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Trífero

Schwerer Körper auf dünnem Eis, Druck der Kufen auf fragiler Fläche: Im Frühling soll man nicht mehr Schlittschuh laufen. Denn irgendwann bricht das abgeschmolzene Parkett, erst sinkt der Fuß, ihm folgt der Rest, und unterm Wasser triumphiert der Tod.

Kersten Knipp | 01.11.2002
    Rasant endet das Leben der Lotte Happensauer, und mit ihm das kurze Glück von Saúl Trífero: Fatalist, Hochstapler und Witwenverführer, durch die Ehe mit Lotte, Tochter aus alter norwegischer Familie, unverhofft zu Geld gekommen, nun genauso rasch wieder ins Nichts gestoßen. Norwegen, so das Fazit dieser sanften Liebesgeschichte, verweigert ihm die Zukunft. Auf gehts darum von der Alten in die Neue Welt, Zitat: "Der Schiffbruch seines Lebens spülte Trífero an die Küste Manhattans." Loriga hat einigen Mut bewiesen, den Übergang vom ersten zum zweiten Teil seines Romans einer derart windigen Metapher anzuvertrauen. Und wirklich droht sie den Aufbau des Ganzen allzu leicht zu kippen; zumindest reicht sie nicht, es zu einer festen Einheit zu binden. Doch vielleicht soll sich dieses Leben auch gar nicht zusammenfügen, sollen die komplizierten Routen dieser unendlichen road-story auch gar keinen erkennbaren Plan abgeben. Tríferos Leben jedenfalls eilt in wirren Schritten dahin, und darum, so der Erzähler auf den ersten Seiten, sollte es auch, Zitat, "keinen wundern, wenn wir von hier nach dort und von dort wieder zurück nach hier springen, und zwar nicht nur aus einer Laune heraus, was durchaus auch seine Vorzüge hat, sondern wegen der Notwendigkeit, Farbe ins Porträt zu bringen, was fast genau so wichtig oder sogar noch wichtiger ist als die Zeichnung selbst." Und doch, es scheint, als habe der gewaltige Satz über den großen Teich den Erzähler so ermüdet, dass ihm zu weiteren Sprüngen schlicht der Atem fehlt: Einige Kapriolen am Anfang, dann laufen die beiden Teile stringent auf ihr Ende zu - zum Ausgleich für die Verwirrung womöglich, die der Erzähler in den Köpfen mancher seiner Protagonisten findet.

    Denn um sich seinem eigentlichen Thema zu nähern, muss Loriga zunächst die Hoffnungen weiterer Protagonisten brutal scheitern lassen. Die des Professors Jerusalems etwa, eines ehrgeizigen, aber nur mäßig begabten Physikers, dem der ersehnte wissenschaftliche Ruhm partout nicht zufallen will. Was läge da näher, als sich einen Namen wenigstens im pseudowissenschaftlichen Feld zu machen, in jenes esoterische Dunkel vorzustoßen, das seit Einsteins Entdeckungen auf technizistisch inspirierte Wirrköpfe unwiderstehliche Reize ausübt. "Parallele Universen, fast in Reichweite, aber immer noch viel zu weit weg", das ist Jerusalems großes Thema, denn dieses milde Reich der unwiderlegbaren Möglichkeiten entschädigt ihn für all’ die sehr konkreten Demütigungen, die er im Konkurrenzbetrieb der Wissenschaft über Jahre zu erdulden hatte. Das Thema der kleinen Fluchten also, das Loriga selbst ästhetisch fruchtbar macht:

    In Wirklichkeit sind es profane Interessen, ich kenne mich in der Quantenphysik nicht aus. Aber eines Tages las ich populärwissenschaftliche Bücher über die Quantenphysik, und ich interessierte mich für die poetischen und literarischen Möglichkeiten, die diese umwälzende Revolution mit sich brachte, die im Kopf einer weniger Mathematiker erfolgte, an der wir nur am Rande teilhaben, und die alles scheinbar Vernünftige, Fassbare vom Kopf auf die Füße stellt. Es ist ein bisschen wie Alice im Wunderland. Die Welt steht auf dem Kopf: Was ist, ist nicht, was nicht ist, ist. Alles dies wandte ich an auf den zentralen Protagonisten meines Romans, eben jenen Trífero, einen Menschen, der in der wirklichen Welt scheiterte und der auf eine bestimmte Art in dieser parallelen Welt zu leben sucht. Und bei diesem Thema mischt sich meiner Ansicht nach die Quantenphysik mit der Komödie. Und das ganze entwickelte sich auf eine ganz unterhaltsame Weise.

