch äußerst unmenschlich - sie haben den Tatort besichtigt, die Personaldokumente durchgeblättert, versuchten festzustellen, ob in der Gegend nicht weitere Spuren sind, und als sie diesen jungen Deutschen zur Station der Grenzwache brachten, war sein Schicksal, denke ich, schon besiegelt."

    Morbacher stützt sich in seinem Urteil auf ein Gutachten von drei Rechtsmedizinern, das Teil der Geheimakte der Staatssicherheit ist. Es steht im Widerspruch zu den anderen Dokumenten aus der Akte, in denen immer wieder behauptet wird, dem 18-Jährigen sei sofort Hilfe geleistet worden. Die Mediziner schreiben, Hartmut habe "keine Verletzungen erlitten, die nicht mit dem Leben vereinbar gewesen seien"- das heißt: Er hätte überleben können. Doch ihm sei nicht rechtzeitig geholfen worden. Erst um 23.50 Uhr wurde er in die chirurgische Ambulanz des Militärkrankenhauses eingeliefert worden. 50 Minuten hätte der Krankenwagen folglich gebraucht für eine Strecke von 8 Kilometern, wenn die Aussage eines der Grenzoffiziere stimmen würde, dass Hartmut um 23 Uhr schon abgeholt worden sei. Wenig glaubhaft, denn es war Nacht, und mit Blaulicht hätte die Fahrt im Krankenwagen 15 Minuten, höchstens 20. Offenbar stimmten die Zeiten nicht, die von den Grenzern angegeben wurden. Sie haben ihn verbluten lassen und danach versucht, die Zeitangaben zu manipulieren, um den Tod des 18- Jährigen als schicksalhaft darzustellen. Schützenhilfe hätten die Grenzsoldaten dabei von der Militärjustiz bekommen, sagt L'ubomir Morbacher. Die habe untersucht, ob sich die Zwei strafbar gemacht haben, dabei die Aussagen der drei Rechtsmediziner aber schlicht ignoriert.

    "Im Widerspruch dazu stellt der damalige Militärstaatsanwalt des Bezirks, Tibor Gaplovsky, fest, dass die Grenzsoldaten keine Straftat getan hätten und dass es nicht möglich war, Hartmut T. zu helfen.

    ( ... ) Das kommunistische Regime konnte sich in keinem Fall erlauben, einen Grenzsoldaten zu verurteilen- selbst für brutalste Taten. Die hermetische Abriegelung der Grenze musste sichergestellt sein. Die Soldaten durften also keine Angst davor haben, dass sie strafrechtlich verfolgt werden, selbst wenn sie noch so unerbittlich gegen Flüchtlinge vorgingen."

    Er habe tatsächlich Angst gehabt, sagt einer der beiden Hundeführer der Grenzwache heute. Allerdings davor, dass er bestraft werde, wäre er nicht zur Grenzwache gegangen und hätte dort nicht den Befehlen gehorcht.

    "Ich meine, zu dieser Zeit drohte der Militärstaatsanwalt, denn sie hätten ja ihre vorgegebene Aufgabe nicht erfüllt. Es gab eben einen namentlichen Einberufungsbefehl - das hätte man zwar ablehnen können, aber dann hätte das böse geendet."

    Haben er und seine Vorgesetzten sich damals strafbar gemacht? Ja, sagt das Institut für nationales Gedächtnis, das Amt von Historiker Morbacher. Das Grenzregime der ČSSR habe den Tod von Menschen bewusst einkalkuliert, das seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen und folglich nicht verjährt. Das zeige auch und gerade der Fall von Hartmut T. Deshalb hat das Institut Ende Mai dieses Jahres in diesem und 41 weiteren Fällen beim slowakischen Generalstaatsanwalt Strafanzeige erstattet. Doch die Reaktion war harsch und ablehnend. Generalstaatsanwalt Dobroslav Trnka stellt in Frage, ob es sich bei Todesfällen wie dem von Hartmut T. tatsächlich um Straftaten handelte.

    " Ob ich es jetzt einordne als unbegrenzte Sehnsucht nach Freiheit, oder Fluchtversuche von Banditen, Dieben, Räubern, die mit Säcken voll Gold oder sakralen Gegenständen aufgegriffen wurden, Menschen, die Gewalttaten verübt hatten, und schon damals einer Strafverfolgung entgehen wollten durch eine Flucht über die Grenze, das alles muss bei jedem einzelnen Fall beurteilt werden."

    Historiker Morbacher war erstaunt über die Wortwahl. Wirklich überrascht war er jedoch nicht.

