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Türkei
Der Charakter der Taksim-Proteste

Deniz Yücel lässt in seinem Buch "Taksim ist überall" fast 100 Menschen zu Wort kommen. Sie alle hatten ihre Gründe, an den Protesten, die sich im Sommer 2013 im Gezi-Park in Istanbul entzündeten, teilzunehmen. Der Querschnitt zeigt, dass die Motive sehr unterschiedlich gewesen sind.

Von Luise Sammann | 10.03.2014
    Mehr als 3,5 Millionen Demonstranten, rund 8.000 Verletzte, mindestens fünf Tote. Das sind die Zahlen, die den Gezi-Aufstand vom Juni 2013 beschreiben sollen. Doch sie können es nicht. Ebenso wenig, wie die Begriffe "Umweltschützer" oder "Regierungsgegner" den Massen gerecht werden, die damals auf den Istanbuler Taksim-Platz strömten.
    taz-Journalist Deniz Yücel hat sich aufgemacht, die Zahlen und Begriffe mit Gesichtern zu versehen. Sein Buch "Taksim ist überall" ist ein Streifzug durch die vielen "Taksims" der modernen Türkei: "Was mich interessiert hat, war zu erzählen, wer diese Leute waren, woher sie gekommen sind, wie sie leben, wie sie leben wollen. An welchen Punkten sie einen Widerspruch formulieren, der ja nicht nur um den Park ging und auch nicht nur um die Polizeigewalt."
    Der Taksim-Platz ist heute unscheinbar
    Neun Monate sind vergangen, seit die Gezi-Proteste ausbrachen. Fast ungläubig blickt Yücel heute auf den Taksim-Platz. Nichts mehr deutet auf den Ausnahmezustand von damals hin: Ein paar junge Türkinnen schlendern mit Einkaufstüten vorbei, ein Sesamkringelverkäufer schiebt seine duftende Ware über den Bürgersteig. Im Gezi-Park nebenan blühen von der Stadtverwaltung angepflanzte Stiefmütterchen, als wäre nichts gewesen. Und doch, glaubt Autor Yücel, ist nichts mehr, wie es einmal war:
    "Also, die Türkei hatte mich angefangen zu langweilen. Es gab halt auch keinen großen gesellschaftlichen Widerspruch und eine Gesellschaft, die das mit sich machen lässt, das ist auch uninteressant. Und jetzt, jetzt finde ich, mit Gezi ist das Land unglaublich aufregend!"
    Nur der Anfang von Yücels Erstlingswerk lässt diese Begeisterung hier und da vermissen. 30 Seiten lang geht es etwas umständlich quer durch die türkische Geschichte. Erst dann kommt der Autor zu seinem vielleicht wichtigsten Thema, dem Gezi-Gefühl:
    "Das Gezi-Gefühl ist freundlich: Das Gezi-Gefühl begann im Tränengas, wo man sich gegenseitig half, und setzte sich im Park fort, wo sich die Leute beim kleinsten versehentlichen Anrempeln eher dreimal zu viel als einmal zu wenig entschuldigten. Für das, was das Gezi-Gefühl am meisten verachtet, gibt es im Deutschen keine adäquate Übersetzung. Otekileştirmek, sagt das Gezi-Gefühl, othering heißt es im Englischen. Denn im Gezi-Park war jeder ein Anderer. Und jeder hatte seine Gründe, dort zu sein. Jeder sprach von Freiheit, ohne dasselbe zu meinen."
