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"Träumer und Sünder"
Erzählungen eines Filmmoguls

Ein wenig bekannter Journalist versucht, einen alternden Filmproduzenten zu knacken, und scheitert - zunächst. Dann jedoch gewinnt Matthias Göritz' so raffinierter wie verspielter Roman an Fahrt.

Von Dina Netz | 28.05.2014
    Der Autor Matthias Göritz auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse, aufgenommen 2006
    Der Autor Matthias Göritz auf der Frankfurter Buchmesse 2006 (picture alliance / dpa / Frank May)
    "Wussten Sie, dass in Griechenland auf den Möbelwagen Metafora steht. Das haut einen doch um. Umzug: die Metapher an sich. Wie kamen wir darauf? Ach ja, ich bin in die Nähe von Rom gezogen, weil ich es in letzter Zeit in Los Angeles und New York nicht mehr ausgehalten habe. Die Luft, der Verkehr, dauernd will jemand etwas von einem; mein Herz macht das nicht mehr mit. Immer das Zugpferd sein, immer die gleiche hoch trainierte Nummer. Nicht, dass Sie mich missverstehen: Ich bin diesen Monat noch in Cannes; vom Geschäft zurückgezogen habe ich mich nicht. Aber ich brauche Veränderung, Wechsel, der nicht nur mit Kulissen, Badezeug, Morgenrock, Produktionsschlabberlook und Abendgarderobe für Partys und Premieren zu tun hat. Italien tut mir gut. Kann man durchatmen." (S. 7 f.)
    Mit dieser Szene zu Anfang von "Träumer und Sünder" ist das Setting umrissen, wie man beim Film sagen würde. Denn um Film geht es hier. Der da spricht, ist unverkennbar einer der ganz Großen: Helmut Erlenberg, Produzent und eine zentrale Figur des deutschen Kinos. Ein zurückgezogen lebender alter Mann, über dessen Biographie kaum etwas bekannt ist. Deshalb greift der Film-Journalist Velder Dierks beherzt zu, als er einen exklusiven Interview-Termin bei Erlenberg bekommt – eine Riesenchance. Doch bald muss er feststellen, dass er den Produzenten nicht "knacken" kann, sondern dass der immer nur genau das erzählt, was er gerade lancieren möchte. Zum Beispiel die ersten Informationen zu seinem nächsten Filmprojekt "Gleiwitz" über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Matthias Göritz charakterisiert den Produzenten so:
    "Helmut Erlenberg ist ein alter Mann, der am Ende seines Lebens eigentlich noch mal alle seine Energie bündeln möchte, um diesen Film über den Überfall auf den Sender Gleiwitz zu produzieren. Das Gespräch mit dem Interviewer interessiert ihn auch, weil er ihm im Prinzip ein bisschen so was wie seine Lebenssumme erzählen möchte. Allerdings noch nicht ganz am Anfang. Am Anfang scheint Helmut Erlenberg vor allem auch daran interessiert zu sein, hier einen Promoter oder eine Speerspitze für die Promotion seines neuen Films, der ja gerade noch am Entstehen ist, zu finden. Von daher ist er ein extrem manipulativer Erzähler, aber dadurch vielleicht auch jemand Interessantes. Das sind für mich die Erzählfiguren, die mich immer am meisten interessiert haben. Humbert Humbert in Nabokovs Roman "Lolita" zum Beispiel ist auch so jemand, der in völliger Begeisterung für seine Materie, das Erinnern, die Sprache, die Schönheit und dann eben auch seine Leidenschaft und Lust für Lolita entbrennt. Erlenberg entbrennt vollständig für seine Leidenschaft fürs Kino."
    Recherche in Los Angeles
    Erlenberg weiß genau, was "der Interviewer", wie Göritz Velder Dierks über weite Strecken nur nennt, hören will: biographische Informationen, am liebsten Skandale. Doch damit Dierks ihn immer wieder besucht, erzählt Erlenberg genau das nicht. Oder nur gerade so viel davon, dass der Journalist etwas zum Schreiben hat. Manchmal sogar nicht mal das, sodass das große Magazin Dierks wegen miserabler Interviewführung den Auftrag kündigt. Denn Erlenberg schwadroniert endlos über die Filmbranche und ihre Mechanismen – meistens schimpft er auf sie. Bei Matthias Göritz klingt das tatsächlich wie der Bericht von einem, der sich bestens auskennt:
    "Nielsen-NRG-Ratings, das ist das Zauberwort, davon sind wir alle abhängig, das kann so bescheuert sein, wie es will, da wird entschieden, ob der Regisseur noch mal antanzen darf, ein anderes Ende, ein Nachdreh, die sanftere Lösung. Die Päpste des Geschmacks sind längst nicht mehr die Kritiker. Wen interessiert bei Sony oder Fox denn ein übergewichtiger 56-Jähriger, wenn das Zielpublikum weibliche Teenager sind? Filme haben keine Zeit mehr, ihr Publikum zu finden, das Publikum wird identifiziert, und die Filme werden so konzipiert, dass die Kampagnen eine Chance haben in einer oder, im günstigen Fall, in mehreren der Gruppen." (S. 31)
    "Das habe ich über Jahre hinweg recherchiert. Ich hatte 2006 das Glück, länger in Los Angeles sein zu dürfen, und hatte das Glück, Michael Tolkin kennenzulernen. Einen Produzenten, sehr sehr guten Schriftsteller und Filmemacher, der in den 90er Jahren einen Schlüsselroman über Hollywood geschrieben hat: "The Player". Robert Altman hat das damals kongenial verfilmt und Tolkin hat dann seinen Reichtum, der ihm dadurch sozusagen zukam, genutzt, um selber sehr interessante Filme zu produzieren. Er ist ein mittlerer Produzent, also keiner von den ganz Großen. Über Tolkin lernte ich dann in Hollywood sehr interessante Leute kennen aus der Filmbranche - von Kameraleuten über Regisseure über weitere Produzenten. Ich bin eigentlich dann an diesem Thema immer dran geblieben. Ich bin ein großer Kinoliebhaber seit meinem vierten Lebensjahr."
