Jürgen Liminski: Guten Tag, Herr Raddatz.
Hans-Peter Raddatz: Guten Tag, Herr Liminski!
Liminski: Herr Raddatz, Kemalisten und Islamisten sind auf Konfrontationskurs, das Land ist faktisch im Ausnahmezustand. Sehen Sie eine Chance, dass eine der beiden Seiten einlenkt?
Raddatz: Ja, sie müssen zu einem Kompromiss kommen, denn andernfalls wird in der Tat, wie wir es vorhin gehört haben, die Fahrt nach Europa stark gefährdet sein. Allerdings haben wir in der Vergangenheit immer wieder die Gefährdungen innertürkisch gesehen durch die so genannte türkisch-islamische Synthese. Das sind seit Jahrzehnten andauernde Versuche, die Nationalisten/Kemalisten und die islamorientierten Kräfte unter einen Hut zu bringen. Und hier scheint sich wieder eine neue Dilemma-Situation anzubahnen.
Liminski: Welche Chancen bestehen denn, zu Europa kommen wir gleich, welche Chancen bestehen denn, dass eine der beiden Seiten den Spruch des Verfassungsgerichts schlicht ignoriert und damit Konfrontation sich weiter zuspitzt?
Raddatz: Das ist schwer zu sagen, wenngleich man natürlich zugeben muss, dass die AKP nicht allzu großen Wert darauf gelegt hat, mit der Armee gemeinsam zu marschieren. Denn wie vorhin ebenfalls angedeutet wurde, sind ja gewisse Voraussetzungen von der Armee an die AKP geknüpft gewesen. Und die Voraussetzungen insofern, als man also darauf gedrängt hat, nun die Fehler des Erbakan nicht zu wiederholen und den Staat zu sehr unter islamistischen Druck und Wertewandel zu setzen. Zum Beispiel war die Forderung erhoben worden, das Imam-Hatip-System, eine islamistisch ausgerichtete Bildungsvariante, nicht zu stark ins Gespräch zu bringen. Das kam damals deswegen hoch, weil die Armee selbst unter Unterwanderungsdruck der Islamisten gestanden hat und bis heute steht. Insofern ist die Reaktion auf die Präsidentschaftskandidatur von Gül im Grunde nichts anderes als eine länger sich vorbereitende Problemsituation, die jetzt zum Ausdruck gekommen ist.
Liminski: Die Bedingungen, ich glaube, es waren damals 18, die die Generäle der Regierung Erbakan gestellt haben und damit diese zu Fall brachte, sind bis heute nicht erfüllt, sagen Sie, die Imam-Hatip-Schulen, die den orthodoxen Islam lehren, zu deren Absolventen ja auch Erdogan gehört, verbreiten weiter ihre Version des Islam ungehindert weiter. Auf der anderen Seite erleben wir eine Massendemonstration gegen die islamistisch, aber demokratisch gewählte Regierung. Läuft hier nicht auch ein Riss durch das Volk?
Raddatz: Ja. Diese Massendemonstrationen zeigen deutlich, dass es mit der Synthese nicht vorangekommen ist, sondern ganz im Gegenteil der Riss tiefer geworden ist, was ja auch darauf hindeutet, dass die AKP eben nicht die Reformkraft ist, von der die EU immer spricht, sondern ganz im Gegenteil die vielen Jahrzehnte seit Atatürk erreichten Demokratisierungsbemühungen wieder versucht rückgängig zu machen. Das ist das große Problem, so wie es sich hier darstellt, und hier müssen die Europäer alles tun, um den Türken hier zu helfen und eben nicht in die Versuchung zu verfallen, die Kräfte, die innerhalb der AKP ja keine Reform im Auge haben, sondern das Gegenteil, nämlich eine tiefere Trennung, eine tiefere demokratische Trennung zwischen Moschee und Staat zu vermeiden und insofern halt dem entgegenzuwirken, das jetzt im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eigentlich erreicht werden soll, nämlich der EU-Reformprozess.
Liminski: Die Reaktionen aus Europa richten sich nun überwiegend gegen die Generäle und die Putschdrohung, ist ja auch zu verstehen. Kommt es zum Putsch, sind die Verhandlungen erst mal suspendiert, glauben Sie, dass das die Generäle überhaupt beeindruckt?
