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Traumabewältigung eines Philosophen

Zu Lebzeiten sorgte Sören Kierkegaard gleich für mehrere Skandale. Passend zum 200. Geburtstag des dänischen Theologen und Philosophen erscheint sein "Tagebuch des Verführers" in einer überarbeiteten Ausgabe – der Text gehört zu seinen bekanntesten, aber auch umstrittensten.

Von Carola Wiemers |
    "Von Kindheit an war ich in der Gewalt einer ungeheuerlichen Schwermut, deren Tiefe ihren einzigen wahren Ausdruck findet in der mir vergönnten gleich ungeheuerlichen Fähigkeit, sie unter scheinbarer Heiterkeit und Lebenslust zu verstecken … Ich bin auch nie, nur einen Augenblick in meinem Leben von dem Glauben verlassen gewesen, man kann, was man will, nur eines nicht, alles andere sonst unbedingt, eines aber nicht, nicht die Schwermut beheben, in deren Gewalt ich war."

    Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard war ein Mensch, der in Extremen dachte und lebte. Ihn trieb die Frage um, wie der christliche Glaube in einer Gesellschaft zu verteidigen sei, die vom Prozess der Säkularisation erfasst ist.
    1813 in Kopenhagen geboren, wurde Kierkegaard nur 42 Jahre alt. Am 2. Oktober 1855 brach er mitten in Kopenhagen zusammen und starb am 22. November.

    Kierkegaard hinterließ ein beachtliches Werk, das in nahezu zwei Jahrzehnten entstand. In einem eleganten, bildhaften Prosastil verfasst, lesen sich seine Schriften wie ein Stück bester Literatur. Mit erzählerischem Talent durchdenkt er die Kardinalthemen Wahrheit, Liebe, Angst, Krankheit und Tod. Seine Autorschaft versteckt er hinter verschiedenen Pseudonymen: Johannes de Silentio, Constantin Constantinus, Hilarius Buchbinder. Sein philosophisches Debüt "Entweder – Oder. Ein Lebensfragment" von 1843 wird einem gewissen Victor Eremita zugeschrieben. Allerdings ist Eremita, so wird gleich zu Beginn berichtet, nur der Herausgeber des Werks, da er das Konvolut zufällig in einer Schublade seines Sekretärs gefunden habe.

    "eine geheime Tür (sprang) auf, die ich nie zuvor bemerkt hatte. Diese verschloss ein Fach, das ich natürlich auch noch nicht entdeckt hatte. Hier fand ich zu meiner großen Überraschung eine Menge von Papieren, jene Papiere, die den Inhalt der vorliegenden Schrift ausmachen."

    Die Architektur des Fundortes nutzt Kierkegaard auch für die Struktur von "Entweder – Oder". So wie der Sekretär aus einem System von Schubladen besteht, verschachteln sich die einzelnen Teile labyrinthisch zu einem Textganzen. Jeder birgt in sich ein Geheimnis, dessen suggestive Kraft den Leser dazu bringt, seine eigenen inneren Schubladen zu öffnen. Auch "Das Tagebuch des Verführers", das ursprünglich ein Teil von "Entweder – Oder" war, kann als ein solches Fundstück verstanden werden. Es gerät dem Icherzähler ebenfalls zufällig in die Hände.

    "Entgegen seiner Gewohnheit hatte er seinen Sekretär nicht geschlossen, dessen gesamter Inhalt stand mir also zur Verfügung; doch würde ich mein Vorgehen vergeblich zu beschönigen versuchen, indem ich mich selbst daran erinnerte, dass ich keine Schublade geöffnet habe."

    Dem Leser eröffnet sich anhand der Aufzeichnungen das Innenleben eines "verderbten Menschen" namens Johannes. Er ist eine raffinierte Kopfgeburt Kierkegaards - eine Resonanzfigur, mit der er seine eigenen Unzulänglichkeiten – ästhetisch wie ethisch – auskostet. Denn Ästhetik und Ethik sind im Kosmos des dänischen Denkers wichtige Koordinaten, die auch für das Verständnis des "Tagebuchs" hilfreich sind.

    "Ich bin ein Ästhetiker, ein Erotiker, der das Wesen der Liebe und ihren wesentlichen Punkt erfasst hat, der an die Liebe glaubt und sie von Grund auf kennt, und ich behalte mir lediglich die private Meinung vor, dass jede Liebesgeschichte höchstens ein halbes Jahr dauert und dass jedes Verhältnis vorbei ist, sobald man das Letzte genossen hat. All das weiß ich, und gleichzeitig weiß ich, dass sich kein höherer Genuss denken lässt, als geliebt zu werden, heißer geliebt als alles in der Welt. Sich in ein Mädchen hineinzudichten ist eine Kunst, sich aus einem Mädchen herauszudichten ist ein Meisterstück."

    Da Johannes vor lauter hochtouriger Denkerei und dichterischer Ambition an einer "Erhitzung des Gehirns" leidet, muss er seinem Denkapparat eine Abkühlung verschaffen. Die findet er in Cordelia, einem Mädchen, das sich an der Schwelle zum Erwachsensein befindet.

    "ich suche meine Beute stets unter jungen Mädchen, nie unter jungen Frauen. Eine Frau hat weniger Natur und mehr Koketterie, die Beziehung zu ihr ist nicht schön, nicht interessant, sondern pikant, und das Pikante ist immer das Letzte."

    Johannes observiert Cordelia, bemächtigt sich ihrer seelischen Entwicklungsgeschichte, um mit ihrem Lebensmaterial zu neuer Denk- und Sprachkraft zu kommen. Das Tagebuch soll die "vollständige Darstellung" seiner Beziehung zu Cordelia enthalten. Denn ein toter Buchstabe – so Kierkegaards Johannes - hat mehr Macht als jedes "lebendige Wort".