    Denn auch Trífero beginnt sich für die physikalischen Fiktionen zu interessieren, zunächst aus einer Partylaune heraus, sehr bald aber in betrügerischer Absicht; denn am meisten Geld lässt sich dem Menschen durch seine Spekulationslust abpressen, am Aktienmarkt nicht anders als in den Schummerecken der Metaphysik. Und wirklich gewinnen alsbald auch Trífero und Jerusalem dankbare Abnehmer für ihre Theorien. "Wenn Newton geahnt hätte ... weit über die elfte Dimension hinaus ... Urkn ... Schw... Hawking würde aus dem Rollstuhl kippen ... das Gödelsche Theorem ...", tönt es fetzenhaft auf einer ihrer Versammlungen, und die aufgeblasenen Stichworte reichen, die Zuhörer zu den phantastischsten Spinnereien zu bewegen.

    Wissenschaft und Esoterik: Religionsersatz für des zeitgenössischen Menschen. Will man Loriga in dieser These folgen, müsste auch die klassische Religion in erster Linie Kriminal- und Komödiantengeschichte geschrieben und Heerscharen von Magiern und Menschenfängern animiert haben, mit zugkräftigen Parolen an den Markt zu gehen - als Vorläufer eben jener Scharlatane, die, wie Trífero, die Menschen heute mit Techno-Utopien locken. "Wider die Mörder Gottes" soll der Titel eines Buches lauten, das Trífero im Auftrag eines weiteren, diesmal allerdings renommierten Wissenschaftlers für zehntausend Dollar stilistisch auf Vordermann bringt; und dessen zentrales Thema, die angeblich für den Ursprung des Glaubens verantwortlichen Elementarteilchen, er auf den hübschen Namen "faithes" tauft. Und Loriga selbst knüpft mit derartigen Boshaftigkeiten an eine uralte spanische Literarturtradition an: den Schelmenroman:

    Ich glaube, dass er vor allem ein Lügner ist, und als solcher hat er sehr viel mit der Tradition der spanischen Picaro-Literatur zu tun, in der man ja ebenfalls die persönliche Lüge der sozialen, der kollektiven Wahrheit gegenüberstellt und so eine Verkehrung der Rollen bewirkt. So dass, wie etwa im "Lazarillo del Tormes" oder dem "Buscón", die Wahrheit dem Lügner gehört und sich kollektive Wahrheit in Lüge verwandelt. Und auf der anderen Seite stellt die Pícaro-Literatur den Einzelnen gegen die Gruppe, das soziale Kollektiv, so dass der Schelm innerhalb der Welt des des Romans immer ein freier Mensch ist.

    So hat auch Trífero weder mit Glaubens- noch Wissenschaftsfragen ernsthaft zu tun. Längst hat er wieder einen großen Sprung getan, diesmal nach Berlin. Denn nur dort, glaubt der Verlag, ist seine Anonymität als Ghostwriter wirklich gewahrt. Und kaum ist das opus vollbracht, schickt der Erzähler Trífero auf Deutschlandreise, mit Köln als vorerst letzter Station. Wohin es dann geht, wie lange und warum überhaupt es noch so weiter geht, darüber kann der Leser spekulieren. Er kann es auch lassen - und würde so der spöttisch-abgeklärten Weltsicht des Buches am ehesten gerecht. Die Welt ist voller Narren, so ungefähr lautet die Botschaft dieses entspannt dahinplätschernden Romans. Und Köln, so vielleicht der geheime Sinn dieses Stationenwegs, ist Hochburg dieser Narren, auch wenn sie hier "Jecken" heißen. Und mittendrin, gewissermaßen als Zentrum des Ganzen, der Dom. Köln, die Kathedrale, drumherum die Komödianten: Trífero, so wird es ortskundigen Lesern scheinen, könnte endlich ans Ziel seiner Reise gekommen sein.