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Tröglitz Ex-Bürgermeister zieht Bilanz
"Sie haben feige geschwiegen, statt Stellung zu beziehen"

Der Rücktritt des Bürgermeisters von Tröglitz in Sachsen-Anhalt sorgte genauso wie der Brandanschlag auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft in dem Ort nicht nur in Deutschland für Schlagzeilen. Nun hat Markus Nierth in einem Buch durchaus selbstkritisch Bilanz gezogen. Und er hat einen klaren Appell an alle Kommunalpolitiker in Deutschland.

Von Christoph Richter | 19.09.2016
    Der zurückgetretene Ortsbürgermeister von Tröglitz, Markus Nierth, spricht vor einer Bürgerversammlung am 31.03.2015 mit Journalisten in einem Veranstaltungszentrum in Alttröglitz (Sachsen-Anhalt)
    Der zurückgetretene Ortsbürgermeister von Tröglitz, Markus Nierth. (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
    Tröglitz – Ein 3.000-Seelen-Ort im Süden Sachsen-Anhalts. Er steht als Chiffre dafür, dass Demokratie und der Zusammenhalt in der Gesellschaft nur dann funktionieren, wenn sich Menschen zivilgesellschaftlich engagieren, wenn sie an politischer Teilhabe interessiert sind. Doch in Tröglitz ist dieser Gedanke noch nicht angekommen, analysiert der frühere Bürgermeister Markus Nierth. Der über die Ereignisse von damals jetzt ein sehr persönliches Buch vorgelegt hat. "Brandgefährlich. Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht", so der Titel.
    "Denn eine Wunde, die da ist, die muss erst mal gesäubert werden. Der Schmutz muss raus. Man kann nicht, wie es sich viele im Ort vielleicht wünschen, einfach schweigen und so lassen. Es muss gesäubert werden, das mag für beide Seiten noch mal wehtun. Aber es muss benannt werden, was war. Damit es richtig heil werden kann, damit kein fauler, sondern echter Friede entsteht im Ort."
    Rückblick: 2015 ist der ehrenamtliche – parteilose Bürgermeister Markus Nierth zurückgetreten – weil Rechtsextreme direkt vor seinem Wohnhaus gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft im Ort demonstrieren wollten. Vorausgegangen waren Drohungen und Anfeindungen. Polizei und Politik sahen sich nicht in der Lage, daran etwas zu ändern, kritisiert Nierth. Kurz darauf brannte die geplante Flüchtlingsunterkunft, was für weltweites Echo sorgte. Reporter aus Japan, Dänemark, Holland oder den USA sind nach Tröglitz geeilt.
    "Was uns aber den Boden unter den Füßen wegzog, war das Ausbleiben einer spürbaren Unterstützung aus dem Ort: das Schweigen der Mehrheit. Das Buch ist keine Abrechnung, wir möchten keinen Menschen kränken, verletzen oder zu Unrecht beschuldigen. Aber um Verletzungen, die wir zuhauf davongetragen haben, zu verarbeiten und in einem geistlichen Prozess zu vergeben, muss das Geschehene noch einmal klar benannt werden."
    Der 47-jährige Markus Nierth ist im benachbarten Weißenfels groß geworden, 1986 mit seinen Eltern in den Westen geflohen. Nach einer Ausbildung zum Kirchenrestaurator hat er in Tübingen Theologie studiert, im Odenwald sein Vikariat gemacht. Ende der 1990er-Jahre ist er in den Osten zurückgekommen. Hat in Tröglitz einen jahrhundertealten wendischen Vierseithof gekauft, eigenhändig saniert. Schnell ist Nierth in die Kommunalpolitik gegangen. War sechs Jahre ehrenamtlicher Orts-Chef.
    Bis heute machen viele einen Bogen um die Nierths
    Eskaliert ist alles 2014, als bekannt wurde, dass Flüchtlinge auch nach Tröglitz kommen sollen. Ein Ort, in dem rein äußerlich noch immer die DDR lebt. In der Ortsmitte prangt ein riesiges sozialistisches Wandfries. Bildunterschrift: Wir lehren, lernen und kämpfen für den Frieden. Schräg gegenüber eine heruntergekommene leer stehende DDR-Kaufhalle. Mit Fremden können nur wenige Tröglitzer etwas anfangen, diejenigen, die sich für Flüchtlinge engagieren, werden angefeindet. Bis heute machen große Teile der Bürgerschaft einen Bogen um die Nierths.
