Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Tradition und Moderne im Widerstreit

In China werden alte Menschen traditionell von ihren Kindern gepflegt. Der Respekt gegenüber den Eltern gehört seit Jahrhunderten zum konfuzianischen Wertekanon. Doch mit der wachsenden Mobilität wurden Familien auseinandergerissen. Und als Folge der Ein-Kind-Politik kommen auf immer weniger Junge immer mehr Alte.

Von Ruth Kirchner | 30.12.2012
    In einer winzigen Zweizimmerwohnung im Herzen Pekings wäscht Zhang Tianzhuang Gemüse fürs Mittagessen. Bohnen und Reis soll es geben. Der 55jährige ehemalige Fahrer kocht jeden Tag für sich seine 88 Jahre alte Mutter. Sie kann wegen Rückenproblemen kaum noch laufen. Doch die alte Frau in einem Altersheim unterzubringen kommt für Zhang, jüngster von vier Geschwistern, nicht in Frage:

    "Wir müssen doch die Wünsche der Alten respektieren – und meine Mutter wollte nicht ins Altersheim. Und dann geht es um das chinesische Konzept der Treue und des Respekts gegenüber den Eltern. Man muss den Eltern gehorchen, wir müsse sie respektieren und ihren Wünschen folgen."

    Dafür ist Zhang vor über einem halben Jahr aus seiner eigenen Wohnung aus- und bei seiner Mutter eingezogen. Seine Ehefrau und seinen fast erwachsenen Sohn sieht er seitdem nur noch am Wochenende.
    Pflichtgefühl gegenüber den Eltern wird chinesischen Kindern früh eingebläut. Jahrhundertealte Parabeln über die Treue und Hingabe zu den Eltern gehören bis heute zum Bildungskanon. Darunter die Geschichte eines Jungen, der im Winter mit seinem nackten Körper das Eis auf einem See schmilzt, um für seine Mutter frische Fische zu fangen. Aufgrund dieser Werte und Traditionen ist es bis heute ein Tabu, die alten Eltern ins Altersheim zu bringen.

    "Wir hatten Angst vor Kritik","

    sagt auch Zhang.

    ""Wie hätte ich das denn rechtfertigen sollen, dass meine Mutter Söhne hat, die sich nicht um sie kümmern und sie ins Altenheim schicken?"

    Doch die alten Vorstellungen geraten zunehmend in Konflikt mit der modernen Lebenswirklichkeit. Millionen von Menschen sind in den letzten Jahrzehnten vom Land in die Stadt gezogen, um dort ein besseres Auskommen zu finden. Ihre Eltern haben sie auf dem Dorf gelassen. Und auch die Ein-Kind-Politik trägt dazu bei, dass sich nicht jeder um seine alten Eltern kümmern kann. In China spricht man vom "4-2-1-Problem". Ein Kind hat später zwei alte Eltern und vier Großeltern zu versorgen. Für viele führt daher am Altersheim kein Weg vorbei.

    In diesem Altersheim im Osten Pekings singen freiwillige Helfer für die Bewohner. Im Songtang-Heim leben 300 alte Menschen – die meisten über 80, bettlägerig und pflegebedürftig. Darunter auch die 86jährige Zou Ying:

    "Mein Sohn hat dieses Zimmer für mich ausgesucht. Es ist schön hier. Im Sommer kühl und im Winter warm. Nur ein bisschen teuer. 600 Euro im Monat für ein Einzelzimmer. Beim Essen, Waschen und Duschen habe ich Hilfe. Alle sind sehr nett zu mir."

    Ihr einziger Sohn hat als gut verdienender Manager kein Problem mit den Kosten. Trotzdem war es für Jiang Wanli keine einfache Entscheidung, seine Mutter im Songtang-Heim einzuquartieren:

    "Ich hatte anfangs Sorge, dass die Leute schlecht über mich reden könnten. Die Menschen sind halt noch sehr traditionell. Nur wenige trauen sich zu tun, was ich gemacht habe. Aber schon wegen der Ein-Kind-Politik müssen sich die Einstellungen ändern. Viel mehr alte Menschen werden ins Heim gehen müssen."

    Denn Chinas Gesellschaft altert rapide. Bereits heute leben in China fast 180 Millionen Menschen über 60. In drei Jahren könnten es 220 Millionen sein – und eines Tages sogar jeder dritte Chinese. Wer sich um all die Alten kümmern soll, ist unklar. Das Rentensystem ist noch im Aufbau. Auf dem Land ist die soziale Absicherung minimal. Kostengünstige Pflegeeinrichtungen sind im ganzen Land Mangelware. Die Regierung setzt daher auf das Pflichtgefühl der Kinder.

    Sohn Zhang Tianzhuang muss an seine Pflichten nicht erinnert werden. In der Wohnung seiner Mutter singt er ihr oft alte Lieder vor und plaudert mit ihr über alte Zeiten. Er kocht und wäscht für sie und hilft ihr beim Duschen. Doch auch er weiß, dass dieses Konzept keine Zukunft hat und sein eigenes Leben später anders aussehen wird.

    "Wir haben heute andere Vorstellungen als meine Mutter. Ich habe nur ein Kind. Für mich ist es am wichtigsten, dass dieses Kind später ein gutes Leben hat. Meine Frau und ich haben kein Problem damit, später in ein Altersheim zu gehen. Wir sind anders als meine Mutter. Das ist der große Unterschied zwischen ihrer und meiner Generation."

    Die alten Traditionen haben dennoch nicht ausgedient. Angesichts der gewaltigen Probleme, die auf China zukommen, hat die Regierung im Sommer die jahrhundertealten Parabeln der Treue und des Pflichtgefühls in einer modernen Version neu aufgelegt: Besuch Deine alten Eltern oft, heißt es dort. Schau alte Filme mit ihnen an, zeige ihnen, wie das Internet funktioniert, gehe mit ihnen auf Reisen. Ein Versuch, die jüngere Generation an ihre Pflichten gegenüber den Eltern zu erinnern. Dass es dafür nicht nur Lob gab, sondern – wegen vieler unrealistischer Vorschläge – auch eine Menge Kritik, ist ein weiteres Zeichen dafür wie sehr Tradition und Moderne in China heute aufeinanderprallen.

    Serie im Überblick:
    Clash of Cultures - Neue Kulturkonflikte