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Tolle Idee! Was wurde daraus?
Handprothese mit Gefühl

Von Fingerspitzengefühl können Menschen mit einer Handprothese nur träumen. Vor gut zehn Jahren kam die erste Kunsthand auf den Markt, die ihrem Träger Rückmeldung gibt, wie fest sie zugreift. Inzwischen ist die Technik Standard. Möglichkeiten, Prothesen weiter zu verbessern, gibt es noch viele.

Von Anneke Meyer | 24.08.2021
Russische Behindertensportler stehen in den Startlöchern. Zwei der Teilnehmer tragen Handprothesen.
Russische Behindertensportler stehen in den Startlöchern. Zwei der Teilnehmer tragen Handprothesen. (AFP/Kirill Kudryavtsev)
"Man kann sich die Prothese vorstellen, als wenn wir mit einem Kochlöffel versuchen würden, irgendwie vorne was zu spüren. Das heißt, es fühlt sich so an als wenn man ein Werkzeug hält."
Dr. Stefan Schulz hat zwei Hände, denkt aber ziemlich viel darüber nach, wie es ist nur eine zu haben. Oder gar keine. Seit vielen Jahren entwickelt er bionische Prothesen, die die Funktion der Hände zum Teil ersetzen können.
"Wenn man jetzt etwas behutsam greifen möchte oder einfach nur nicht ständig Blickkontakt haben möchte, wenn ich jetzt ein Glas sicher greifen möchte ohne genau zu gucken, wie sich die Finger ums Glas schließen – das geht mit einer Prothese nicht. Wir haben uns überlegt, wie wir das eben ein Stück weit ersetzen können. Ganz rudimentär."

Die erste Prothese, die Rückmeldung gibt, wie fest sie zugreift

Im Jahr 2009 brachte Stefan Schulz mit seiner Firma Vincent Systems GmbH die erste bionische Hand raus, die ihrem Träger eine Rückmeldung gibt, wie fest sie zugreift. Für diese Entwicklung wurde das Unternehmen 2017 für den Deutschen Zukunftspreis nominiert. Gewonnen haben damals zwar andere, aber die Technik hat sich bewährt. Inzwischen ist sie auch bei anderen Herstellern Standard. Haben moderne Handprothesen damit das Zeug, verlorene Hände vollständig zu ersetzen?
"Ja, das wäre schön, wenn es so wäre… Es ist eine zusätzliche Information. Es hat einen Mehrwert, aber man kann damit nicht die Welt retten, weil die Prothesen noch viel mehr an Kinderkrankheiten leiden."
Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Frankfurt am Main. Dr. Sebastian Benner ist auf dem Weg zur Exoprothesensprechstunde. Seinen Patienten Holger Müller begleitet er seit vier Jahren. Der gelernte Werkzeugmacher hat bei einem Arbeitsunfall die linke Hand und den Unterarm verloren.

Zwei Muskeln kontrollieren 14 Griffe

Benner: "Ja, Herr Müller, wie ist es denn jetzt mittlerweile? Wir haben ja einen neuen Schaft angefertigt... Passt der?"
Müller: "Ja, der Schaft selber an sich ist eigentlich ziemlich super geworden und die Bedienung der Prothese ist wie gewünscht. Man muss sich ja an das Neue erstmal dran gewöhnen und es ist halt viel Übung."
14 verschiedene Griffe kann Holger Müllers Roboterhand machen. Gesteuert wird sie über die Aktivität von zwei Muskeln im Armstumpf. Elektroden im Prothesenschaft registrieren, wenn die Muskeln sich anspannen. Ein Computeralgorithmus übersetzt das Signal in Bewegungen. Der Wechsel von einem Griffmuster in ein anderes funktioniert mit einer Art Morsecode. Mit zwei kurzen Muskelimpulsen wechselt Holger Müller von einer flachen Hand in einen Zylindergriff und gibt das Signal, die Hand zu schließen.
Müller: "Ich nehme jetzt hier diese Colaflasche, und greife zu. Dieses Klackern, jetzt kann ich nachgreifen, und jetzt merke ich ein Vibrieren."
Benner: "Genau. Jetzt hört man ganz gut diesen Vibrationsalarm. Also sie kriegen jetzt quasi Rückkopplung. Greifen Sie diese Colaflasche oder laufen Sie Gefahr, die zu zerdrücken?"

