Freitag, 29. März 2024

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Tschechien zu Gast auf der Leipziger Buchmesse
Gegen die Arroganz der Macht

Nach Jahren des Rückzugs haben sich viele tschechische Autoren wieder gesellschaftlich relevanten Themen zugewandt. Sie zeigen vergessene Menschen am Rand der Gesellschaft und verdrängte Seiten einer schwierigen Vergangenheit. Was sie aber antreibt, das ist vor allem eine große Lust am Erzählen.

Von Holger Heimann | 19.03.2019
Menschen sitzen an Tischen vor den rustikalen Wänden eines Cafés
Einst Zentren des literarischen Lebens: Ein Kaffeehaus in Prag (Sean Gallup/Getty Images)
Prag ist nicht nur malerisch schön, sondern auch wohlhabend. Der Wirtschaftsraum rund um die Metropole gehört zu den am stärksten wachsenden Regionen in Europa. Die Arbeitslosigkeit in Tschechien insgesamt ist so niedrig wie in keinem anderen Land der Europäischen Union. Trotzdem haben nicht alle vom Aufschwung profitiert. Mit der Unzufriedenheit und Unsicherheit vieler Tschechen wird von der Prager Burg aus Politik gemacht, erbost sich die Schriftstellerin Radka Denemarková. Die 50jährige energiegeladene Frau ist eigens zum Gespräch in die Hauptstadt gekommen:
"Diese alten Muster sind wieder da. .... Auch die Art, wie die Macht arrogant ist. Das ist egal, ob das Viktor Orbán ist, Kaczyński, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland, bei uns Zeman. Das sind dieselben Typen. Ich hatte den Traum, dass ich nur Romane schreibe, aber in den letzten Jahren habe ich mehr essayistische Texte geschrieben, Reden gehalten. Das muss man. Man muss Gegenstimme sein gegen die Masse. Diese Kontrolle, diese Propaganda, diese Populisten – das funktioniert gleich."
Me-Too auf Tschechisch
Einen neuen Roman hat Radka Denemarková trotzdem geschrieben. "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude", so der Titel des Buches, ist jedoch kein wütender Kommentar zur politischen Lage in Tschechien. Der im Original bereits 2014 erschienene Roman lässt sich eher als vorweggenommener Beitrag zur MeToo-Debatte lesen. Drei Frauen machen darin Jagd auf Vergewaltiger und scheuen auch vor entschlossenen Akten der Selbstjustiz nicht zurück. Radka Denemarková greift Gewaltverbrechen an Frauen während des Zweiten Weltkriegs auf, aber sie führt von Prag aus auch ins gegenwärtige Indien und nach England. Sie hat für das Buch intensiv recherchiert:
"Am Anfang waren viele Geschichten, die ich gelesen und studiert habe in Fachbüchern. Dann habe ich sie vergessen und eine fiktive Geschichte geschrieben. Aber selbstverständlich, die Spuren darin, das ist unsere Welt, unsere Realität. Das ist etwas, was sich immer wieder wiederholt. Und warum, das ist meine Frage, ist es so schwierig, das zu ändern?"
Autoren sollten Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen, sich mit ihren Büchern einmischen, fordert die Autorin. Aber es ist schwierig, sich gegenüber dem lauten Populismus der Prager Staatsführung zu behaupten. Dem umstrittenen tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babiš gehören die größten Zeitungen im Land. Der Milliardär, neben dem Präsidenten Miloš Zeman der zweite starke Mann, ist eine Art tschechischer Berlusconi.
Von den Anhängern der Regierung werden kritische Autoren wie Radka Denemarková gern als Kaffeehausintellektuelle abgetan oder auch einfach als "havloid" – also als Anhänger von Václav Havel. Den ehemaligen Präsidenten des Landes betrachten die heute tonangebenden tschechischen Politiker gern als weltfremden Idealisten. Radka Denemarková schimpft:
"Wann hat das angefangen? Das hat selbstverständlich mit dem Präsidenten Václav Klaus angefangen, der war schon damals gegen die Europäische Union, und Miloš Zeman sowieso. Sie sprechen über Václav Havel. Sie lachen ihn aus. ... Alle wissen, die an der Macht sind, dass dieses Berlusconi-Syndrom funktioniert. Sie müssen zuerst die größten Zeitungen oder Fernsehsender kaufen, und dann ist diese Propaganda ganz einfach. Wo das Geld spricht, da schweigt die Wahrheit."
