
Alles Lesen beginnt mit dem Gesicht. Das Gesicht ist die faszinierendste, lebendigste und geheimnisvollste Oberfläche, mit der wir Menschen konfrontiert werden. Und es ist der erste Text, den ein Kind lesen können muss. Sein Überleben hängt davon ab, die Gefühlslage seiner Mutter richtig einzuschätzen und herauszufinden, was es tun muss, damit sie ihm seine Bedürfnisse erfüllt. Deshalb schauen uns Kinder anders als Erwachsene an. Während wir diskret den Blick abwenden, schauen uns die Kinder direkt und anhaltend ins Gesicht, fast so, als würden sie durch uns hindurchschauen.
Hier wiederholt sich ein Vorgang, der gattungsgeschichtlich in jenem Moment von Bedeutung war, als sich die menschliche Entwicklung von der der Primaten zu differenzieren begann. Menschen lebten in Horden, sie begegneten dem Blick des anderen und stellten Spekulationen darüber an, was im Kopf des Gegenübers vor sich geht. Was denkt der andere und was denkt er über mich, das war die entscheidende Frage, die sich nur Menschen stellen.
In seiner Zeichenhaftigkeit stellt das Gesicht eine Art anthropologischer Urtext dar. Für die belgische Künstlerin Ingrid Godon wurde das Gesicht in seiner stereotypen und doch im Detail unendlich variantenreichen Anordnung der Merkmale von Augen, Nase und Mund zu einem Medium, mit dessen Hilfe sie von dem erzählt, was uns nicht sichtbar ist.
Das Denken selbst ist ein Text
Seit 2011 veröffentlicht sie die Bilderbücher "Ich wünsche", "Ich denke" und in diesem Herbst "Ich sollte". Zum großen Teil bestehen sie aus Gesichtern, die ihre Herkunft aus alten fotografischen Fundstücken nicht verleugnen, in denen die Menschen noch in steifer Haltung vor der Atelierkamera posierten. Woher stammt Ingrid Godons Interesse an diesen alten Beständen?
"Mein Vater war Amateurfotograf und ich erinnere mich, dass ich als kleines Kind oft in der Dunkelkammer gewesen bin, wenn er die Bilder entwickelte. Er machte Fotos aus dem Familienalltag und hatte auf dem Speicher kistenweise alte Fotografien. Gerade das Alltägliche interessiert mich heute sehr. Wir hatten auf dem Speicher kistenweise alte Fotos, auf denen Kindergruppen mit Onkeln und Tanten zu sehen waren. Auch im Zimmer meiner Großeltern gab es viele gerahmte Fotos an den Wänden auf denen man Menschen sah, die steif und ernst vor der Kamera standen."
Sie erinnert sich, dass sie die Gesichter damals schon genauso fasziniert betrachtete wie heute. Am Gesicht versuchen wir die Gefühle eines Menschen abzulesen. Was denkt er oder sie? Das Denken selbst ist ein Text, ein innerer Text. Wir sprechen zu uns.
Gefangen in der Projektion
Lächelnde Mienen kommen in den Porträts von Ingrid Godon nicht vor, da das Lächeln das Gesicht undurchdringlich macht. Ihre Inspiration holt sich die 59-Jährige aus Fotografien, wie sie in den Ateliers der Fotografen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Wobei die Statik der Pose ihre besondere Aufmerksamkeit findet. Auch ein Meister der Fotografie, wie August Sander - den Ingrid Godon bewundert - interessierte sich vor allem für den repräsentativen Aspekt einer Persönlichkeit, mit seiner Äußerlichkeit ließ sich ein Mensch in das gesellschaftliche Panorama der Zwischenkriegsepoche eingliedern. Godon verwandelt ein Porträt beim Transfer von der Fotografie zur Illustration jedoch in etwas grundsätzlich Anderes. Die Gesichter repräsentieren nicht mehr, sondern sie erzählen vom Kampf zwischen Fühlen und Denken, dessen Reaktionen sich auf dem Gesicht abzeichnen. Emotionen leuchten durch die Folie des Antlitzes, das Unsichtbare wird sichtbar. Wir sehen, dass diese Menschen mit inneren Konflikten ringen.
Entscheidend ist jedoch, dass das Unsichtbare nicht formuliert wird. Ingrid Godon öffnet eine Tür für unsere Imagination. Wir wissen nie wirklich, was der andere denkt, jede Einfühlung bleibt eine Form der Projektion. Oftmals stehen die Augen von Ingrid Godons Männern, Frauen oder Kindern weit auseinander. Was auf den ersten Blick wie ein Verfremdungseffekt wirkt, kann man auch als Angebot betrachten, mit dem den Betrachtern viel Raum für eigene Projektionen geboten wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns selbst nie zu Gesicht bekommen, wir brauchen unser Gegenüber, den Anderen - und Ingrid Godons Gestalten sind sehr anders - als sozialen Spiegel. Nur über die Reaktion der anderen Menschen erfahren wir etwas über uns selbst. So werden Ingrid Godons Porträts zu Medien, die uns auf uns verweisen. Das, was uns ihre Gesichter über Trauer, Schmerz, und Einsamkeit erzählen, ist unser Text, den unsere Stimme formuliert.
Der innere Kampf
Nun gehören zu der Trilogie der Bücher "Ich wünsche", "Ich denke" und "Ich sollte" auch die Texte des niederländischen Arztes und vielfach literarisch ausgezeichneten Lyrikers Toon Tellegen. Seine Texte sprechen von den Zweifeln, den Ängsten, dem Zorn und der Zerrissenheit des menschlichen Selbst. Da sagt zum Beispiel jemand:
"Ich sollte nicht bedauern, dass ich Dinge vergesse,
verliere, verschweige, vermassele, vergeude, vernachlässige,
übersehe, falsch einschätze, wegwerfe,
unterlasse, durcheinanderbringe … Ich bedaure es aber,
ich bedaure es sogar sehr.
