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Türkei
Außenpolitisch zunehmend isoliert

Ob Europa oder der arabische Raum: Die Türkei isoliert sich außenpolitisch zunehmend in alle Richtungen. Die Regierung spricht von einer "precious loneliness" - einer kostbaren und damit selbst gewählten Einsamkeit. Nach außen wirkt sie allerdings eher hilflos.

Von Luise Sammann | 30.04.2015
    Zerrissenes Wahlplakat des türkischen Politikers Recep Tayyip Erdogan
    Zerrissenes Wahlplakat des türkischen Politikers Recep Tayyip Erdogan (dpa / picture alliance / Tolga Bozoglu)
    "Das türkische Volk wird dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussagen nicht vergessen und nicht verzeihen."
    "Es ist klar, dass die Erklärung des österreichischen Parlaments die türkisch-österreichische Freundschaft dauerhaft beschädigen wird."
    Die Briefe und Erklärungen, die in den letzten Tagen aus Ankara verschickt wurden, ähnelten sich. In Wien, Brüssel und Berlin, im Vatikan - und selbst in Moskau. Überall hatten es Regierungen oder ihre Vertreter gewagt, die Massaker an den Armeniern als Völkermord zu bezeichnen. Die türkischen Reaktionen folgten umgehend.
    "Weder der Papst als eine religiöse Figur, noch das das EU-Parlament, das fast schon zur Stimme des wachsenden Rassismus in Europa geworden ist, können so von oben herab zu uns sprechen," stellte Premierminister Ahmet Davutoglu erzürnt fest. "Wir lassen uns von niemandem mit Arroganz behandeln!"
    Die Beziehungen zum Westen steckten in einer "ernsten Notlage", resümierte am nächsten Tag der regierungskritische Journalist Serkan Demirtas in seiner Kolumne. Die Türkei sei zunehmend isoliert. Und tatsächlich: Der Streit um die Völkermordfrage machte auch deutlich, was in Ankara längst die Spatzen von den Dächern pfeifen: Keine sechs Wochen vor den Parlamentswahlen besteht die einst so vielversprechende türkische Außenpolitik nurmehr aus Bruchstücken.
    "Aus einer Null-Problem-Außenpolitik ist eine Überall-Problem-Außenpolitik geworden. Es ist fürchterlich," stellt ein Leser der konservativen Tageszeitung Zaman in einer Umfrage fest. Und ein anderer meint:
    "Von Beziehungen kann schon gar nicht mehr die Rede sein. Nur noch Konflikte überall... Alles läuft schlecht. Wir sind komplett allein."
    Im arabischen Raum zum ungebetenen Gast geworden
    Auch wenn die türkische Regierung gegenüber ihren Wählern gern von einer "precious loneliness" spricht - einer kostbaren und damit selbst gewählten Einsamkeit also. Vor allem wirkt sie dieser Tage außenpolitisch hilflos, bestätigt der renommierte Politikwissenschaftler Soli Özel aus Istanbul:
    "Noch bis 2011 war die Türkei überall involviert, unsere Meinung wurde ernstgenommen und konnte etwas bewirken. Aber heute sehe ich davon nichts mehr."
    Soli Özel gehört nicht zum Lager der notorischen AKP-Kritiker am Bosporus. Doch ein Blick auf die Weltkarte, die in seinem Büro an der Wand hängt, genügt, um zu verstehen, wie er zu seinem Urteil kommt. Mit dem Finger fährt er über die einzelnen Länder: Die Beziehungen zu Brüssel wirken wie eingefroren - kaum mehr jemand, der in diesen Tagen offen für einen baldigen EU-Beitritt der Türkei wirbt. In der Kaukasusregion ist als einziger Verbündeter Aserbaidschan übrig. Und auch um die Männerfreundschaft zwischen Putin und Erdogan - einst demonstrativ zur Schau gestellt - ist es merklich still geworden, nachdem Moskau mehrmals gezeigt hat, wie wenig der russischen Führung die Gefühle der Türken im Ernstfall bedeuten. Im arabischen Raum aber, in dem ihr vor wenigen Jahren noch eine politische und kulturelle Führungsrolle prophezeit wurde, ist die Türkei inzwischen in zahlreichen Hauptstädten regelrecht zum ungebetenen Gast geworden. In Ägypten und Israel hat sie nicht mal mehr einen Botschafter.
    "Das Hauptproblem sind die Vorgänge im Land selbst," versucht Politikwissenschaftler Özel den Imageverlust zu erklären.
    Ein Neuanfang muss her
    Die Türkei wird mehr und mehr als ein Land wahrgenommen, in dem das Rechtssystem zerfällt und in dem sich autoritäre Tendenzen ausbreiten. Ein Land, das sich zusehends von einem beispielhaften muslimischen und trotzdem demokratischen NATO-Staat wegentwickelt. Aber ohne diese Eigenschaften hat die Türkei nicht mehr anzubieten, als ihre günstige geografisch-strategische Lage.
    Doch selbst diese Triumphkarte ist in diesen Tagen in Gefahr. Es ist noch nicht lange her, da schien eine Einigung im Atomkonflikt zwischen dem Iran und dem Westen kaum vorstellbar. Nun plötzlich ist sie zum Greifen nahe - und den einst so wichtigen Vermittler Ankara hat dabei niemand mehr gebraucht.
    Ein Neuanfang muss her, glaubt nicht nur Politikwissenschaftler Özel. Schließlich könnten sich auch die USA eines Tages dazu durchringen, die Massaker von 1915 als Genozid zu bezeichnen. Und dann?
    "Die Türkei muss sich neu aufstellen. Wer sollen ihre strategischen Partner sein, in einer sich neu formierenden Welt? Die NATO oder jemand anders? Die Türkei muss sich der Frage stellen: Wo wollen wir hin?"