Wie in einer Zeitmaschine
Zu den engagiertesten Verteidigern Havels und seiner freiheitlichen Ideale zählt Jáchym Topol. Der wohl wortgewaltigste lebende tschechische Schriftsteller leitet die Vaclav Havel Bibliothek. Das Dokumentationszentrum für die jüngere tschechische Geschichte ist zugleich ein gefragter Veranstaltungsort für politische und literarische Diskussionen. Havel selbst hatte kurz von seinem Tod Topol darum gebeten, die Programmregie des Hauses in der Prager Altstadt auf der rechten Moldauseite zu übernehmen. Und das verwundert nicht.
Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren, entstammt einer Dissidentenfamilie. Als 16jähriger unterzeichnete er die Charta 77, die legendäre Petition der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung. Später gab er die Samisdat-Zeitschrift "Revolver Revue" heraus. Ängstliche Zurückhaltung war noch nie seine Sache. Gut gelaunt empfängt der Hausherr im Obergeschoss der Bibliothek zum Gespräch. Derweil füllt sich eine Etage tiefer der Saal.
"Es ist erstaunlich. Ich komme mir wie in einer Zeitmaschine vor. Wir sprechen ständig über Freiheit und Unfreiheit. Erst kürzlich stand hier ein Mann auf der Bühne, der in einem chinesischen Lager leben musste und nun davon erzählte. Ich hatte gehofft, dass solche Themen längst im Museum gelandet wären. Aber sie bleiben leider aktuell. Und unsere Veranstaltungen sind sehr gut besucht. Ich glaube, dass die Menschen allmählich wieder zu sich finden."
Das mag für die Besucher der Havel Bibliothek gelten. Topols neuer Roman "Ein empfindsamer Mensch" lässt hingegen eher andere Schlüsse zu. Denn er liefert ein durchaus irritierendes Porträt der Gegenwart. Topol begleitet eine tschechische Künstlerfamilie. Die eigentümlichen Komödianten bewegen sich mit unverwüstlichem Staunen durch ein unübersichtliches Europa und fliehen schließlich zurück in ihre Heimat, die schmutzig ist und verwildert. Sie treffen auf Menschen am Rand der tschechischen Gesellschaft, die nicht vom Glanz der Hauptstadt beschienen werden. In Tschechien ist das wenig pittoreske Bild, das der Autor von seinem Land entwirft, nicht bei allen gut angekommen, wie Topol selbst erzählt:
"Ich bin sehr überrascht, dass in unserer Zeit die Literatur wieder zu einem Politikum geworden ist. Der ehemalige Präsidenten der Tschechischen Republik Václav Klaus jedenfalls hat einen äußerst aggressiven Artikel in einer durch und durch kommunistischen Sprache verfasst unter der Überschrift: ‚Kann der Schriftsteller Jáchym Topol ein Buch mit dem Titel ‚Ein empfindsamer Mensch’ schreiben?’"
Land des Lesens
Man fühlt sich beinah an Zeiten vor der politischen Wende zurückerinnert, als von Autoren gefordert wurde, sich auf das Positive zu konzentrieren. Dem Erfolg des Buches hat der Vorstoß des Politikers allerdings nicht geschadet, ganz im Gegenteil. In Tschechien avancierte der Roman zum Bestseller.
20.000 mal wurde das Buch im Original verkauft. Ein außergewöhnlicher Erfolg: Als Bestseller gelten in Tschechien schon Bücher ab einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Dabei wird in dem Land, das knapp elf Millionen Einwohner zählt, gar nicht so wenig gelesen. Tschechien rühmt sich sogar als Paradies für Bibliotheken. Der Projektleiter des Gastlandauftritts in Leipzig und Direktor der Mährischen Landesbibliothek in Brünn Tomáš Kubiček erklärt, warum das so ist:
"Nach einem Gesetz von 1919 muss in jedem Dorf, das mehr als 300 Einwohner hat, eine Bibliothek sein. Seit dieser Zeit gibt es ein Netzwerk von Bibliotheken in Tschechien. Wir haben ca. 6000 Bibliotheken. Das ist ein Netzwerk, mit dem die Autoren arbeiten können."
Wie auch in anderen ehemals sozialistischen Ländern waren die Jahre nach der Wende in Tschechien eine Hochzeit des Lesens. Es gab so viel zu entdecken und nachzuholen, verbotene Autoren, Literaturstars aus dem Westen. Verlage und Buchhandlungen wurden gegründet, die meisten mussten jedoch wieder schließen. Der in Brünn auf einem ehemaligen Fabrikareal ansässige Verlag Host, zu Deutsch: Der Gast, ist geblieben. Und zwar nicht irgendwie. Das aus der gleichnamigen Samisdatzeitschrift hervorgegangene Verlagshaus publiziert viele der wichtigsten Autoren im Land. Wie es dazu kam, erklärt der Verleger Miroslav Balaštík.
