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Tolle Idee! Was wurde daraus?
Assistenzsysteme verhindern Sekundenschlaf-Unfälle

Jeder vierte tödliche Unfall auf Deutschlands Autobahnen geht nach Ansicht von Experten auf Sekundenschlaf zurück. Assistenzsysteme sollen das gefährliche Einnicken am Steuer verhindern. Seit den frühesten Anfängen mit einer Stoppuhr haben die Vorrichtungen einen langen Entwicklungsprozess durchlaufen.

Von Michael Stang | 13.10.2020
Verkehrsstau auf der Autobahn A3, am Breitscheider Kreuz in Fahrtrichtung Oberhausen, Ratingen, NRW. Autos stehen auf mehreren Spuren dicht an dicht.
Assistenzsysteme sollen Unfälle verhindern, die durch Sekundenschlaf verursacht werden (imago/Jochen Tack)
Fallen einem Autofahrer am Steuer kurz die Augen zu, legt sein Wagen schnell hunderte Meter im Blindflug zurück. Laut statistischem Bundesamt ist Übermüdung die Ursache von rund 2.000 Straßenverkehrsunfällen mit Personenschaden pro Jahr. Ideen, wie müde Fahrer am Einschlafen gehindert werden könnten, damit es nicht zum Unfall kommt, gab und gibt es viele, sagt der Ingenieur Felix Hüning, Professor an der FH Aachen.
"Also die ersten Ideen kamen gar nicht von den Autoherstellern, sondern die kamen tatsächlich von den Straßenbauern. Sie kennen das vielleicht am Straßenrand, diese Rüttelstreifen."
Das Rütteln beim Verlassen der Spur soll Fahrer im Sekundenschlaf wieder aufwecken – und tut das auch in vielen Fällen, wie eine Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen 2009 gezeigt hat. Die ersten Wecksysteme, die in Pkw eingebaut wurden, waren einfache Stoppuhren, die dem Fahrer nach einer bestimmten Zeitspanne signalisierten, es wäre gut, mal eine Pause zu machen.
Ungewohnt Lenkbewegungen verraten Müdigkeit am Steuer
Moderne Autos haben aber deutlich mehr drauf, sagt Andreas Rigling, Projektleiter der Fahrzeugsicherheit beim ADAC in Landsberg am Lech: "Viele Hersteller bieten mittlerweile Müdigkeitsassistenten an, die mit verschiedenen Strategien dem Fahrer anzeigen, dass sie Müdigkeit erkannt haben und dann entsprechend zum Beispiel mit diesem berühmten Kaffeetassen-Symbol dem Fahrer zu verstehen geben: Bitte mach doch eine Pause oder überdenke deinen Fahrstil."
Heutige Systeme messen nicht nur, wie lange eine Person schon am Steuer sitzt. Sie analysieren häufig auch den Fahrstil, erklärt Felix Hüning: "Das sind Systeme, die messen zum Beispiel den Lenkwinkel, die Lenkgeschwindigkeiten. Bei Fahrtstart wird so eine Art Fahrprofil aufgenommen: Wie lenkt der Fahrer? Wie fährt der Fahrer? Um das ein bisschen anzulernen das System. Und das erkennt dann im weiteren Verlauf der Fahrt, wenn es ungewohnte Lenkbewegungen gibt."
Dazu zählen ruckartige Bewegungen. Wenn sie auf eine Phase ohne nennenswerte Steuerimpulse folgen, sind sie ein Indiz dafür, dass der Fahrer unaufmerksam war.
Autos stauen sich auf der Berliner Stadtautobahn A100.
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Kameras haben die Augen im Blick
Viele Hersteller setzen auch auf Kameras, die registrieren, wenn die Person am Steuer müde wird: "Eine Innenraumkamera, die auf den Fahrer gerichtet ist und dann sowohl die Kopfhaltung als auch insbesondere die Augen beobachtet und dann eben erkennen kann: Okay, die Augen sind jetzt die ganze Zeit halb geschlossen. Das sieht nicht gut aus. Oder ich habe eine auffällige Lidbewegung, um daraus dann zu schlussfolgern Okay, der Fahrer ist müde, wir wollen jetzt mal lieber warnen."
