Steve Mann sitzt in seinem "MannLab" zwischen unzähligen Computern, Kabeln und Monitoren. Beim Sprechen schielt er ab und zu mit seinem rechten Auge über die Apparatur, die direkt davor angebracht ist. Ungefähr 30 Jahre lang ist die Kamera bereits ein Teil seines Körpers. Der Kanadier experimentierte also schon sehr früh mit der damals neuen Technologie. Heute gilt er als einer der Väter der so genannten "Wearables": Computer, die man wie Kleidung tragen kann:
"1974 habe ich eine Art Verstärker gebaut, den ich als 'Wearable' am Kopf befestigt habe. Damit konnte ich Radio- und Klangwellen sehen und so die Welt verstehen. Zu der Zeit fanden die Leute das sehr seltsam. Weil ich komisch aussah, haben sie die Straßenseite gewechselt, um mir aus dem Weg zu gehen. In den 80ern habe ich aber eine Veränderung ihrer Wahrnehmung festgestellt. Menschen sind dann zu mir über die Straße gerannt. Sie haben angefangen, mit mir zu sprechen und gesagt: 'So ein Gerät will ich auch!'"
Ideengeber für Augmented-Reality-Brillen
Damals war Mann der einzige. Mittlerweile gibt es die Geräte zu kaufen: Augmented-Reality-Brillen wie zum Beispiel "Google Glass" oder die Microsoft "HoloLens" sind zwar noch nicht ganz ausgereift, aber sie erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. In jeder stecken die Ideen von Steve Mann:
"Die Brille verarbeitet die Daten. Das Computersystem funktioniert wie eine Sehhilfe. Wir haben früher aber auch ein paar Experimente mit Big Data gemacht. Ich habe die weltweit erste Webseite entwickelt, die Fotos veröffentlicht hat. Wir hatten eine Community mit ungefähr sechs Millionen Usern, die ihr Leben geteilt haben."
Heutzutage speichert Mann die abgefilmten Erlebnisse nicht mehr so oft. Den Vorgang hat er aber geprägt und ihm auch einen Namen gegeben: "Sousveillance". "Sous" bedeutet im Französischen "unter", "Veillance" stammt von dem Verb "veiller": auf etwas aufpassen. Im Gegensatz dazu steht "Surveillance" - "Sur" bedeutet: über den Dingen, "von oben" aufpassen, so wie Überwachungskameras um uns herum.
"Ich bin nicht unbedingt gegen Überwachung, aber schon gegen die Einseitigkeit davon, was heißen soll: Ich finde, wir brauchen das Aufpassen und nicht das Kontrollieren. Wir sollten uns von einer überwachenden Gesellschaft hin zu einer aufpassenden Gesellschaft bewegen."
Identität konservieren
Etwa 550 Kilometer weiter östlich in Montréal bezieht sich auch Mati Roy auf die Sousveillance. Der 28-Jährige nimmt sein gesamtes Leben auf. Er speichert mit Hilfe einer Audio-App auf seinem Smartphone und einer kleinen GoPro-Videokamera 24 Stunden lang seinen Alltag:
"Der Hauptgrund, mein Leben aufzunehmen, war, dass ich meine Identität konservieren wollte. Ich habe jetzt aber festgestellt, dass es noch viele andere Gründe und Vorteile gibt: Ich kann mich an Dinge erinnern. Erlebnisse können mich inspirieren. Ich kann mir Gespräche - wie zum Beispiel dieses Interview - noch einmal anhören und schauen, wie es gelaufen ist."
Familie und Freunde live on tape
Seit August 2018 dokumentiert der Québecer nun schon sein Leben. Vor dem Schlafengehen speichert er den Tag ab und startet eine neue Aufnahme für die Nacht. In seinem Umfeld weiß jeder über die Praxis Bescheid. Seine Familie habe nichts dagegen und seine Freunde hätten sich auch damit abgefunden, sagt Roy. Bei persönlichen Gesprächen oder Diskussionen mit entfernten Bekannten, erwähnt er jedes Mal, dass sie dabei aufgenommen werden. Die Gesprächspartner können dann selber entscheiden, ob die Aufnahme gestoppt werden soll. Das sei aber nur sehr selten passiert.
"So lange ich den Leuten sage, dass ich sie aufnehme, ich selber Teil der Unterhaltung bin und nichts veröffentliche oder anderen Leuten zeige, gibt es da keine legalen Befürchtungen. Das gilt für Québec. In der Regel ist es okay, das zu machen. Wenn man die Aufnahmen aber bewusst gegen jemanden öffentlich einsetzt, dann ist das natürlich legal viel komplizierter."
Hoffnung auf Wiederbelebung
Das Ganze erinnert an eine "Black Mirror"-Episode, die "Truman Show" oder an den dystopischen Roman "The Circle" von Dave Eggers: Politiker entscheiden sich in der Geschichte dazu, ihre Leben transparenter für die Wählerinnen und Wähler zu machen, indem sie ihr gesamtes Leben live streamen. Mati Roy hat derzeit aber kein Interesse daran, seinen Alltag mit anderen zu teilen. Ihm geht es ausschließlich um seine Zukunft und seinen Tod. Der Kanadier glaubt fest daran, dass es in einigen Jahrzehnten möglich sein wird, mit Hilfe von gesammelten Daten, ein konserviertes Gehirn wieder so zu programmieren, wie es zu Lebzeiten existiert hat.
"Ich habe mich bereits bei dem weltweit größten Anbieter für Kryonik eingeschrieben. Das bedeutet: In dem Moment meines Todes, werden sie meinen Körper in -195 Grad flüssigen Stickstoff einfrieren. Ich hoffe, dass zukünftige Generationen mich dann wiederbeleben werden und den Grund meines Todes und das Altern heilen können."