Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Trotz Pannen im Fall Lübcke
Polizeigewerkschafter: Verfassungsschutz in Hessen ist wichtig

Trotz der Fehler im Umgang mit Erkenntnissen zu rechtsextremen Aktivitäten des mutmaßlichen Mordhelfers im Fall Lübcke, hat der Verfassungsschutz in Hessen nach Ansicht des Polizeigewerkschafters Andreas Grün seine Berechtigung. Ohne die Zuarbeit der V-Leute sei es nicht möglich, notwendige Informationen zu gewinnen, sagte er im Dlf.

Andreas Grün im Gespräch mit Christoph Heinemann | 16.06.2020
Prozessauftakt im Fall des nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke: Markus H. (M) ist wegen Beihilfe zum Mord an dem Politiker angeklagt
Prozessauftakt im Fall des nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke: Markus H. (M) ist wegen Beihilfe zum Mord an dem Politiker angeklagt (dpa / Getty Images Europe / Pool)
Das öffentliche Interesse ist groß: Warteschlangen vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main vor dem Beginn des Prozesses um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Angeklagt sind Lübckes mutmaßlicher Mörder Stephan E. und dessen mutmaßlicher Komplize Markus H. - beide gelten als Rechtsextremisten. Sie sollen Walter Lübcke wegen seiner Haltung zur Migrationspolitik als Opfer ausgewählt haben. Stephan E. muss sich als Hauptangeklagter auch wegen eines versuchten Mordes an einem Asylbewerber verantworten.
Andreas Grün, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Hessen, ist der Überzeugung, dass der Verfassungsschutz in Hessen trotz der Fehler im Fall Lübcke Bedeutung hat und wichtig ist. "Da hat es sicherlich in der Vergangenheit Fehler gegeben, die sind auch eingeräumt worden, aber den Verfassungsschutz in Gänze jetzt in Frage zu stellen, das halte ich für falsch."
Karlsruhe: Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird von einem Hubschrauber zum Bundesgerichtshof (BGH) zu einem Ermittlungsrichter gebracht.
"Ein Rätsel, warum so jemand im System durchfallen kann"
Nach Ansicht von Nancy Feaser, Partei- und Fraktionschefin der hessischen SPD, muss das behördliche Versagen im Fall Lübcke in einem Untersuchungsausschuss aufgeklärt werden. Bis heute sei nicht klar, warum der Verfassungsschutz den mutmaßlichen Täter aus den Augen verloren habe.
Christoph Heinemann: Herr Grün, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kommentiert heute, der Fall markiere eine gesellschaftliche Zäsur. Zu Recht?
Andreas Grün: Das müssen die Journalisten der "Frankfurter Allgemeinen" am Ende offenlegen, inwieweit das eine gesellschaftliche Zäsur ist. Ich glaube, es ist ein Prozess im Rechtsstaat, der seine Berechtigung hat und haben muss und der jetzt nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten durchgeführt wird.
Wer fünf Jahre nicht auffällt, fällt aus der Beobachtung
Heinemann: Frage an den Polizeifachmann: Besteht die Zäsur vielleicht im Versagen der Sicherheitsbehörden?
Grün: Nun, dass es da in der Vergangenheit den einen oder anderen Fehler gegeben hat, das ist ja offenkundig. Auch jetzt, was bekannt wurde, dass der Verfassungsschutz in Hessen Informationen über rechtsextremistisches Verhalten des Markus H. nicht weitergegeben hat, was am Ende dazu führte, dass dieser einen Waffenschein bekam oder gerichtlich durchsetzen konnte, das sind natürlich Fehler, die auch vom Verfassungsschutzpräsidenten hier in Hessen, von Robert Schäfer zugegeben wurden, wo man aber für die Zukunft klarstellt, dass das völlig anders gehändelt wird, wir auch hier in Hessen nicht nur nach dem Mordfall, schon in den Jahren davor den Rechtsextremismus sehr, sehr eng im Fokus haben und auch bearbeiten bei der Polizei.
Heinemann: Herr Grün, aber noch mal im Detail: Wie kann man das erklären, dass die Sicherheitsbehörden in Hessen einen polizeibekannten, mehrfach vorbestraften Rechtsextremisten nicht engmaschig überwacht haben?
Grün: Es gibt ja auch dann die Vorschriften. Wenn einer fünf Jahre nicht auffällig wird, dann haben wir Löschungsfristen. Dann fallen sie aus bestimmten Systemen raus. Das ist im Rechtsstaat so. Der war ja auf dem Schirm, der ist ja auch nachher wieder auf den Schirm gekommen. Das hätte alles schneller gehen können, wenn Daten noch zur Verfügung gestanden hätten. Was anderes ist es nachher mit der DNA-Überführung. Da hätte uns auch fast nachher die Löschungsfrist einen Streich gespielt. Dann hätten wir da gar keinen Treffer mehr landen können. Das ist so im Rechtsstaat, da müssen wir mit leben.