Doch das sollte ich nicht."
verliere, verschweige, vermassele, vergeude, vernachlässige,
übersehe, falsch einschätze, wegwerfe,
unterlasse, durcheinanderbringe … Ich bedaure es aber,
ich bedaure es sogar sehr.
Doch das sollte ich nicht."
Hier spricht ein tyrannisches Über-Ich, das uns gnadenlos fordert. Man möchte anders sein, ist sich selbst nicht genug. Das "Ich sollte" verweist auf das Sein. Warum genügt es nicht, so zu sein, wie man ist?
Diese Texte formulieren etwas, das wir alle kennen, über das aber nie gesprochen wird. Die inneren Widerstände, die gegen offensichtliche Vernunft, gegen Effizienz und Zufriedenheit auf rätselhafte Weise von unserer Psyche gegen den Anspruch, reibungslos zu funktionieren, in Stellung gebracht werden. Hier meldet sich eine Stimme zu Wort, deren Berechtigung nur zu gerne von uns geleugnet wird, obwohl in ihr vielleicht unser eigentlich kreatives Potenzial zum Ausdruck kommt.
Das Sehen ist ein Fühlen
Mitnichten liefern die Texte von Toon Tellegen die Antworten auf die Fragen, die Ingrid Godons Bilder aufwerfen. Das versteht man, wenn man weiß, wie das Zusammenspiel der beiden zustande kam.
"Das ist tatsächlich ungewöhnlich. Wir arbeiten nicht wirklich zusammen. Man sieht das Bild und hat den Eindruck, der Text sei dafür gemacht. Das ist er aber nicht. Ich hatte für "Ich wünschte" eine große Familie von Porträts ausgewählt. Wir suchten jemanden, der die Texte schreiben konnte, fanden aber niemanden. Toon Tellegen wusste von dem Projekt und rief mich an, um zu fragen: ‚Wie weit bist du, hast du jemanden für die Texte gefunden‘? Ich sagte: ‚Nein, wir geben das Buch einfach so heraus, als Kunstbuch. Oder hast du Lust zu schreiben?‘"
Sie schickte ihm nur vier Bilder zu. Die hat er sich angesehen und die Herausforderung angenommen. Beim zweiten und dritten Band wollte er gar keine Bilder sehen. Die beiden wissen halt auch um die Wirkung ihrer jeweiligen Kunst. So hat man es hier auch nicht mit dem üblichen Verständnis von Illustration zu tun, bei dem ein Medium das andere ergänzt. Text und Bild sind vielmehr zwei unabhängige Spuren. Wenn sie sich kreuzen, dann deshalb, weil wir den Eindruck gewinnen, dass dieser Text etwas über jenes Gesicht aussagt oder auch nicht. Text und Bild bleiben Möglichkeiten, derer sich die Betrachter bedienen können. Selbstverständlich könnte auch alles ganz anders sein. Texte und Bilder dürfen für sich betrachtet werden, keiner braucht den anderen und jeder bleibt ein magisches Geheimnis. Ein Kunststück, das sich auch aus Ingrid Godons Umgang mit der Fotografie erklärt. So entdeckte sie die Atelierporträts des belgischen Fotografen Norbert Ghisoland, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die einfachen Leute in der Borinage, Belgiens Industrierevier, fotografierte.
"Ich war sehr fasziniert von diesen Menschen und ich habe sie mir wieder und wieder angeschaut. Wenn es in den Porträts jemanden gibt, der mich besonders berührt, dann beschließe ich ihn zu zeichnen. Das Bild ist dann nicht auf eine bestimmte Ähnlichkeit hin angelegt. Ich gehe vor allem vom Gefühl für die jeweilige Person aus. Es kann sein, dass die Augen auseinander stehen, die Frisur kann sich ebenso ändern wie die Kleidung. Wesentlich ist es, die Emotion in das Gesicht hineinzulegen. Es gibt aber auch Porträts, die ausschließlich meiner Vorstellung entstammen und keine Vorlage in der Fotografie besitzen."
Ein Reichtum an Überraschungen
Mit großer Präzision sind die Konturen der Gesichter gezeichnet. Ingrid Godon geht mutig mit der Farbe und der Fläche um, man könnte sich ihre Porträts gut auf Mauern und Häuserwänden vorstellen. Auch die Körper besitzen eine solche Lebendigkeit, dass man in ihren Gesten die Nachdenklichkeit der Menschen erkennen kann. Während die Fotografie die Oberfläche abtastet, zeigt sie uns den Raum, in dem sich Denken und Fühlen abspielen.
So wird in ihren Porträts das Sehen selbst zum Thema, das Sehen als eine andere Form des Fühlens, mit der wir das innere Leben der Anderen und damit uns selbst wahrnehmen. Im Grunde verlangen die drei Bücher von Ingrid Godon und Toon Tellegen deshalb auch das Gespräch. Schaut man sie mit anderen an, beginnt sofort der Diskurs über Menschen, ihre Persönlichkeiten, ihre Sorgen, ihre Freuden und den Reichtum an Überraschungen, den sie uns bescheren können.
Toon Tellegen, Ingrid Godon (Illustration): "Ich sollte"
Mixtvision, München, 96 Seiten, 29,90 Euro
Mixtvision, München, 96 Seiten, 29,90 Euro