    "( ... ) Es gibt keinen politischen Willen, keinen Willen der Staatsanwaltschaft diese Fälle zu lösen. Oft gibt es Verstrickungen aus der Vergangenheit, zwischen einzelnen Staatsanwälten, die (damals) an der Vertuschung solcher Taten teilgenommen hatten, und den heutigen Staatsanwälten."

    Im Falle von Generalstaatsanwalt Trnka lässt sich der Vorwurf alter Seilschaften durchaus nachvollziehen. Trnka, Jahrgang 1963, hat in den achtziger Jahren in Bratislava Jura studiert. 1988, so ist in seinem Lebenslauf nachzulesen, kam er als junger Jurist zur Militärstaatsanwaltschaft von Bratislava. Just der Behörde, der auch der Staatsanwalt angehörte, der zwei Hare zuvor die Strafverfolgung im Fall von Hartmut T. eingestellt hatte. Trnka selbst hat - noch als Militärstaatsanwalt - 1998 Ermittlungen in einem ähnlichen Fall einstellen lassen. Ob es im Fall des 18-jährigen Magdeburgers nun anders sein wird, ist noch fraglich. Politische Unterstützung hat das Institut für das nationale Gedächtnis in der Slowakei jedenfalls kaum.
    Doch wenigstens der erste Schritt zur Aufarbeitung ist nun getan. Die Geheimakten wurden geöffnet, und Angehörige wie Hartmuts Mutter können nun erfahren, was mit ihren Kindern, ihren Ehemännern oder Frauen geschah. Die DDR- Staatssicherheit habe ihr damals in Magdeburg kaum mehr mitgeteilt, als dass Hartmut tot sei. Doch über die genauen Umstände ließ man sie im Unklaren. Mitte August, ungefähr eine Woche nach seinem Tod, sei das gewesen. Sie hatte in diesem Moment noch geglaubt, Hartmut sei auf der Klassenfahrt nach Leningrad.

    "Jedenfalls komm ich nachhause, und unser Haus lag nach hinten im Grünen, klebte ein Zettel: Wir wollen sie unbedingt sprechen, kommen sie zur Staatssicherheit. Wieso? Was soll das alles? Und Hartmut kommt ja auch bald nach Hause.

    Die, die den Zettel rangeklebt hat, das war eine Frau, die ist noch mal gekommen. Ja, ich muss ihnen sagen, ihr Sohn ist nicht nach Leningrad gefahren. Sondern er hat versucht über die Grenze zu kommen, da ist er von Hunden angefallen worden und jetzt ist er tot. Das war's."

    Zuerst hieß es, Hartmuts Leiche werde in Bratislava bleiben. Doch die Mutter konnte sich schließlich durchsetzen. Hartmut wurde am Mittag des 4. September in seiner Heimatstadt beigesetzt- ein Ereignis, von dem Stasi- Minister Erich Mielke persönlich informiert wurde. Drei Monate später: Hartmuts Mutter geht an den Briefkasten. Darin ein Brief, er trägt weder Briefmarke noch Poststempel. Ein Vertrauter von Hartmut muss ihn eingeworfen haben. Seine Mutter hat ihn, natürlich, bis heute aufbewahrt. Er trägt kein Datum, wurde aber wohl geschrieben, kurz bevor Hartmut Richtung Bratislava aufbrach.

    "Nein, kein Datum. (Rascheln) Liebe Mutter, nein. Ich bin nicht mit meiner Klasse nach Leningrad gefahren, sondern fahre an die Grenze und ich versuche nach drüben zu kommen. Ich kann mir sicherlich vorstellen, dass zu ziemlich fertig bist. Aber hier in der DDR sehe ich keine Alternative zum Leben. Ich möchte nicht in dieser Armee dienen und auch nicht Lehrer werden. Ich habe mir diesen Schritt sehr überlegt. "

    Für sie kaum zu glauben, dass das schon 22 Jahre her ist. Geschichte ist es jedenfalls nicht, nicht für Hartmuts Mutter. Ob Sie jemals verzeihen kann, denen, die ihren Sohn damals sterben ließen?

    "Wenn sie eingestehen würden, dass sie, dass es ihnen leid tut, dass das alles so passiert ist. Ich kann mir vorstellen, dann würde ich ihnen auch vergeben. Das ist für mich wichtig. Dass sie eingestehen, dass es ihnen selber leide tut, und dass sie einsehen, wie schwer mir das gefallen ist, meinen Sohn zu verlieren. So würde ich das sehen."