"Falsch, Verfassungsschutz ganz in Frage zu stellen"
Heinemann: Bei Markus H. lagen die Daten ja vor. Sie wurden nur nicht weitergegeben, und so gelangte er an einen Waffenschein und trainierte dann den mutmaßlichen Mörder Stephan E. Wie nutzlos war oder ist vielleicht noch der Verfassungsschutz in Hessen?
Grün: Ich bin der Überzeugung, dass der Verfassungsschutz in Hessen wie auch in den anderen Bundesländern und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz in der jetzigen Struktur ihre Bedeutung haben und wichtig sind. Ohne die Zuarbeit von V-Leuten ist es, glaube ich, gar nicht möglich, in diesen Kreisen am Ende die Informationen zu gewinnen, die nötig sind, um die größtmögliche Sicherheit bieten zu können. Da hat es sicherlich in der Vergangenheit Fehler gegeben, die sind auch eingeräumt worden, aber den Verfassungsschutz in Gänze jetzt in Frage zu stellen, das halte ich für falsch.
Heinemann: Nur wäre es ja schön, wenn das auch für Hessen zutreffen würde, was Sie gerade beschrieben haben, und dass die Uhren dort offenbar anders gehen, das wurde ja schon während der Aufarbeitung der Morde der NSU-Terrorbande deutlich, denn Andreas Temme, damals Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, hielt sich 2006 in einem Kasseler Internetcafé auf, als dort dessen Besitzer Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Temme beteuerte stets, vom Mord nichts mitbekommen zu haben, obwohl er sich nur wenige Meter vom Tatort entfernt befunden haben muss. Haben Sie Herrn Temme jemals geglaubt?
Grün: Das ist persönlich schwer - oder Ihre Frage ist schwer zu beantworten, ob ich ihm geglaubt habe oder nicht und was meine persönliche Meinung ist. Es geht letztendlich darum, was bewiesen werden konnte und was nicht. Was sicherlich ein Riesen-Fragezeichen heute noch aufwirft, ist die Arbeit des Verfassungsschutzes damals und auch die Tatsache, dass für viele Jahre die Akten gesperrt sind und man keine Einsicht hat. Das halte ich im freiheitlichen Rechtsstaat für heute nicht mehr darstellbar.
Der Stuhl auf der Ehrentribühne, der für den erschossenen Kasseler Regierungspäsidenten Walter Lübcke reserviert war, ist am Tag des Festumzugs mit einem Foto und einem Blumenstrauß geschmückt. Der Festumzug markiert auch in diesem Jahr wieder das Ende des Hessentages.
Ein Jahr nach dem Mord - "Zäsur in unserer deutschen Geschichte"
Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde Anfang Juni 2019 mit einem Kopfschuss zu Hause getötet. Die Hintergründe der Tat und welche Rolle die beiden in der Szene gespielt haben – ein Überblick.
Lehren aus dem Frankfurter Fall um rechte Drohbriefe
Heinemann: Viele Jahre, sagen Sie. Das hessische Innenministerium wollte ursprünglich 120 Jahre Sperre. Das wurde auf 30 Jahre heruntergehandelt. Wer hat ein Interesse an solchen Fristen?
Grün: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es geht hier nach öffentlicher Darstellung um den Schutz von Informanten. Hier muss man aber dann eine Abwägung treffen, ob das gerechtfertigt ist, ob das im Missverhältnis zu der Informationspflicht der Allgemeinheit steht, und gerade in so einem spektakulären Fall und auch mit den Auswirkungen des Rechtsextremismus, wie er momentan in Deutschland diskutiert wird, da habe ich meine Zweifel.
Heinemann: Schutz von Informanten – das kann man auch anders sehen. Gehört Vertuschen zur Arbeit von Sicherheitsbehörden?
Grün: Ich kann jetzt nur für die Polizei reden. Bei uns wird nichts vertuscht! Wir verstehen uns als eine rechtsstaatliche Polizei. Wir machen auch Fehler, die werden auch hin und wieder öffentlich und aufgedeckt, aber dass wir etwas vertuschen – wir haben überhaupt kein Interesse, irgendetwas zu vertuschen.
Heinemann: Fehler in der Polizei – es wurde ja berichtet über ein rechtsextremes Netzwerk in Frankfurt am Main in der Polizei. Dort haben Polizisten Drohbriefe an die Anwältin Basay-Yildiz geschickt. Was hat die Polizei aus diesen Fällen gelernt?
