Archiv

Tokio 1940
Die Spiele, die es nie gab

In diesen Tagen vor 80 Jahren hätten zum ersten Mal Olympische Spiele in Asien stattfinden sollen – in Tokio. Doch wie 2020 wurde auch 1940 nichts aus den großen Plänen. Damals musste Olympia keiner Pandemie weichen, sondern dem Krieg. Wer aber heute zurückdenkt, findet einige Parallelen.

Von Felix Lill |
Ein altes Embelem mit den Olympischen Ringen vor dem Berg Fuji und der Inschrift XII Olympiad Tokyo 1940
Emblem der Olympischen Spiele 1940, die nie stattfanden (imago)
Ende Juli 1936 bricht Tokio in Jubel aus. Ein Telegramm mit guten Nachrichten ist aus dem fernen Berlin eingetroffen: Dort hatte gerade das IOC in seiner Generalversammlung getagt. Nach einigem Hin und Her, zurückgezogenen Bewerbungen und weiterführenden Versprechen hatten sich die Delegierten für den nächsten olympischen Austragungsort entschieden: die japanische Hauptstadt Tokio.
Eine Sensation: Nie zuvor hatte es Olympia außerhalb von Europa oder Nordamerika gegeben. Die japanischen Bewerber hatten dafür ein Konzept vorgelegt, mit dem sie nicht nur neue Stadien bauen, sondern auch 100.000 Touristen ins Land locken wollten. Es sah nach visionärem Internationalismus aus. So wurden jene Bedenken überstimmt, die schon vor Berlin 1936 befürchteten, der deutsche Verbündete in Ostasien würde aus den Spielen eine Propagandaveranstaltung machen.
Dabei sei von vornerein klar gewesen, dass Japan zumindest mit Nationalismus auftrumpfen wollte, meint Thorsten Weber, Historiker am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio, der zu dem Thema geforscht hat.
"Das olympische Motto war eigentlich die Jubiläumsfeier der Gründung des Staates Japan. Tokio sollte eigentlich 1935 die Weltausstellung ausrichten und hat dann darum gebeten, sie auf 1940 zu verschieben. Die Olympischen Winterspiele hätten ja auch noch in Japan stattfinden sollen, in Sapporo. Die Winterspiele, dann die Weltausstellung und dann die Olympischen Spiele im September: Die Welt soll auf Tokio schauen, auf Japan schauen und soll mit Japan feiern, dass Japan 2.600 Jahre alt wird."
Feuer in einer Schale im Olympiastadion von 1964
Feuer in der Schale im Stadion von 1964, als Tokio die Spiele von 2020 zugesprochen bekommt (Kyodo/MAXPPP/picture alliance / dpa)
Um dies zu ermöglichen hatten die japanischen Offiziellen einige Register gezogen. Für spätere Olympiabewerbungen sollten sie wegweisend werden, sagt Weber:
"Die Japaner haben den IOC-Präsidenten eingeladen und haben ihn gut durchs Land geführt und bewirtet, und so hat man ihn vielleicht auch gefügig gemacht. Der eigentlich ernsthafteste Co-Bewerber war Rom. Rom hat dann aber anscheinend durch Mussolini entschieden, dass Rom sich dann für die künftigen Olympischen Spiele bewerben würde. Also es gab hier wohl eine Absprache auf hoher politischer Ebene. Die Bewerbung Japans gilt schon als besonders aggressiv zu der Zeit. Man könnte vielleicht sagen, dass sie da eine gewisse Vorreiterrolle gespielt haben."
Wer im heutigen Tokio nach Spuren dieser Olympischen Spiele von 1940 sucht, findet wenig. Im Stadtviertel Shibaura in der Nähe des Hafens ist eine Radsportanlage, die auf den Bauplänen für 1940 basiert. Viel mehr ist aber nicht errichtet worden. Denn ehe Tokio die Welt überhaupt willkommen heißen kann, sind die Spiele schon wieder abgeblasen.
1944 als Trostpflaster
Seit 1937 führt Japan Krieg in China. Und das Metall, das man für den Stadionbau gebraucht hätte, ist in die Waffenproduktion gegangen. Außerdem hat das Militär zu verstehen gegeben, dass es seine Pferde nicht für Wettkämpfe abstellen würde. 1938 gab Tokio das Austragungsrecht schließlich zurück – allerdings nicht ganz schweren Herzens, sagt Torsten Weber:
"Die Lösung war ja, dass Tokio sich umgehend entschieden hatte, sich für 1944 wieder zu bewerben. Und das war auch so eine Tür, die das IOC Tokio aufgemacht hatte. Japan sollte es irgendwie schaffen, das Gesicht zu wahren. Es sollte ein Weg gefunden werden, mit dem Japan weiter die Chance hätte, Ausrichter der Olympischen Spiele zu sein. Dazu ist es natürlich nicht gekommen, da ja schon die Spiele 1940 selbst abgesagt wurden."
