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Tschetschenische Kämpfer in der Ukraine
"Die Menschen im Kaukasus haben nichts vergessen"

In der Ostukraine kämpfen Tschetschenen für die Ukraine - und gegen die Separatisten. Sie fühlen sich dem Land verbunden, denn auch sie mussten sich gegen Russland zur Wehr setzen. Und sie sind dankbar: Denn nach dem Tschetschenienkrieg hatte die Ukraine tausende Flüchtlinge aus Tschetschenien aufgenommen.

Von Barbara Lehmann | 16.12.2015
    Ein Panzer mit ukrainischer Fahne und Soldaten zieht sich aus Debalzewe zurück.
    In der Ostukraine kämpfen Tschetschenen unter ukrainischer Flagge. (AFP / VOLODYMYR SHUVAYEV)
    Die von Panzerketten zerfurchte Straße lässt die Räder des Geländewagens vibrieren. Immer wieder rasch vorbei an Checkpoints, wo Zivilisten in langen Warteschlangen anstehen. Dann - die Ankunft an der Frontlinie:
    Eine Feuerstelle, zwei Bänke und ein Tisch unter dem Vordach eines Rohbaus. Ein Wasserkanister über einem Eimer dient als Waschplatz. Halbfertige Schützengräben als Hinweis, dass jetzt, während des Waffenstillstands, schwere Artilleriegefechte aufgehört haben.
    Hier, nicht weit von Artemiwsk, im Niemandsland, ist die Sturmkompanie des 34. ukrainischen Bataillons in zweiter Frontlinie in Stellung gegangen.
    Kasbek, ihr tschetschenischer Kommandeur, springt aus dem Jeep. Der Krieg, den er hier an der Seite der Ukrainer führt, hat für ihn seine eigene Logik:
    "Der tschetschenische Widerstand in der Ukraine hat auf dem Maidan begonnen. Wir wollten die Ukrainer nicht allein lassen und sind ihnen zu Hilfe gekommen. Jetzt, an der Seite der Ukrainer, leisten wir konkreten Widerstand, um später in unsere Heimat zurückzukehren und sie zu befreien."
    "Der Krieg sitzt in unseren Genen"
    Kasbek war gerade mal 18, als er Ende der Neunzigerjahre, nach dem ersten Tschetschenienkrieg, in die Ukraine floh. Hier brachte er es im westukrainischen Chmelnyzkyj zu einem erfolgreichen Bauunternehmer. Nach der russischen Besetzung der Krim vor gut anderthalb Jahren meldete er sich als Freiwilliger zur ukrainischen Armee:
    "Die Ukraine ist mein Haus. Sie hat mich und andere tschetschenische Flüchtlinge aufgenommen, wie andere europäischen Länder auch. So konnten unsere Kinder vor dem grausamen Morden des Kreml gerettet werden. Wie jeder normale Mensch muss ich mein Haus verteidigen. Gleichzeitig bin ich aber auch ein Bürger meines Volkes. Dass ich für die Freiheit der Ukraine und für die Freiheit meines Volkes kämpfe - darin sehe ich keinen Widerspruch. Beides ergänzt sich."
    Orts- und Szenenwechsel: Ein Dorf in der Nähe von Dnipropetrowsk.
    Das Stabsquartier des tschetschenischen Freiwilligenbataillons Dschochar Dudajew, ein langgestrecktes weißes Gebäude, diente früher als Krankenhaus. Ein hochgewachsener junger Tschetschene mit feinen Gesichtszügen tritt heraus. Adam Osmajew hat studiert, ist Absolvent eines englischen Colleges, war dann sogar Angestellter in einer Moskauer Consulting-Firma. Ein Handschlag, Schulterklopfen, die Männer umarmen sich kurz. Adam Osmajew vertritt kompromisslos ein eindeutiges Feindbild:
    "Der Krieg sitzt in unseren Genen. Hunderte von Jahre herrscht bereits Krieg. Dschochar Dudajew, der erste tschetschenische Präsident, hat mal gesagt: ‚Schrecklich sind nur die ersten fünf Minuten. Wenn die Schlacht beginnt, dann ist es alles normal. Wir kämpfen so oder anders, auf jede beliebige Weise: im Büro, mit ökonomischen Mitteln, mit dem Computer. Wichtig ist, dass sich auch andere uns anschließen."
    "Sobald Russland geschwächt ist, wird sich der ganze Kaukasus erheben"
    Adam Osmajews Vater leitete einst die Erdöl verarbeitenden Werke von Grosny. Nachdem er aber den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow öffentlich kritisiert hatte, musste die Familie nach Odessa fliehen. Unter der Anschuldigung, Attentate auf Putin und Kadyrow geplant zu haben, wurde Sohn Adam dort verhaftet. Mehrere Jahre lang saß er in Odessa im Gefängnis. Erst unter der neuen ukrainischen Regierung wurde er freigesprochen. Danach trat er sofort in das Freiwilligenbataillon "Dschochar Dudajew" ein, das im Lugansker Gebiet eingesetzt worden war.
    Er lädt in die Küche ein. Der Kühlschrank, die Mikrowelle, die Sandsäcke auf den Fensterbänken, das ukrainische Banner, die dazu passenden gelb-blauen Vorhänge sorgen dort für eine fast friedliche Kulisse, die jederzeit und abrupt enden kann. Adam schenkt Tee ein. Die englische Schule wirkt nach. Er ist sich sicher:
    "Die Menschen im Kaukasus haben nichts vergessen. Sie warten nur auf den geeigneten Moment, um sich wieder zu erheben. Unsere Leute sind überall, auch in Kadyrows Sicherheitsstrukturen. Jetzt ist die Zeit allerdings noch nicht reif für einen Aufstand. Aber sobald Russland geschwächt ist, wird sich nicht nur Tschetschenien, sondern der ganze Kaukasus erheben."