    Mann ohne Eigenschaften
    "Träumer und Sünder" ist also ganz sicher eine Hommage ans Kino. Aber der Roman hat einige Ebenen mehr. Zum Beispiel erzählt er auch eine Art Vater-Sohn-Geschichte, zumindest die Geschichte eines Generationswechsels, und eine Liebesgeschichte – wiederum angereichert mit Film-Motiven, der Schluss ist geradezu hollywoodesk.
    Wie sich herausstellt, hat Helmut Erlenberg Velder Dierks sehr bewusst für seine Zwecke ausgewählt: Dierks ist zumindest anfangs eine Art Mann ohne Eigenschaften und damit formbar.
    "Allerdings genau wie Ulrich, der Held des "Mannes ohne Eigenschaften" von Robert Musil, ist Velder Dierks auch jemand, der nicht ohne Talent ist und auch nicht ohne Ausstrahlung. Es ist nicht zufällig, dass Helmut Erlenberg sich nicht einen Chefjournalisten aus der großen Etage holt, sondern einen mittleren Journalisten, der seinen Weg noch nicht gemacht hat. Er will jemand Hungrigen und er will jemanden, der sich für ein Thema interessiert, was ihn auch interessiert. Velder Dierks ist gar nicht so leer und so uninteressant, wie man im ersten Moment denkt. Er hat einfach nur das Pech, im Schatten eines großen Mannes da zu sitzen und einen Weg finden zu wollen, wie man denn aus diesem Mann die Geschichten heraus bekommt, die es tatsächlich wert sind, überliefert und erzählt zu werden."
    "Über die Kraft des Erzählens"
    "Träumer und Sünder" ist also ein Roman über das Kino, einer über einen alten Mann, der sein Vermächtnis an einen jüngeren weitergibt – und vor allem ist es ein Buch über das Erzählen, über den aufregenden Bereich zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Erlenberg hat Macht über den Journalisten, weil der seine Geschichte haben will; er kann ihn dadurch manipulieren, ihm genau das erzählen, was er möchte. Und im Erzählen erfindet Erlenberg sich selbst neu. Aber auch Matthias Göritz vermischt gern Fiktion und Realität. Im Buch treten reihenweise reale Filmpersönlichkeiten auf, die er für seine Geschichte einspannt. Die überhaupt voll von Filmklischees und Zitaten ist.
    "Es ist eben gar nicht unbedingt nur ein Buch über Film, sondern es ist über die Kraft des Erzählens, so könnte man sagen. Was löst es eigentlich aus, warum tun wir das? Fakten sind ja Dinge, die einfach nur passieren. Wie wir mit ihnen umgeben, was für einen Sinn wir ihnen geben, wie wir mit ihnen weiter handeln, das ist immer die Aufgabe einer Erzählung. Also immer die Aufgabe letztlich einer kleinen Kunstform im Sinne eines Gesprächs oder einer Selbsterzählung, wie wir sie hier vorfinden. Dadurch ist sie natürlich von Anfang an auch manipulativ. Sie stellt Zusammenhänge her, die es vielleicht vorher gar nicht gegeben hat. Aber sie ist dadurch auch extrem wirksam, wenn wir uns selber anschauen, wie wir uns unser Leben erzählen zu unterschiedlichen Zeiten in unserem Leben nach einer Trennung, in der Phase der ersten großen Verliebtheit. Dann unterscheiden sich unsere Erzählungen von uns selbst ja ungemein. Das heißt, wir manipulieren nicht nur die anderen, sondern auch uns selbst."
    Um alle Anspielungen, Zitate und erzählerischen Kniffe von "Träumer und Sünder" zu bemerken, muss man den Roman sicher mehrmals lesen – so raffiniert und verspielt ist er gebaut. Hut ab vor Matthias Göritz' Leistung, so intelligent so viele Fährten auszulegen. Allerdings klappert „Träumer und Sünder" auch ein bisschen zu stark mit dem Werkzeug. Denn so vergnüglich es ist, allen filmischen und literarischen Spuren nachzugehen – die eigentliche Geschichte geht unter dem Metaebenen-Ballast, den sie transportieren muss, ein wenig in die Knie. Es dauert zu lange, bis Helmut Erlenberg endlich doch Persönliches verrät und seine Erzählungen einen deshalb wirklich packen. Bis dahin geht es einem beim Lesen ein bisschen wie Velder Dierks beim Interview: Man ist gezwungen, dem über den Untergang der Filmkunst schwadronierenden Erlenberg zuzuhören. Und das ist nicht unbedingt fesselnd. Aber zumindest interessant. Und "Träumer und Sünder" ist ein selbstreflexives literarisches Experiment, dem man bei aller Konstruiertheit doch die Lust am Erzählen anmerkt.
    Matthias Göritz: Träumer und Sünder
    Roman, Verlag C.H. Beck, 238 Seiten, 18,95 Euro