Grün: Das war natürlich ein Schlag ins Gesicht aller hessischen Polizeibeamten, als das aufgeflogen ist. Danach hat es vielfältige strukturelle Änderungen gegeben. Das Kurrikulum ist angepasst worden für die Polizeianwärter, die Aus- und Fortbildung ist intensiviert worden, es sind Schriftenreihen aufgelegt worden, es gibt runde Tische, die Polizeipräsidenten haben alles für sich in der Fläche zur Chefsache gemacht. Das Thema ist hoch- und runterdiskutiert worden, und das hat schon im Nachklang dazu einige strukturelle Veränderungen gegeben.
Sind Uniformträger empfänglicher für rechte Ideen?
Heinemann: Wie erleben Sie Rechtsextremismus in den eigenen Reihen?
Grün: Als ein Delikt, das in hohem Maße zu tadeln ist, das aber sehr, sehr wenig vorkommt. Wir haben diese Fälle bei der hessischen Polizei. Die sind jetzt alle so ziemlich vor dem Abschluss. Dann müssen wir mal sehen, was der Staatsanwalt letztendlich dazu sagt. Der bekommt nämlich alle Fälle vorgelegt. Danach werden wir auch über die Qualität vielleicht Näheres wissen, wie das zu bewerten ist. Ansonsten bleibt es stehen, dass Rassisten oder Extremisten in der Polizei in Hessen wie in Deutschland nichts zu suchen haben.
08.06.2020, Berlin: Eva Högl (SPD), Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, gestikuliert in einem Gespräch mit einem Journalisten der Deutschen Presse-Agentur. Foto: Kay Nietfeld/dpa | Verwendung weltweit
Eva Högl (SPD) über Rechtsextreme bei KSK: "Viele Einzelfälle deuten auf Strukturen hin"
Die neue Wehrbeauftragte des Bundestags Eva Högl hält den Brief eines Hauptmanns über den Umgang mit rechten Umtrieben in der Spezialeinheit KSK der Bundeswehr für besorgniserregend. Sollte es ein strukturelles Problem geben, sei darauf eine strukturelle Antwort nötig.
Heinemann: In Deutschland wird ja gerade über rechtsextremistische Vorfälle bei der Bundeswehr-Eliteeinheit KSK diskutiert. Sind Trägerinnen und Träger von Uniformen empfänglicher für solches Gedankengut?
Grün: Das glaube ich nicht. Wenn man sich die Zahlen ansieht, wie groß die Bundeswehr jetzt ist und wie groß die KSK ist, im Verhältnis kann ich Ihnen das gar nicht sagen im Detail. Aber für die hessische Polizei: Die Fälle, die bei uns zu Tage getreten sind, da sind wir im Promille-Bereich einer sonst sehr loyalen und anerkannten, vertrauenswürdigen Polizei in Hessen.
Rechtsextreme in der Polizei- Vom Einzelfall zum Tatendrang
Deutschlands Polizeibehörden haben bei dem Thema lange abgewiegelt, doch inzwischen herrscht Tatendrang. Die Extremismus-Vorbeugung beginnt bereits bei den Polizeischülern – die auch lernen, wann sie eine Anweisung verweigern dürfen.
"Öffentlichkeitstransparente Ermittlungsarbeit" als Ziel
Heinemann: Sie haben eben schon Beispiele genannt. Können Sie das noch mal ausführen? Wie kann man Extremisten in Bewerbungsverfahren oder spätestens in der Ausbildung herausfiltern?
Grün: Es gibt einen Persönlichkeits-Strukturtest am Anfang, wenn sich junge Menschen bei der Polizei bewerben. Dann gibt es im Test Personalgespräche, Einzelgespräche und Gruppengespräche, wo die Themen auch teilweise dann so gewählt sind, um zu erkennen, hat hier jemand eine rechte Gesinnung. Da sind auch Psychologen mit dabei, die das dann mitbewerten. Letztendlich können Sie keinem hinter die Hirnschale gucken, wie er tatsächlich tickt, wenn er sich gut verstellt, aber hier wird schon einiges getan, um Rechtsextremen keinen Zugang zur Polizei zu ermöglichen.
Heinemann: Herr Grün, im hessischen Landtag soll sich ein Untersuchungsausschuss mit Walter Lübckes Ermordung beschäftigen. Nach den Morden der rechtsextremistischen Bande NSU – das hatte ich ja schon gesagt – gab es auch bereits einen Untersuchungsausschuss im Landtag. Welche Lehren hätten aus diesem NSU-Verbrechen gezogen werden müssen?
Grün: Gezogen werden müssen, ist natürlich zu allervorderst eine öffentlichkeitstransparente Ermittlungsarbeit und auch eine bessere Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes mit den Staatsschutz-Dienststellen der Polizei. Das ist alles im Nachgang zu den NSU-Morden und auch zu den Untersuchungsausschüssen nicht nur in Hessen vielerorts geschehen, und ich glaube, da haben wir auch draus gelernt, dass wir jetzt einen Informationsaustausch haben und möglicherweise so diese Straftaten eher und konsequenter durchermitteln können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.