Olympia 1964 in Tokio, Eröffnungsfeier: Einmarsch der gesamtdeutschen Mannschaft.
Olympia 1964 in Tokio, Eröffnungsfeier: Einmarsch der gesamtdeutschen Mannschaft. (imago sportfotodienst/Horstmüller)
"Tokyo 1940" hat es also nie gegeben – das erinnert an "Tokyo 2020", das dieses Jahr zwar nicht wegen eines Krieges ausfiel, aber einer Pandemie weichen musste. So hat Japans Vizepremierminister Taro Aso, nachdem die Spiele 2020 um ein Jahr verschoben wurden, diese kuriose Parallele schon als einen "Fluch" bezeichnet. Aber ansonsten wird über die Gemeinsamkeiten zwischen damals und heute erstaunlich wenig geredet.
Eiichi Kido ist darüber verärgert. Der Geschichtsprofessor von der Universität Osaka, der auch lange Jahre in Deutschland gelehrt hat, wünscht sich mehr kritische Auseinandersetzung:
"Viele Leute wissen einfach nicht, dass die Spiele 1940 in Tokio stattgefunden hätten. Sie wissen es einfach nicht. Und wenn Sie zum Beispiel die Homepage des Japanischen Olympischen Komitees (ansehen), dann steht da: Also angesichts der verschlechterten Weltlage musste Japan darauf verzichten, die Sommerspiele zu veranstalten. Das ist nicht wahr. Seit 1937 führte Japan einen Krieg gegen China. Und in China gab es natürlich Boykottaufrufe."
Wieder Olympia, wieder ein Wiederaufbau
Vermutlich würde kaum jemand Kido widersprechen – aber gesagt wird es eben wenig. Wer dieser Tage eine von mehreren Ausstellungen in Tokio besucht, die Japans Olympiageschichte beschreiben, findet viele Details zu 1964. Dies ist das Jahr, als dann tatsächlich die ersten Olympischen Spiele nach Asien gekommen sind. Die Museen stellen "Tokyo 1964" als Meilenstein dar im Wiederaufbau nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Aber die "Phantomspiele" von 1940, die eben durch den Krieg unmöglich geworden waren, sind nur am Rande erwähnt.
Dass man sich von offizieller Seite heute eher um Parallelen zu 1964 bemüht als zu 1940, überrascht kaum, sagt Ryu Homma. Der Publizist und Investigativjournalist, der über die anstehenden Spiele von 2020 ein Buch geschrieben hat, sagt:
"Die Spiele 2020 sollten den Wiederaufbau nach dem Atomunglück von Fukushima im Jahr 2011 symbolisieren. Man hat den Leuten gesagt: Die Spiele von 2020 erfüllen eine Funktion wie 1964. Damals erhielt Japan einen neuen Flughafen und den Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen. Und diesmal sollte offiziell eben die Region um Fukushima unterstützt werden."
Eiichi Kido formuliert es noch drastischer als Homma: "Die Absicht der Olympischen Spiele ist, Fukushima vergessen zu machen."
Die Olympischen Ringe von Flugzeugen in den Himmel gezeichnet
Eröffnungsfeier der Spiele von 1964 (imago images / Kyodo News)
Dass Tokio 2020 die Spiele des Wiederaufbaus seien, hält er aber für eine Farce. Denn der Wiederaufbau von Fukushima habe nie im Fokus gestanden. Vielmehr sei es darum gegangen, an der Atomkraft trotz des Desasters festzuhalten.
Weil dies vor allem ein politisches Motiv sei, erkennt Eiichi Kido beim Gedanken an "Tokyo 2020" weniger Parallelen zu 1964, dafür mehr zu 1940. Und so sieht es auch der Publizist Ryu Homma:
"Wenn ich überlege, welche Olympischen Spiele ähnlich zu den heutigen sind? Dann ist es wahrscheinlich eher 1940. Erstens, weil sie nicht stattgefunden haben. 1940 war es zwar Japans eigene Schuld durch den Krieg mit China. 2020 ist es Corona. Aber zweitens wollte Japan damals ja stattdessen die 1944-er Spiele machen, und die gab es nicht. Ich halte es für gut möglich, dass auch es auch die verschobenen Spiele "Tokyo 2020" im Jahr 2021 nie geben wird."
Allzu viele Menschen in Japan werden diesen Zusammenhang wohl nicht denken. Wären die 1940-er Spiele nicht abgesagt worden, hätten sie genau jetzt vor 80 Jahren stattgefunden. Sowohl der Historiker Torsten Weber als auch Eiichi Kido und Ryu Homma haben dieser Tage die japanischen Zeitungen studiert. Alle drei sagen auf Nachfrage: über dieses denkwürdige Jubiläum haben sie keinen Artikel gefunden.