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Trinkfeste Straßensängerin und Königin des Chansons

Das französische Chanson ist nicht irgendein Genre. Es ist eine Kunst, um die man die Franzosen beneidet. Ihr mächtiger Einfluss hat die französische Schlagerszene, im Gegensatz zur deutschen, die meiste Zeit vor dem kompletten Absturz ins Hirnlose bewahrt.

Von Beatrix Novy | 19.12.2005
    Ihre berühmten Vertreter sind Legion, Chevalier, Trenet, Montand, Aznavour, Moustaki, Brassens, Gainsbourg, Greco, … eine von ihnen war sie: Edith Piaf. Und doch überragt sie den Chor, ihr Ruhm kennt weder die Grenzen einer Nation noch eines Milieus, die Massenkultur sog ihre Lieder von Liebe und Trauer ebenso auf wie ihre öffentlich gelebten Leiden und Leidenschaften. Sie war ein französisches Phänomen und in dieser Eigenschaft weltberühmt.

    Eine Piaf konnte es nur einmal geben, sagte ihr Freund Jean Cocteau, der nur wenige Stunden nach ihr starb: eine letzte Merkwürdigkeit ihrer Biographie. Piaf - ihr Name, ihr Leben, ihre Lieder haben sich zu einem wieder und wieder erzählten Roman gefügt, hinter dem die Frau, die das alles wirklich gelebt hat, schwer zu finden ist. Wer war Edith Piaf? Sie war der Spatz von Paris.

    Jedes Kapitel ihres Lebens war ein Chansonthema, die Straße das Leitmotiv: Die Mutter, eine verkrachte Sängerin, gebar sie am 19. Dezember 1915 angeblich auf dem schäbigen Pflaster der Rue de Belleville in Paris. Dann die Kindheit im Bordell, in dem ihre Großmutter kochte, das Herumziehen mit dem Vater, einem Akrobaten, das Leben als Straßensängerin, die Vagabunden-Freiheit, die sie im Kreis von Matrosen und Zuhältern genoss.

    Ihr Entdecker hieß Paul Leplée, Besitzer eines angesagten Clubs, in dem Größen wie Maurice Chevalier und die Mistinguett verkehrten. Leplée gefiel Ediths Familienname Gassion nicht, er nannte das kleine Persönchen treffend "Piaf": Spatz. Aber ihr Förderer wurde 1936 ermordet und sein Schützling Edith geriet unter Verdacht: Einer trinkfesten Straßensängerin, deren Clique aus Luden und Kleinkriminellen bestand, glaubte die Polizei alles zutrauen zu dürfen. Aber ihre gewaltige Stimme, die eine Welt von Empfindungen ausdrückte, siegte über alle Widerstände: Edith Piaf sang, wie Maria Callas, nicht "schön"; aber sie sang mit rückhaltloser Intensität. Von nun an lag ihr Weg im Licht, und alle Welt konnte ihn verfolgen – auch auf der Bühne. In Jean Cocteaus Stück "Le bel indifférent", Monolog einer frustrierten Liebenden, war die Piaf ganz sie selbst.

    Dem Tempo ihrer wechselnden häufigen Liebschaften entsprachen die anderen Süchte: Drogen und Alkohol. Gegen die Realität ihrer unstillbaren Sehnsüchte schrieb sich die Piaf ihr eigenes Lied vom rosafarbenen Leben

    Es gab viele, die sie entdeckte und förderte, darunter Charles Aznavour, Yves Montand, Eddie Constantine. Einer, den sie wirklich liebte, der Boxer Marcel Cerdan starb bei einem Flugzeugabsturz - oder blieb er ihre große Liebe, weil er rechtzeitig gestorben war? Sie war kaum 40, da begann ihre große Lebensverschwendung an Drogen, Alkohol und Medikamente sie einzuholen – selbst ihre vier unverschuldeten Autounfälle wirkten wie ein notwendiger Teil dieses exzessiven Lebens, dem sie in ihren letzten Jahren das passende Lied widmete.

    Sogar ihr letzter Ehemann, der junge Grieche Theo, dem sie den Namen Sarapo gab, schien einen Fluch zu tragen, er starb 1970 - bei einem Flugzeugabsturz. Da war Edith Piaf schon seit sieben Jahren tot – gestorben mit 47, beerdigt wie eine Königin – ganz Paris gab ihr das Geleit.