"Es bestand keinerlei Interesse für die neue Literatur in den meisten anderen Verlagen. Wir jedoch hatten enge Verbindungen zur jungen Literaturszene. Uns ging es nicht – wie so vielen – vordergründig darum, schnell möglichst viel Geld zu verdienen. In den 90er Jahren gab es einen regelrechten Ansturm auf die Bücher der zuvor verbotenen Autoren. Wir hingegen konzentrierten uns auf die noch nicht etablierten Schriftsteller. Wir kannten die spannende Literatur, weil wir die Zeitschrift hatten."
Tabu der Vertreibung
Radka Denemarková gehört zu den Host-Autoren. Auch die Bücher von Katerina Tučková stehen prominent in den Regalen des Verlags. Die Schriftstellerin, die 1980 in Brünn geboren wurde, hat mit ihrem Roman "Gerta. Das deutsche Mädchen" ein in Tschechien lange tabuisiertes Thema aufgegriffen: Die Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie erinnert sich:
"Bei uns wurde Jahrzehnte nicht wirklich über die Geschehnisse gesprochen. Das kommunistische Schulsystem hat versucht, diesen Teil der Geschichte auszuradieren. Es war ein Tabu – auch in den Familien. Wenn die Vertreibung doch einmal zur Sprache kam, dann wurden verschiedene Euphemismen benutzt. Damit war das Ganze annehmbar für die Bevölkerung. Die Deutschen haben Brünn verlassen – so habe ich das auch auf dem Gymnasium gelernt."
Schwierige Lebenssituation
Der Roman wurde zum Megaseller und inspirierte obendrein eine Versöhnungsinitiative. Beide Frauen, Denemarková und Tučková, haben mit ihren Büchern derart großen Erfolg, dass sie sich ganz auf das Schreiben konzentrieren können. Sie sind jedoch Ausnahmefälle. Das Konzept des freien Schriftstellers, wie wir es kennen, existiert in Tschechien im Grunde genommen gar nicht. Autoren haben gemeinhin nicht nur einen, sondern mehrere Jobs, um so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Tereza Semotamová zum Beispiel übersetzt aus dem Deutschen, Sibylle Berg und Lukas Bärfuss etwa, und arbeitet für das Goethe Institut in Prag. Ihre Lebenssituation in der Hauptstadt ist trotzdem alles andere als luxuriös. Die 1983 geborene Schriftstellerin ist zugezogen und wohnt in einer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung im hipp gewordenen ehemaligen Arbeiterstadtteil Holešovice. In ihrem Roman "Im Schrank" ist der Raum noch beschränkter. Eine junge Frau zieht in einen Schrank, der in einem Hinterhof steht. Semotamová hat mit ihr nach eigener Aussage viel gemein:
"Ich habe so eine komische Leidenschaft für Hinterhöfe und so. Weil ich aus einem Dorf bin. Ich liebe die Städte und Hinterhöfe und komische Dächer. Es gab so ein Gefühl von diesem Sitzen im Schrank im Hinterhof."
Dass dieser bizarre Roman bald auch auf Deutsch herauskommen würde, das war für die selbst in ihrer Heimat recht unbekannte Autorin noch vor Kurzem nicht recht zu glauben. Die tschechischen Organisatoren hatten die junge Frau eigentlich nur dazu ausersehen, den Gastlandstand in Leipzig gemeinsam mit anderen zu betreuen. Nun gehört die talentierte Debütantin, wie Radka Denemarková, Kateřina Tučková und Jáchym Topol, zum Tross der 60 tschechischen Autoren, die sich in Leipzig präsentieren. Die tschechische Literatur soll in Deutschland endlich wieder präsenter werden, das ist das Ziel. Der Zeitpunkt ist klug gewählt. Denn vielen der jetzt übersetzten Romane ist anzumerken, dass die Autoren sich nach Jahren des Rückzugs wieder gesellschaftlich relevanten Themen zuwenden und dass sie eine große Lust am Erzählen antreibt. Ihre Bücher sind unterhaltsame Einladungen dazu, verschiedene Facetten unseres Nachbarlandes kennenzulernen. Tschechien, so lässt sich erfahren, hat mehr zu bieten als das so schöne altertümliche Prag.
Radka Denemarková: "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude"
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
36 Seiten, 24 Euro.
Jáchym Topol: "Ein empfindsamer Mensch"
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Suhrkamp Verlag, Berlin
494 Seiten, 25 Euro.
Kateřina Tučková: "Gerta. Das deutsche Mädchen"
Aus dem Tschechischen von Iris Milde
Klak Verlag, Berlin
548 Seiten, 19,90 Euro.
Tereza Semotamová: "Im Schrank"
Aus dem Tschechischen von Martina Lisa
Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig
200 Seiten, 22 Euro.