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"Totes Gebirge" von Thomas Arzt
Die Kälte in und zwischen den Menschen

Für den österreichischen Autor Thomas Arzt ist die Sprachlosigkeit eines seiner zentralen Themen. Sein neues Stück "Totes Gebirge" siedelt er in einer Psychiatrie an und gibt einen Einblick in die österreichische Seele in Zeiten von ökonomischem Dauerstress und politischem Stillstand.

Von Hartmut Krug | 22.01.2016
    Eines Tages stand Raimund vor der psychiatrischen Klinik, bekleidet mit Jogginghose und Wanderschuhen. Dabei hatte er eine Spitzhacke und einen Brief an seine Schwester, in dem nur der eine Satz stand: "Mein Herz ist mir erfroren". Seitdem lebt er freiwillig in der Nervenklinik und tapert dort auf Strümpfen fast sprachlos umher. Seiner ihn besuchenden Schwester erklärt die Ärztin, der Bruder habe eine bipolare Störung, was bedeute: Ihm sei die Mitte abhandengekommen.

    Das Stück "Totes Gebirge" von Thomas Arzt spielt zwischen Weihnachten und Neujahr, denn natürlich geht es um die Kälte in und zwischen den Menschen. Die österreichische Seele, seit Schnitzler ein "Weites Land", ist bei Arzt schwer gestört. Nicht nur die Seelen der einzelnen Individuen, sondern auch die des gesamten Landes leiden bei ihm an einem Ohnmachtssyndrom, das vom Leistungs- und Erfolgsstreben hervorgerufen wird. Die im Programmheft abgedruckte "Neue Rede über Österreich" von Erwin Ringels aus dem Jahr 1984 versucht aufzuzeigen, wie schon in ihrer Sprache die Neurotisierung der österreichischen Gesellschaft angelegt sei.

    Thomas Arzt stattet seine Figuren mit einer Ahnung davon aus, dass etwas faul und kaputt ist in einem Lande, in dem politischer Stillstand herrscht. So ähnlich sagt es einer der nur drei Patienten. Die Ärztin denkt dagegen pragmatisch und wehrt sich mit dem Satz "Wir behandeln das Individuum, nicht die Gesellschaft." Ihr patenter Mitarbeiter, der sich um das marode Haus wie um die Patienten kümmert, sieht seinen Job als "Arbeit an der Verzweiflung."

    Mit seinem Stück "Totes Gebirge", für das er gleich zwei Stipendien erhielt, unterscheidet sich Thomas Arzt deutlich von anderen österreichischen Dramatikern seiner Generation. Während Ewald Palmetshofer und Ferdinand Schmalz hochartifizielle und sprachspielerische Texte verfassen, ist das neue Stück von Arzt realistisches Erzähltheater mit Untiefen und tieferen Bedeutungen. Es gibt keine Textfläche, sondern ein Stück, das seine Texte, was schon fast "altmodisch" anmutet, seinen einzelnen Figuren genau zuordnet. Es sind Texte, hinter denen aber mehr aufscheint, als deren Sprecher sagen.

    Auch deshalb gibt es einen Chor der Puppen, gespielt von allen Darstellern gemeinsam, der zur Musik der "Musicbanda Franui" immer wieder Texte zu Glück und Depressionen singt, - im österreichischen Dialekt. Das "Tote Gebirge" des Titels meint ein eintönig leeres Hochplateau aus sich auflösendem Kalkstein, durch das Raimund und seine Schwester Josefine einst gewandert sind. Doch bei der sinnsucherischen Wanderung trennten sich die beiden. Nun sucht die Ärztin auf den Fotos, die Josefine mitgebracht hat, nach Zeichen der Versteinerung im Gesicht ihres Patienten.

    Der hat seine Wohnung nebst den Biedermeiermöbeln zerdeppert, besitzt einen Schuldenberg und ist von seinem Lehrerberuf suspendiert, und wehrt sich gegen den Wunsch seiner Schwester, ihn aus der Klinik zu holen und in ihre Sachwalterschaft zu übernehmen. Während sich Josefine der Werbung von Emanuel erwehren muss, eines Patienten, der sich eigentlich längst aufgegeben hatte. Doch jetzt schmückt er die Klinik mit Blumen, will sich aber, nachdem er abgewiesen wurde, von hoch oben in den Tod stürzen. Es ist eine unaufgeregte, nie auf die Wirkungstube drückende, schöne und wunderbar bewegte Inszenierung. Der Autor und seine Regisseurin Stephanie Mohr zeigen auf kleiner Drehbühne keine Psychiatriefolklore, sondern normale Menschen, die aus ihrem Leben herausgefallen sind. Nepomuk, der wegen seines Drogenkonsums an einer Hirnschädigung leidet und auf die Ankunft eines alles ändernden Kometen hofft, aber fast immer vierfach fixiert wird, wirkt zugleich wie ein ganz normaler Mensch. So zeigen die sechs Darsteller das verletzte österreichische Seelenpanorama von Thomas Arzt mit zugleich kräftigem wie subtilem Spiel. Wie es nach der Silvesterfeier weitergeht, bleibt offen. Muss offen bleiben. Und die Puppen singen dazu.