Raddatz: Davon können wir kaum ausgehen, denn die Generalität der Türkei war und ist eine ausgesprochen konsequente und zielbewusste Gruppe und steht fest im Kemalismus. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass gerade während der Regierungszeit Erdogans das Image der Armee sehr stark gelitten hat. Die Islamisten haben kaum eine Gelegenheit ausgelassen, dem Renommee der Generäle innertürkisch zu schaden. Insofern muss man auch hier eine Art Schadensbegrenzung halt seitens der Generalität sehen, so dass also insgesamt es sehr, sehr schwierig zu beurteilen ist, wie es hier weitergehen wird. Eine Alternative zum Reformprozess kann es allerdings aus Sicht der beiden Kontrahenten kaum geben. Insofern wird man sich recht bald an den Tisch setzen müssen.
Liminski: Das Erbe Atatürks ist den Generälen offenbar wichtiger als die Zukunft in der EU, ist das nicht auch eine außenpolitische Abwägung? Hat eine Türkei eine Brückennation zwischen Orient und Okzident nicht mehr Einfluss als eine in die EU eingebundene Türkei? Kann man eine Alternative erkennen, etwa so die Türkei zwischen Integration und Isolation?
Raddatz: Das ist eine sehr schwere Frage, Herr Liminski, weil nämlich hier auch die pro-islamischen Kräfte innerhalb der EU eine nicht geringe Rolle spielen. Das heißt, nicht nur die Türken sind im Rahmen der so genannten türkisch-islamischen Synthese, die bei weitem noch nicht vollendet ist, in sich zerrissen, sondern auch innerhalb Europas gibt es große Fliehkräfte, die undemokratische Tendenzen innerhalb der Türkei im Grunde nicht sehen wollen. Wenn wir die Kemalisten innerhalb der Generalität hin und wieder wegen ihrer vergangenen Putschaktivitäten kritisieren, dürfen wir dabei nicht übersehen, dass der Kemalismus, zumindest der demokratische Anteil dieses Kemalismus, natürlich der Kern dessen ist, was die Türkei sich Europa annähern lassen soll. Also insofern schließt das eine das andere nicht aus. Wichtig ist, dass wir hier in Europa sehen, wie schwierig es für die Islamisten ist, ihrerseits einen Kompromiss zwischen der eigenen religionsorientierten Politik und den Erfordernissen der von der EU an sie herangetragenen Reformen zu sehen.
Liminski: Die Türkei am Scheideweg zwischen Integration und "Zurück auf Los". Das war der Orientalist Hans-Peter Raddatz. Besten Dank für das Gespräch, Herr Raddatz.
Raddatz: Gerne, Herr Liminski.
Hans-Peter Raddatz: Guten Tag, Herr Liminski!
Liminski: Herr Raddatz, Kemalisten und Islamisten sind auf Konfrontationskurs, das Land ist faktisch im Ausnahmezustand. Sehen Sie eine Chance, dass eine der beiden Seiten einlenkt?
Raddatz: Ja, sie müssen zu einem Kompromiss kommen, denn andernfalls wird in der Tat, wie wir es vorhin gehört haben, die Fahrt nach Europa stark gefährdet sein. Allerdings haben wir in der Vergangenheit immer wieder die Gefährdungen innertürkisch gesehen durch die so genannte türkisch-islamische Synthese. Das sind seit Jahrzehnten andauernde Versuche, die Nationalisten/Kemalisten und die islamorientierten Kräfte unter einen Hut zu bringen. Und hier scheint sich wieder eine neue Dilemma-Situation anzubahnen.
Liminski: Welche Chancen bestehen denn, zu Europa kommen wir gleich, welche Chancen bestehen denn, dass eine der beiden Seiten den Spruch des Verfassungsgerichts schlicht ignoriert und damit Konfrontation sich weiter zuspitzt?
Raddatz: Das ist schwer zu sagen, wenngleich man natürlich zugeben muss, dass die AKP nicht allzu großen Wert darauf gelegt hat, mit der Armee gemeinsam zu marschieren. Denn wie vorhin ebenfalls angedeutet wurde, sind ja gewisse Voraussetzungen von der Armee an die AKP geknüpft gewesen. Und die Voraussetzungen insofern, als man also darauf gedrängt hat, nun die Fehler des Erbakan nicht zu wiederholen und den Staat zu sehr unter islamistischen Druck und Wertewandel zu setzen. Zum Beispiel war die Forderung erhoben worden, das Imam-Hatip-System, eine islamistisch ausgerichtete Bildungsvariante, nicht zu stark ins Gespräch zu bringen. Das kam damals deswegen hoch, weil die Armee selbst unter Unterwanderungsdruck der Islamisten gestanden hat und bis heute steht. Insofern ist die Reaktion auf die Präsidentschaftskandidatur von Gül im Grunde nichts anderes als eine länger sich vorbereitende Problemsituation, die jetzt zum Ausdruck gekommen ist.