    "ich will dich dichten! Ich will nicht Dichter für andere sein – zeig dich, ich dichte dich, ich fresse meine eigene Dichtung auf, und das ist meine Nahrung."

    Johannes’ Besitzanspruch ist totalitär, das macht sein Vorgehen – ethisch gesehen – strafbar. Mit strategischem Geschick kreuzt er Cordelias’ Wege, bringt sich schamlos in ihre Nähe und notiert jede ihrer Bewegungen und Absichten. Kierkegaards obsessiver Feldzug gegen die erwachende Weiblichkeit dient der egoistischen Reflexion im Erleben fremder Sinnlichkeit. Der wahre Genuss verbirgt sich nicht in dem, was man genießt, sondern in der Vorstellung davon.
    Johannes weiß, dass er sich selbst betrügt, wenn er diesen Vorgang – ästhetisch gesehen - als eine Art "Bildungsperiode" bezeichnet. Um möglichst unerkannt zu bleiben, verhält er sich wie ein Mensch ohne Schatten.

    "Von diesem Mann könnte man sagen, dass sein Weg durchs Leben spurlos war (denn seine Füße waren dergestalt eingerichtet, dass er die Spur an den Sohlen behielt – so stelle ich mir seine unendliche Reflektiertheit in sich selbst am ehesten vor), und ebenso könnte man von ihm sagen, dass ihm nichts zum Opfer fiel. Er lebte allzu sehr geistig, um ein Verführer im allgemeinen Sinn zu sein."

    Der Extremdenker Kierkegaard stellt im "Tagebuch des Verführers" Spielregeln auf, die faszinieren und irritieren. In Johannes hat er ein Alter Ego geschaffen, das in "äußerster Gedankenfreiheit", skrupellos agiert und dabei vom Voyeur zum Täter mutiert. Er verschafft Cordelia sogar einen Verlobten namens Edvard, um das Paar kurz darauf wieder zu trennen, da eine Verlobung "philiströs und spießbürgerlich" sei.

    "Das Verfluchte an einer Verlobung ist immer das Ethische dabei. Das Ethische ist in der Wissenschaft ebenso langweilig wie im Leben. Welch ein Unterschied: Unter dem Himmel der Ästhetik ist alles leicht, schön, flüchtig, wenn die Ethik hinzukommt, wird alles hart, eckig, unendlich langweilig."

    Er feiert Edvards maskuline Kläglichkeit vor Cordelia als eigenen Sieg und verlobt sich dann selbst mit ihr, um sie ganz zu besitzen. Als "das Letzte", der Akt körperlicher Liebe, vollzogen ist und diese Liebe nun gelebt werden müsste, lässt Johannes von der heiß Begehrten ab.

    "Ich will an meine Beziehung zu ihr nicht erinnert werden... Ich habe sie geliebt, aber von jetzt an kann sie meine Seele nicht mehr beschäftigen. Wäre ich ein Gott, so würde ich für sie tun, was Neptun für eine Nymphe tat – ich würde sie in einen Mann verwandeln."

    Im "Tagebuch des Verführers" finden sich biografische Verweise, die Kierkegaards Liebe zu der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen betreffen. Der 25-Jährige lernt sie 1837 kennen, 1840 verloben sie sich. Dreizehn Monate später schickt Kierkegaard den Ring zurück und schreibt rückblickend im Notizbuch:

    "Wäre ich nicht schwermütig gewesen, die Verbindung mit ihr würde mich so glücklich gemacht haben, wie ich es mir nie hätte träumen lassen… sie hatte mich gerührt und ich hätte gern, liebend gern alles getan."

    So ist "Das Tagebuch des Verführers" auch Kierkegaards Versuch, sich schreibend von diesem traumatischen Ereignis zu befreien. Der Name Cordelia/Regine geht dabei als Möglichkeit für eine große Schuld in die Literaturgeschichte ein. Im letzten Absatz entwickelt Kierkegaard allerdings noch den höchst interessanten Gedanken von einem "Nachspiel".

    "Es wäre doch wirklich wert zu wissen, ob man imstande wäre, sich dergestalt aus einem Mädchen herauszudichten, dass man sie so stolz machen könnte, sich einzubilden, sie sei diejenige, die des Verhältnisses überdrüssig wäre."

    Man verkennt die gnadenlose Konzeption des Tagebuchs, wenn man Johannes’ Cordelia-Experiment auf einer identifikatorischen Ebene liest oder in ihm das Paradebeispiel einer misogynen Manipulation sieht. Gewiss treibt Kierkegaard das Denken über ein Tabuthema über die ethisch vertretbare Schmerzgrenze hinaus, indem er den Verführer in "äußerster Gedankenfreiheit" agieren lässt. Doch zeigt sich dabei auch, wie dieser selbst zum Verführten wird. Die suggestive Kraft der Schrift, die Macht des toten Buchstaben triumphiert nur dann in gefährlicher Weise, sobald sie ihre ästhetische Faszination verliert und in die Alltäglichkeit übertragen wird.


    Søren Kierkegaard: "Tagebuch des Verführers". Aus dem Dänischen übersetzt von Gisela Perlet. Nachwort von Elmar Krekeler.
    Manesse Verlag, Zürich 2013, 319 Seiten, 19,95 Seiten.


    Mehr zum Thema:

    Jugendjahre und das romantische Lebensgefühl - Serie "Sören Kierkegaard - Vater der Existenzphilosophie" (Teil 1)

    Der Einzelne und die Massengesellschaft - Serie "Sören Kierkegaard - Vater der Existenzphilosophie" (Teil 2)

    Das Christentum ist keine Lehre - Serie "Sören Kierkegaard - Vater der Existenzphilosophie" (Teil 3)