Hilfreich, aber kein echtes Fingerspitzengefühl

Der Vibrationsalarm im Prothesen-Schaft signalisiert, wie stark die Hand zugreift. Dreimal kann Holger Müller nachfassen, dann ist die maximale Griffstärke erreicht. Dreimal, das ist eine Zahl von Wiederholungen die das menschliche Gehirn noch intuitiv erfasst ohne mitzuzählen. Fürs Gläser Öffnen oder Weintrauben Essen ist das Feedbacksignal eine gute Hilfe. Aber an echtes Fingerspitzengefühl kommt es nicht ran.
"Wenn ich jetzt unbedingt wissen will, wie sich die Oberfläche angreift, dann nehme ich natürlich meine gesunde Hand und gehe dann da oben drüber."
Um auch mit einer Prothese "richtig" fühlen zu können, müsste die Kunsthand mit Sensoren ausgestattet und direkt an das Nervensystem angeschlossen sein. Forscher versuchen, das durch implantierte Elektroden zu erreichen. Ihre Experimente zeigen, was im Prinzip möglich sein könnte. In der klinischen Praxis ist davon aber noch nichts angekommen.

Größte Herausforderung: Alltagstauglichkeit

Dort kämpft man derzeit noch mit grundsätzlicheren Problemen.
"Ich versuche halt, meinen Alltag damit ganz normal zu machen."
Und das ist oft gar nicht so einfach. Alltag bedeutet für Holger Müller viel Sport und handwerkliche Arbeit, aber auch Haushaltsaufgaben und Toben mit seiner Tochter. Ganz normale Sachen, an denen auch moderne, bionische Hände oft scheitern, meint Prothesen-Entwickler Stefan Schulz.
"Das Spannende ist bei dem Thema, dass wir wirklich, wenn wir die modernste Hand der Welt jetzt haben, wir vielleicht fünf bis zehn Prozent der Funktionalität einer menschlichen Hand abbilden."
Was eine Prothese können muss, um eine Hilfe zu sein statt einer Last, hängt immer von dem ab, der sie trägt. Bionische Hände wie die von Holger Müller, die verschiedene Griffe können, geben ihren Nutzern viel Flexibilität.

Zu schwer, zu langsam, zu laut

Die hat aber ihren Preis: Die Steuerung ist nicht ganz einfach, die Hände reagieren langsam und können oft nicht die Kraft aufbringen, die eine menschliche Hand normalerweise hat. Für einen Bürojob ist das ok. Für harte körperliche Arbeit taugen bionische Hände aber noch nicht, auch weil sie relativ leicht kaputt gehen.
"Und das sind eher so die Baustellen, mit denen sich Entwickler beschäftigen: Robustheit, Gewicht, Geräuschkulisse, Wasser-Dichtigkeit und dann natürlich in zweiter Linie die Steuerung und dritte, vierte Linie, das Gefühl."
In Deutschland haben bisher nur etwa 20 Prozent der Arm-Amputierten eine bionische Handprothese. Einfache Greifprothesen, die in ihrer Technik seit 80 Jahren mehr oder weniger gleichgeblieben sind, sind einfacher zu bedienen, sie reagieren schneller und können fester zupacken.

Kein Handersatz aber langsam ein wirklich nützliches Werkzeug

Doch die bionischen Hände werden immer besser. Und das spricht sich allmählich herum, meint Sebastian Benner:
"Wir sehen in der Sprechstunde mittlerweile Patienten, die sind seit Jahren amputiert. Die haben sich nicht versorgen lassen, weil sie gesagt haben, das, was auf dem Markt ist, bringt mir eigentlich keinen wirklichen Vorteil. Da versuche ich lieber alles mit meiner gesunden Hand zu machen. Und die kommen jetzt und sagen: Da gibt's doch neuere Prothesen, wollen wir das nicht mal gemeinsam ausprobieren? Und die bleiben dann häufig auch dabei. Also es ist jetzt quasi eine Zeit gekommen, in der man tatsächlich die Hand vielleicht nicht ersetzen kann, aber mindestens ein sehr gutes Werkzeug hat."