    "Dorfbewohner, mit denen ich seit Jahren ein gutes Verhältnis hatte, schauen nun weg oder wechseln die Straßenseite, wenn sie mich sehen. Oder sie grüßen einfach nur nicht mehr. (...) Dieses Schweigen und das Gefühl, den Leuten, für die ich fast 20 Jahre lang ehrenamtlich tätig war, mit meinem Schicksal nun offensichtlich ziemlich egal oder lästig zu sein, das tat wirklich weh."
    Jetzt hat sich der Seelsorger und freiberufliche Trauerredner Markus Nierth den ganzen Schmerz von der Seele geschrieben. Unterstützt wurde er dabei von der Journalistin Juliane Streich. Auch den Frust darüber, dass in Tröglitz bei der Landtagswahl im März die Rechtspopulisten von der AfD 32 Prozent, die NPD 5,5 Prozent der Stimmen bekommen haben. Damit haben die Rechten – rechnet Nierth vor – fast 40 Prozent erhalten. Eine Antwort-Suche auf quälende Fragen nennt er sein Buch:
    "Dass wir nicht verstanden haben, warum schweigen die Menschen, als wir persönlich angegriffen wurden, als die Morddrohungen kamen."
    Insbesondere von der Politik fühlte er sich alleingelassen, sagt Nierth. Deutlich im Blick hat er die CDU Sachsen-Anhalts, die er in seinem Buch über die Ereignisse von Tröglitz scharf kritisiert.
    Auch eine Erzählung über die Wende-Folgen
    "Die CDU hat fehlendes Wertebewusstsein und Führungsschwäche bewiesen; vom einfachen Mitglied, von Kreis- bis hin zum zuständigen Bundestagsabgeordneten haben sich viele Verantwortliche so peinlich weggeduckt, dass man sich fremdschämen könnte. Sie haben feige geschwiegen, statt deutlich und öffentlich Stellung zu beziehen."
    Der Text ist aber auch eine Erzählung über die Wende-Folgen, die viele Menschen aus der Bahn geworfen haben. Er handelt von ostdeutschen Identitäten, von Enttäuschungen und Verletzungen, von dem Versagen der Politik, über die Schwierigkeiten der offenen Gesellschaft im Osten. Dagegen hätte er selbst viel lauter vorgehen müssen, sagt Nierth aus heutiger Sicht:
    "Ich hätte dem Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit deutlicher Kante geben können. Ich war immer sehr verständnisvoll und merke nun aber auch, dass ich bei bestimmten Menschen, die sich fürs Böse-Sein entschieden haben, kein Verständnis geben kann. Sondern, dass man von vornherein klare Kante zieht."
    Markus Nierth schließt sein Buch mit sieben Thesen, die auch als Handlungsanleitungen zu verstehen sind. Darin fordert er eine neue Barmherzigkeitskultur.
    "Unser Land braucht wieder einen barmherzigen Umgang unter den Menschen, mehr Gnade untereinander, mehr Achtung voreinander. Früher hieß das Nächstenliebe, die allen Menschen unabhängig von der Leistungskraft, dem materiellen Erfolg und der Gabe zur Selbstdarstellung einfach so geschenkt wird. Dafür müssten neue Rahmenbedingungen geschaffen werden."
    "Diesen Satz würde ich heute nicht mehr schreiben"
    Nierth poltert nicht, streitet nicht, polarisiert nicht, sondern führt einen weichen – zuweilen moralisierenden - pastoralen Ton, der an manchen Stellen auch schon mal ins Selbstmitleid kippt. Wenn er etwa von einer – Zitat – "unsichtbaren Hinrichtung" spricht.
    Doch es kommt auch ein wunder Punkt Nierths im Buch zur Sprache. Als er 2014 im Gemeindeblättchen eher abfällig von Flüchtlingen als "Asylanten" schrieb:
    "Zum Beispiel einen Satz habe ich geschrieben: Keiner will sie, ich eigentlich auch nicht, aber nun sind sie da."
    Früher wollte er das nie kommentieren, kritische Nachfragen ließ er unbeantwortet. In seinem Buch erklärt sich Nierth nun. Zum ersten Mal.
    "Diesen Satz würde ich heute nicht mehr schreiben. Er klingt kaltherzig und ist missverständlich. Das war ein liebloser Satz, für den ich zu Recht Schelte einstecken musste. Vor allem war er nicht mit meiner christlichen Überzeugung vereinbar und den Flüchtlingen gegenüber unangebracht, unverschämt und egoistisch."
    Tröglitz gibt es nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern überall in Deutschland. Sagt Nierth am Ende seines Buches. Und er nennt es einen Appell an alle ehrenamtlichen Kommunalpolitiker in Deutschland, sich durch die Rechten, aber auch durch die schweigende Mitte nicht einschüchtern zu lassen.
    Markus Nierth: "Brandgefährlich", Ch. Links Verlag 2016, 18 Euro