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Tschechiens EU-Beitritt und die Benes-Dekrete

    Durak: Tschechien will und soll in die EU, bringt aber eine Eintrittsgabe mit, die umstritten ist: Die Benes-Dekrete. Sind sie mit EU-Recht vereinbar - das ist die Frage. Sie sind bekanntlich die Grundlage von Vertreibung von etwa drei Millionen Deutschen und auch der ungarischen Minderheit gewesen. Nun hat ja das Prager Parlament gerade einstimmig beschlossen, diese Dekrete nicht zu streichen, gleichwohl darauf hingewiesen, dass aus ihnen keine neuen Rechtsbeziehungen abgeleitet werden können, die entstandenen Verhältnisse juristisch, vermögensrechtlich aber eben Bestand haben. Ich habe darüber mit Bernd Posselt gesprochen. Er ist für die CSU im Europa-Parlament und Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft und ich habe ihn zunächst gefragt, ob er denn zu dieser Prager Parlamentsveranstaltung etwas anderes erwartet hat, und wenn ja, was?

    Posselt: Ich habe leider nichts anderes erwartet, weil ich die Realität kenne, und ich war Montag und Dienstag ja selbst mit dem Europäischen Parlament, mit der gemischten parlamentarischen Delegation in Prag. Also, erwarten konnte ich leider nichts anderes. Erhofft hätte ich mir etwas anderes: Und zwar bin ich der Meinung, dass es im nationalen Interesse der Tschechen wäre, sich von der nationalistischen Erblast, der sogenannten Benes-Dekrete, eindeutig zu trennen. Für mich erweckt die tschechische Politik den Eindruck eines Mannes, der am Rande eines Sumpfes steht, und statt dass er aus dem Sumpf herausläuft, rennt er noch tiefer in den Sumpf hinein. Wir müssen am Beginn des 21. Jahrhunderts einfach in anderen Kategorien denken und nicht in den Kategorien einer ethnischen Säuberung aus der Mitte des letzten Jahrhunderts.

    Durak: Herr Posselt, werden diese Dekrete nicht sogar nach dem Beitritt Tschechiens Bestandteil europäischer Rechtsakten und müssten deshalb eigentlich noch vor dem Beitritt gestrichen werden?

    Posselt: Sie müssten vor einem Beitritt sicherlich gestrichen werden. Ich sage immer wieder: Wer Unrechtsdekrete in eine Rechtsgemeinschaft einschleppt, handelt wie jemand, der Computerviren in ein funktionierendes Datenverarbeitungssystem einschleppt. Er gefährdet das ganze Datenverarbeitungssystem. Wissen Sie, hier geht es nicht um spezifische Interessen der Sudetendeutschen allein. Hier geht es darum, dass die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft sich selbst nur dann Ernst nimmt, wenn sie darauf drängt, dass Unrechtsdekrete vor einem Beitritt beseitigt werden. Die gehören nicht in die Rechtsgemeinschaft EU. Das ist die Meinung des Europäischen Parlaments, vieler Mitgliedsstaaten und auch etlicher Kandidatenländer.

    Durak: Was könnte denn der Europäischen Gemeinschaft passieren, wenn diese Dekrete so mit hineingenommen werden?

    Posselt: Ja, wissen Sie, es ist einfach so, dass damit der Geist des Unrechts hineingeschleppt wird. Ich sage Ihnen Beispiele: Wissen Sie, man sieht die Dekrete zu einseitig nur unter der Eigentumsfrage. Zum Beispiel gibt es ein Dekret, da steht drin: Nationalunzuverlässig sind Personen, die sich bei einer Volkszählung nach 1929 zur deutschen oder madjarischen, also ungarischen Muttersprache bekannt haben. Wenn das nicht außer Kraft gesetzt wird, heißt das doch, dass die dortigen Minderheiten, die übrigens auch viel Angst haben und nach wie vor leider sehr verschreckt sind, als national unzuverlässig gelten. Man kann das für theoretisch halten, aber unlängst hatten wir einen Koordinierungsrat des deutsch-tschechischen Gesprächsforums im Auswärtigen Amt in Berlin, und da hat ein Vertreter der ODS, also der Partei vom Parlamentspräsidenten Klaus, den anwesendern Vertreter der deutschen Minderheit in der tschechischen Republik genau dessen bezichtigt, nämlich der Illoyalität gegenüber dem tschechischen Staat. Und wenn man weiß, dass das auch eine Begründung für die Vertreibung war, kann man sich die Reaktion dieses Mannes vorstellen. Oder: Ich kenne zum Beispiel den Fall einer Frau aus Brünn, die als Antifaschistin nicht vertrieben wurde. Die meisten Antifaschisten wurden ja auch vertrieben, aber sie, die Frau Müller, wurde nicht vertrieben, aber hat zum Beispiel vor 1945 in Brünn ihren Ingenieur gemacht, der durch ein Benes-Dekret aufgehoben wurde, weil die deutsche Universität Brünn rückwirkend zu 1939 aufgehoben wurde. Das heißt, die Frau konnte nie ihren Beruf ausüben, was sich heute auf ihre Rente auswirkt. Das sind massive Diskriminierungen, die noch weiter bestehen.

