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Tolstois "Auferstehung"
Radikale Infragestellung der herrschenden Ordnung

Der Roman "Auferstehung" von Lew Tolstoi ist sein einziges großes Werk, das er nach einem großen Umbruch in seinem Leben geschrieben hat. Durch die radikale Infragestellung der herrschenden Ordnung, mit der letztlich die gesamte materialistische Zivilisation der Moderne gemeint ist, ist "Auferstehung" auch noch für den heutigen Leser eine Herausforderung, aber eine lohnende.

Von Karla Hielscher | 13.04.2017
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    Eine Büste des russischen Schriftstellers Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828-1910). (picture-alliance / dpa / Bifab)
    "Auferstehung" ist – neben "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" der dritte große Roman von Lew Tolstoi. Und während das Buch sogleich nach seinem Erscheinen 1899 zu einem ungeheuer erfolgreichen Weltbestseller avancierte, das in den ersten Jahren allein in Deutschland zwölfmal übersetzt wurde, ist es im Laufe des 20. Jahrhunderts eher in den Hintergrund getreten. Das hat seine guten Gründe.
    "Auferstehung" ist nämlich das einzige monumentale literarische Werk, das Tolstoi nach dem großen Umbruch in seinem Leben um 1880 geschrieben hat. Seitdem war er weltbekannt geworden als Religionsstifter und Prophet seiner Lehre einer radikalen Zivilisationskritik und eines allein auf der Bergpredigt basierenden kirchenfernen christlichen Anarchismus, der zum gewaltlosen Widerstand gegen den Staat und seine Institutionen aufruft. Sein utopisches Ziel war ein Leben in brüderlicher Arbeit und Besitzlosigkeit, uneigennütziger Nächstenliebe, sexueller Enthaltsamkeit, extremer Einfachheit und Bedürfnislosigkeit, eine rigorose Lehre, die sich bald als Tolstojaner-Bewegung weit über Russland hinaus ausbreitete.
    Der geniale Schriftsteller gegen den eifernden Moralisten
    Der späte Tolstoi verfasste fast nur noch sozialethische und politische Schriften, betrachtete seine eigenen unsterblichen Romane als eitel und nichtig und ließ nur Märchen, Legenden und die Gleichnisse der Bibel gelten, literarische Gattungen, die auch dem einfachen Volk verständlich sein sollten. Diesen Ansatz hat Tolstoi in seiner Schrift "Was ist Kunst" ausführlich dargelegt. Glücklicherweise muckte jedoch der geniale Schriftsteller in ihm immer wieder gegen den eifernden, belehrenden Moralisten auf.
    Es ist sehr zu begrüßen, dass nun auch Tolstois "Auferstehung" in einer prägnanten Neuübersetzung von Barbara Conrad vorliegt - versehen mit einem informativen Anmerkungsapparat und einem Nachwort der erfahrenen Übersetzerin und Tolstoi-Kennerin, die auch schon Tolstois Epos "Krieg und Frieden" ins Deutsche übertragen hat. Sie beweist mit ihrer Übersetzung, dass gerade die große Nähe zum russischen Originaltext bis in die Satzkonstruktionen hinein zum überzeugendsten Ergebnis führt.
    Den Stoff für den Plot des Buchs lieferte Tolstoi ein authentischer Gerichtsfall, den ihm sein Freund, der bekannte Jurist Anatolij Koni, berichtet hatte. Der Handlungsfaden des Romans ist schnell erzählt:
    Ein Widerspruch prägt den Roman durch und durch
    Der wohlhabende Fürst Dmitrij Nechljudow ist zu einer Gerichtsverhandlung als Schöffe geladen. Während dieser Verhandlung erkennt er in der des Giftmordes angeklagten Prostituierten Katja Maslowa das Mädchen wieder, das er vor vielen Jahren auf dem Gut seiner Tanten verführt hatte. Schnell wird klar, dass sie unschuldig ist. Sie wird jedoch trotzdem durch die Unerfahrenheit der Schöffen und die Nachlässigkeit des Gerichts zu Zwangsarbeit verurteilt. Diese Erfahrung erschüttert Nechljudow, der seine große Schuld an ihrem Schicksal erkennt, bis in die Tiefen seiner Seele und setzt bei ihm einen Prozess des radikalen Umdenkens in Gang. Er beginnt, sein Leben von Grund auf zu verändern, will Katjuscha heiraten und folgt ihr auf dem langen Weg in die Verbannung nach Sibirien.
