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Trotz Behinderung ein Schüler wie jeder andere

Schule für alle gibt es seit zwei Wochen in Brandenburg, inklusive Kindern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen. Sie sollen mit allen anderen Kindern nah an ihrem Wohnort lernen können. Klingt gut, doch das Konzept dieser "Inklusion" ist umstritten. Besuch bei einer der Pilotschulen.

Von Anja Kabisch | 20.08.2012
    Musikunterricht in der dritten Klasse. 20 Kinder singen aus vollem Hals, in der Bankreihe sitzt Jeremy. Jeremy ist geistig behindert - hat das Down-Syndrom. Lehrerin Cornelia Lehmann holt ihn nach vorn, drückt ihm Klanghölzer in die Hand.

    "Und jetzt wollen wir spielen, Jeremy. Und halten ... schräg ... und mit mir, Jeremy ... du hast das schon oft gemacht."

    Der Neunjährige schlägt die Hölzer im Takt gegeneinander. Wie jedes andere Kind.

    "Es bereitet keine Extra-Vorbereitung für mich. Denn dieses Kind lernt ja mit und wir helfen ihm individuell, wie sie eben mitbekommen haben; beim Vorspiel oder dass das Patenkind, Nachbarkind ihm noch mal zeigt."

    Katharina ist Jeremys Patenkind in der Klasse. Sie sitzt jeden Tag neben ihm auf einer Bank, hilft ihm, wenn nötig.

    "Indem ich ihm das zeige und erkläre. Wenn wir jetzt Musik haben und Jeremy nicht weiß, wo wir sind, zeige ich es ihm."

    Außerdem steht ihm Jana Klauck als Einzelfallhelferin auch während des Unterrichts zur Seite. Reicht ihm die Stifte, geht mit den Fingern die Textzeilen ihm Buch nach. Sie verfolgt jeden seiner Fortschritte in der Klasse.

    "Das sind alles seine Freunde. Er kennt alle Kinder beim Namen, fängt auch selber Gespräche an, möchte in der Pause mit dabei sein beim Spielen; oder wenn er Unterrichtsaufträge hat, benennt er die Kinder, mit denen er arbeiten möchte."

    Eines der Kinder, mit denen Jeremy besonders viel Zeit verbringt, ist Felix.

    "Na, Jeremy ist anders als wir, aber er lernt auch ganz gut mit - so wie wir. Und dann fühle ich mich wohl mit ihm."

    Insgesamt neun Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernen zur Zeit an dieser Pilotschule. Doch Inklusion ist hier nichts Neues: ein Inklusions-Testjahr unter Federführung des Cottbuser Schulamtes hat die Schule bereits hinter sich. Und insgesamt gute Erfahrungen gemacht, erzählt Schuldirektorin Anett Kaufmann. Über 50 zusätzliche Lehrerstunden hat die Schule bekommen, zwei Sonderpädagogen unterstützen die Schule. Damit sind fast immer zwei Lehrer für eine Klasse da.

    "Also mir geht es generell immer darum, dass wir die Schule für alle auch für alle machen. Wir haben unter anderem für die erste bis dritte Klasse das Unterrichtsfach Rhythmik eingeführt. Das heißt, Kinder bekommen eine Stunde mehr Bewegung in der Woche. Haben jetzt ganz neu eine Leistungsdifferenzierung in Deutsch und Mathe für besonders begabte Kinder. Für uns als Lehrerkollegium und für die Elternschaft war es ganz wichtig, dass wir Schule selbst gestalten können. Dass wir frei über diesen Stundenpool verfügen können und wir hier entscheiden können, was tut allen Kindern in dieser Schule gut."

    Natürlich gilt es auch, Hürden zu umschiffen. Es gibt nach wie vor Lehrer, die dem Thema Inklusion skeptisch gegenüberstehen – die keinen zweiten Lehrer in ihrer Klasse wollen. Und es gibt Situationen, die auch die Lehrer mal überfordern. Wie zum Beispiel bei Klassenausflügen. Sagt Rene Schultchen, vier Jahre lang einer der Elternsprecher.

    "Und da gab es eben das Problem, dass sich keiner der Lehrer zugetraut hatte, das Mädchen mit zu betreuen. Also da sollte die Mami mitfahren bzw. das Mädchen sollte in der Schule bleiben und mit anderen Sachen beschäftigt werden."

    Das Problem konnte gelöst werden. Nach mehreren Gesprächen.

    "Man muss schauen, dass man solche Sachen geklärt bekommt. Weil: Eins darf nicht passieren: Dass es auch in der Inklusion wieder zu Ausgrenzung führt."

    Doch Inklusion ist der richtige Weg, ist der Vater überzeugt. Wie prinzipiell auch Günther Fuchs. Dr Vorsitzende der Brandenburger Lehrergewerkschaft GEW. Er bestätigt, in den Pilotschulen läuft es gut. Sie sind gut ausgestattet.

    "Die andere Seite ist, dass diese Lehrerinnen- und Lehrerstellen, die wir dafür brauchen, nicht zusätzlich gekommen sind, sondern sie sind in anderen Schulen entzogen worden. Und die Frage, vor der wir stehen, ist ja, wenn man das flächendeckend anbieten und ausbauen will, dann braucht man 800 Lehrerstellen mehr. Und die Haushaltsplanung des Landes Brandenburg bis zum Jahr 2018/19 sieht genau diese Stellen nicht vor."

    Hier ist die Politik gefordert. Damit nach der Pilotphase alle Schulen die gleiche Ausstattung haben. Damit die Schule für alle auch wirklich Allen gleiche Bedingungen bietet. So Sonderpädagogin Heike Richter

    "Ich denke, das ist in unserer Gesellschaft ganz wichtig, dass die Kinder beizeiten lernen, sozial gut miteinander auszukommen. Dass man eben nicht alleine aufwächst im Leben. Sondern dass eben viele Menschen dazugehören, dass jeder halt so ist, wie er ist."