    Durak: Manche sagen, das betrifft Einzelpersonen, und dann haben wir mit einigem Erstaunen auch vor einiger Zeit zur Kenntnis genommen, dass der Erweiterungskommissar Verheugen nach Prag gereist ist und dort versichert hat, die Benes-Dekrete seien kein Hinderungsgrund für den EU-Beitritt. Sie sagen, gerade umgekehrt ist der Fall. Wie muss sich die EU oder auch das Europaparlament, dem Sie angehören, nun verhalten?

    Posselt: Ich bin der Meinung, dass der Kommissar Verheugen einer der Hauptschuldigen an der heutigen Misere ist, weil er jahrelang nichts getan hat. Er hat die Dekrete und ihre Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit mit dem europäischen Recht nicht geprüft. Dann hat er im Eilverfahren in Prag plötzlich erklärt, das Ganze sei kein Thema mehr, und jetzt plötzlich kommt dann wieder die Frage auf, ob nicht doch erst ein Gutachten abgewartet werden muss, das die Kommission selbst in Auftrag gegeben hat. Also, man fragt sich, welchen Kurs die Kommission eigentlich einschlägt. Der Kurs des Europaparlaments ist klar: Wir haben drei Jahres lang die Kommission und auch die tschechische Republik gemahnt, dieses Thema ordentlich und in vernünftiger Weise, die niemanden belastet, zu erledigen. Wir haben selbst jetzt ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das im Sommer herauskommen wird, und dann werden wir aufgrund des Rechtsgutachtens unsere politischen Bewertungen vornehmen.

    Durak: Würden Sie, das Europaparlament, aber im Zweifel mit den vorhandenen Mitteln, die Sie haben, einen Beitritt Tschechiens verhindern?

    Posselt: Darum geht es ja gar nicht. Es geht ja um das so genannte Screening-Verfahren. Schauen Sie, der ganze Beitrittsprozess läuft ja seit Jahren, und da wird einfach das nationale Recht der Kandidatenländer durchforscht nach Punkten, die nicht mit dem EU-Recht vereinbar sind. Und selbstverständlich sind die Kandidatenländer gehalten, solche Punkte abzuändern. Man hat nur bezüglich dieser Dekrete, diesen Screening-Prozess nicht durchgeführt. Das muss nachgeholt werden, deshalb das Rechtsgutachten. Darüber hinaus beurteilen wir dann am Schluss, natürlich auch aufgrund der Kopenhagener Kriterien, an deren Spitze Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Minderheitenrechte stehen politisch die Beitrittsfähigkeit der Staaten. Das ist tatsächlich eine Entscheidung des Europaparlaments. Aber vorher geht es eben um den sogenannten Screening-Prozess, und der ist in diesem Fall nicht durchgeführt worden.

    Durak: Der Beschluss des Parlaments in Prag jetzt spricht ja dagegen. Es sieht ja nicht so aus, als ob Prag da irgendetwas ändern wollen würde. Nun haben wir dort demnächst Wahlen. Gesetz den Fall, auch nach den Wahlen in Prag bleibt man bei der Haltung: Müsste man dann den Beitritt nicht verhindern, nach dem, was Sie sagen?

    Posselt: Bisher hat Prag, jedes Gesetz, das mit dem Europäischen Recht nicht vereinbar war, entsprechend abgeändert. Ich glaube auch, dass nach den Wahlen das Beitrittsverfahren in diesem Punkt sicher zu Ergebnissen kommen wird. Man muss auch sehen, dass tschechische Gesetze, die dem EU-Recht widersprechen, auch jederzeit nach einem Beitritt vom Europäischen Gerichtshof aufgehoben werden können, und das würde ja nur Rechtsunsicherheit schaffen. Deshalb, wenn die Tschechen wirklich Rechtssicherheit schaffen wollen - und das wollen sie ja angeblich für ihre Bürger schaffen -, dann müssen sie die Dinge vorher, in Kontakt mit der EU in vernünftigen Gesprächen klären. Und dann kommt natürlich noch die Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit hinzu. Das sind aber zwei verschiedenen Paar Stiefel. Was die Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft, auch das, glaube ich, ist im Interesse der tschechischen Republik. Wir mussten die dunklen Punkte unserer Vergangenheit aufarbeiten und haben das getan. Es ist schon problematisch, wenn die tschechische Zivilgesellschaft inzwischen in hervorragender Weise junge Leute, Publizisten und andere dieses Thema aufarbeiten, aber die tschechische Politik hinkt da hinterher.

    Durak: Inwiefern könnte sich die Bundesregierung, die Bundesrepublik noch - sagen wir mal - helfend einschalten?

    Posselt: Was mich am meisten stört, ist die absolute Passivität der Bundesregierung. Wir haben Äußerungen von Ministerpräsident Stoiber, vom Europaparlament, von Luxemburgs Premierminister Junker, von dem ungarischen Premierminister Orban und seinem potenziellen Nachfolger, Herrn Medgyessy, der sich auch schon in diese Richtung geäußert hat, dass sie dieses thematisieren wollen - natürlich auch der österreichische Bundeskanzler Schüssel -, und um so mehr bedauere ich das dröhnende Schweigen von Bundeskanzler Schröder.

    Durak: Bernd Posselt, der Vorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft und für die CSU Mitglied des Europaparlaments. Schönen Dank, Herr Posselt, für das Gespräch.