    In Tagebuchnotizen bezeichnet Tolstoi diese Geschichte als "das Material für die Darlegung seiner Lehre", mit dem er "die Dinge im Licht seiner jetzigen Ansichten" zeigen möchte. Zugleich offenbart sich der Schaffensdrang des Schriftstellers, wenn er notiert: "Möchte oft schreiben und denke mit Freude daran." Und es sind diese beiden, einander widerstreitenden Pole, die den umfangreichen Text generieren: sein moralisches Anliegen, das ihn dazu drängt, seine radikale, oft als lustfeindlich und weltfremd betrachtete Weltverbesserungslehre ausführlich narrativ darzulegen und der unbändige Schreibimpuls des genialen Künstlers und Kenners der menschlichen Seele. Von diesem kaum lösbaren Widerspruch ist der Roman "Auferstehung" durch und durch geprägt. Daraus erklären sich seine Stärken und seine Schwächen.
    Provozierende Darstellung der Verlogenheit kirchlicher Rituale
    Mit der Romanhandlung zeichnet Tolstoi ein beeindruckendes Panorama Russlands der Zeit vor der Revolution 1905. Es ist eine schonungslose Anklage gegen die herrschende Gesellschaftsordnung. Seine Kritik zielt auf das ungerechte und rein formal funktionierende Rechtssystem, die kalte Bürokratie der Beamtenschaft, das unmenschliche Gefängniswesen und die Nichtigkeit und Leere des Luxuslebens der höheren Schichten. Dagegen setzt Tolstoi als Opfer des Systems eindrucksvolle Figuren aus dem einfachen Volk und beschreibt mit deutlicher Sympathie das moralische Verhalten der politischen Gefangenen, auch wenn er jede revolutionäre Gewalt ablehnt.
    Seine provozierende Darstellung der Falschheit und Verlogenheit der kirchlichen Rituale führte kurz nach Erscheinen des Romans zur Exkommunizierung Tolstois aus der orthodoxen Kirche.
    Die konkrete, positive "Darlegung seiner Lehre" dagegen, der angestrebte Wandlungsprozess Nechljudows, gerät dem Autor weniger überzeugend. So mündet der Roman im letzten Kapitel in ein seitenweises Zitieren aus dem Matthäus-Evangelium.
    Appell an jeden, sein Leben zu ändern
    Faszinierend jedoch ist zu sehen, wie sich bei der Gestaltung der komplizierten Liebesgeschichte zwischen Nechljudow und Katjuscha der große Charakterdarsteller und Menschenkenner Tolstoi gegen den starren und fanatischen Moralisten durchsetzt. Katjuscha nämlich braucht das Opfer ihres Verführers nicht. Sie erkennt instinktiv das Falsche und Erzwungene am Vorhaben Nechljudows und heiratet lieber einen der politischen Häftlinge.
    Die Lektüre von "Auferstehung" ist durch ihre radikale Infragestellung der herrschenden Ordnung, mit der letztlich die gesamte materialistische Zivilisation der Moderne gemeint ist, und den Appell an jeden, sein Leben zu ändern, auch noch für den heutigen Leser eine enorme Herausforderung. Es ist lohnend, sich dieser zu stellen!
    Lew Tolstoi: "Auferstehung", übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad, Carl Hanser Verlag München, 717 Seiten, 38 Euro