Wenn es dunkel ist oder der Fahrer eine Sonnenbrille trägt, funktioniert diese Methode bisher allerdings nur bedingt. Deshalb tüfteln alle namhaften Autohersteller an erweiterter Sensorik, um den Zustand des Fahrers zu überwachen.
"Also das können solche physiologischen Systeme sein, die zum Beispiel Parameter wie Herzschlag, Blutdruck, Körpertemperatur messen können. Also sie haben zum Beispiel Sensoren im Anschnallgurt oder im Sitz, die halt einfach ihre physiologische Parameter des Körpers monitoren können. Andere Systeme gibt es, die da in der Forschung überlegt werden, dass sie in der Kopfstütze EEGs haben, um daraus dann zurückzuschließen, wie der Bewusstseinszustand des Fahrers ist."
PKW und LKW bilden eine Rettungsgasse auf einer Autobahn 
Oft kommt es zu Auffahrunfällen mit Lkw, weil die Fahrer zu lange am Steuer sitzen (imago images / Westend61)
Wem gehören die Daten?
Ganz unabhängig davon, wie Fahrerassistenzsysteme einen drohenden Sekundenschlaf erkennen: Ab Juli 2022 müssen alle neu zugelassenen Fahrzeugtypen über ein Müdigkeitswarnsystem verfügen. Zwei Jahre später wird es laut EU-Verordnung für alle Neuwagen Pflicht. Der Grund für die neuen Vorschriften: Experten schätzen, dass bereits die breite Einführung von Spurhalteassistenten allein in Deutschland jedes Jahr hunderten Menschen das Leben retten könnte. Die Zahl der Schwerverletzen durch Verkehrsunfälle könnte um mehrere tausend sinken. Kombiniert man den Spurhalteassistent mit weiteren elektronischen Helfern, wäre sogar noch mehr Sicherheit möglich, erklärt der Ingenieur Andreas Rigling vom ADAC.
"Wenn sie auf der Autobahn ihren Spurhalteassistenten in Verbindung mit dem Abstandsassistenten aktiviert haben, dann fährt das Fahrzeug quasi wie von allein. Nur, dass der Fahrer immer noch die volle Verantwortung hat und natürlich mit dableiben muss. Wie überprüft jetzt das Fahrzeug, ob der Fahrer noch da ist? Auch das machen die mit Lenkbewegungen, wenn keine Hand mehr am Lenkrad spürbar ist oder eben da kein Lenkmoment mehr ans Lenkrad reingeht, dann kommt - und es ist sogar gesetzlich vorgeschrieben - nach 15 Sekunden die erste Warnung und sagt: Bitte nimm‘ deine Hände wieder ans Lenkrad! Und dann passiert eine Warnkaskade: Das heißt nach weiteren 15 Sekunden muss der dann noch mal warnen. Und viele Systeme schalten dann in einen automatischen Nothalte-Assistenten."
Nach einem sehr deutlichen Bremsruck, der einen eingeschlafenen Fahrer auf jeden Fall wecken würde, schaltet der Assistent dann den Warnblinker an und bremst in seiner Fahrspur langsam bis zum Stillstand ab. Bevor Autos eines Tages vollständig autonom unterwegs sind, müssen die Menschen am Steuer also damit rechnen, immer genauer überwacht zu werden. Für die Verkehrssicherheit mag das sinnvoll sein, dennoch dürfte nicht allen bei diesem Gedanken wohl sein. Welche persönlichen Daten werden erhoben, gespeichert und weitergeleitet? Nicht nur die PKW-Hersteller haben ein großes Interesse an solchen Daten, sondern auch die KFZ-Versicherer. Das sollten Autokäufer künftig im Hinterkopf haben und darauf achten, welche Daten ihres Fahrzeugs sie mit anderen teilen.