Liminski: Die Bedingungen, ich glaube, es waren damals 18, die die Generäle der Regierung Erbakan gestellt haben und damit diese zu Fall brachte, sind bis heute nicht erfüllt, sagen Sie, die Imam-Hatip-Schulen, die den orthodoxen Islam lehren, zu deren Absolventen ja auch Erdogan gehört, verbreiten weiter ihre Version des Islam ungehindert weiter. Auf der anderen Seite erleben wir eine Massendemonstration gegen die islamistisch, aber demokratisch gewählte Regierung. Läuft hier nicht auch ein Riss durch das Volk?
Raddatz: Ja. Diese Massendemonstrationen zeigen deutlich, dass es mit der Synthese nicht vorangekommen ist, sondern ganz im Gegenteil der Riss tiefer geworden ist, was ja auch darauf hindeutet, dass die AKP eben nicht die Reformkraft ist, von der die EU immer spricht, sondern ganz im Gegenteil die vielen Jahrzehnte seit Atatürk erreichten Demokratisierungsbemühungen wieder versucht rückgängig zu machen. Das ist das große Problem, so wie es sich hier darstellt, und hier müssen die Europäer alles tun, um den Türken hier zu helfen und eben nicht in die Versuchung zu verfallen, die Kräfte, die innerhalb der AKP ja keine Reform im Auge haben, sondern das Gegenteil, nämlich eine tiefere Trennung, eine tiefere demokratische Trennung zwischen Moschee und Staat zu vermeiden und insofern halt dem entgegenzuwirken, das jetzt im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eigentlich erreicht werden soll, nämlich der EU-Reformprozess.
Liminski: Die Reaktionen aus Europa richten sich nun überwiegend gegen die Generäle und die Putschdrohung, ist ja auch zu verstehen. Kommt es zum Putsch, sind die Verhandlungen erst mal suspendiert, glauben Sie, dass das die Generäle überhaupt beeindruckt?
Raddatz: Davon können wir kaum ausgehen, denn die Generalität der Türkei war und ist eine ausgesprochen konsequente und zielbewusste Gruppe und steht fest im Kemalismus. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass gerade während der Regierungszeit Erdogans das Image der Armee sehr stark gelitten hat. Die Islamisten haben kaum eine Gelegenheit ausgelassen, dem Renommee der Generäle innertürkisch zu schaden. Insofern muss man auch hier eine Art Schadensbegrenzung halt seitens der Generalität sehen, so dass also insgesamt es sehr, sehr schwierig zu beurteilen ist, wie es hier weitergehen wird. Eine Alternative zum Reformprozess kann es allerdings aus Sicht der beiden Kontrahenten kaum geben. Insofern wird man sich recht bald an den Tisch setzen müssen.
Liminski: Das Erbe Atatürks ist den Generälen offenbar wichtiger als die Zukunft in der EU, ist das nicht auch eine außenpolitische Abwägung? Hat eine Türkei eine Brückennation zwischen Orient und Okzident nicht mehr Einfluss als eine in die EU eingebundene Türkei? Kann man eine Alternative erkennen, etwa so die Türkei zwischen Integration und Isolation?
Raddatz: Das ist eine sehr schwere Frage, Herr Liminski, weil nämlich hier auch die pro-islamischen Kräfte innerhalb der EU eine nicht geringe Rolle spielen. Das heißt, nicht nur die Türken sind im Rahmen der so genannten türkisch-islamischen Synthese, die bei weitem noch nicht vollendet ist, in sich zerrissen, sondern auch innerhalb Europas gibt es große Fliehkräfte, die undemokratische Tendenzen innerhalb der Türkei im Grunde nicht sehen wollen. Wenn wir die Kemalisten innerhalb der Generalität hin und wieder wegen ihrer vergangenen Putschaktivitäten kritisieren, dürfen wir dabei nicht übersehen, dass der Kemalismus, zumindest der demokratische Anteil dieses Kemalismus, natürlich der Kern dessen ist, was die Türkei sich Europa annähern lassen soll. Also insofern schließt das eine das andere nicht aus. Wichtig ist, dass wir hier in Europa sehen, wie schwierig es für die Islamisten ist, ihrerseits einen Kompromiss zwischen der eigenen religionsorientierten Politik und den Erfordernissen der von der EU an sie herangetragenen Reformen zu sehen.
Liminski: Die Türkei am Scheideweg zwischen Integration und "Zurück auf Los". Das war der Orientalist Hans-Peter Raddatz. Besten Dank für das Gespräch, Herr Raddatz.
Raddatz: Gerne, Herr Liminski.