    Reportage der Retrospektive
    Erfolgreich schafft es der Autor, die Leichtigkeit und den Humor vom Sommer 2013 in seinen Texten zu spiegeln. Besonders stark sind seine Beschreibungen in den im Reportagestil geschriebenen Kapiteln. Wenn Menschen zu Wort kommen, nicht Experten oder Historiker. Da ist zum Beispiel der Fußballfan Onur, Mitglied des in der ganzen Türkei berühmten Carşi-Fanclubs aus Beşiktas:
    "Onur und seine engsten Freunde - Männer in seinem Alter, die studiert haben und in Banken, Werbeagenturen oder Computerfirmen arbeiten, liebend gern Fangesänge grölen, ansonsten aber freundlich und wohlerzogen auftreten - gehörten zu den rund dreißig Carşı-Leuten, die als erste zur Unterstützung der Parkbesetzer kamen. Als die Proteste losgehen, ruft sein Vater an und meint nun: 'Das bringt nichts, wir haben uns jahrelang mit Politik beschäftigt und nichts erreicht.' 'Ich bin auf den Barrikaden, weil ihr keinen Erfolg hattet' erwidert der Sohn. 'Und ich hoffe, dass meine Kinder nicht auch auf die Barrikaden steigen müssen.' Er legt wütend auf. Dann meldet sich der Vater wieder und sagt: 'Ich bin besorgt. Aber ich bin stolz auf dich. Macht, was wir nicht geschafft haben - macht aus diesem Land eine echte Demokratie!'".
    "Taksim ist überall" ist mehr als nur ein Buch über den Gezi-Aufstand. Es ist ein Marathon durch die türkische Geschichte und Gesellschaft. 96 Gesprächspartner hat der Journalist Yücel für seine Recherchen getroffen: Künstler und Managerinnen, Juden und Islamisten, Berufsrevolutionäre und Dönerverkäufer, Transvestiten und Hausfrauen. Menschen, die charakteristisch sind für bestimmte Stadtviertel, Städte und Milieus der Türkei - und in ihrer Gesamtheit ein Porträt der mehr als 3,5 Millionen Gezi-Demonstranten ergeben.
    "Wenn man mit Leuten spricht, jeder sagt, das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Also erst der Gezi-Park und dann vor allem die Polizeigewalt, das war der letzte Tropfen. Aber wenn man dann nachfragt, womit war denn dieses Fass gefüllt? Dann bekommt man von ganz verschiedenen Leuten ganz unterschiedliche Antworten. Und das war mein journalistisches Interesse auch, dem nachzugehen: Was war denn in dem Fass drinnen für die verschiedenen Leute?"
    Bewunderung für die Demokratiebewegung
    Yücel selbst bleibt ein zurückhaltender Autor, tritt kaum in Erscheinung, wertet wenig. Und doch zeigt er mit der Auswahl seiner Gesprächspartner und Szenen eine klare Haltung, eine Bewunderung für das, was da im vergangenen Sommer in der Heimat seiner Eltern passiert ist. Wenn er Demonstranten wie den kurdischen Teeverkäufer Mithat zu Wort kommen lässt, dann wirkt das oft stärker, als wenn er selbst - der zugereiste taz-Autor aus Berlin - versuchen würde, das Gezi-Gefühl zu beschreiben:
    "Gezi war ein großer Karneval", sagt der 17-jährige Mithat, der in den Straßen Istanbuls heißen Tee aus einer Thermoskanne verkauft. "Aber es heißt ja immer, die oder die hätten den Gezi-Park verteidigt. In Wirklichkeit waren es die Kurden. Manchmal habe ich meine Thermoskannen abgestellt und mitgemacht. Denn mich behandelt dieser Staat als Bürger zweiter Klasse."
    Die Geschichte der Kurden und der türkischen Linken, der armenischen Minderheit, der Transsexuellen und der Fußballfans: All das und noch viel mehr beschreibt Yücel in anschaulicher, oft bildhafter Sprache. Was in diesem Buch fehlt, ist die andere Seite. Der Titel ist irreführend, wenn man einen Blick auf die gesamte türkische Gesellschaft erwartet. Die vielen Millionen Erdogan-Anhänger, die den Gezi-Park nie betreten haben, kommen in "Taksim ist überall" nicht vor.
    "Taksim ist überall", von Deniz Yücel. "Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei". Der Band ist in der Edition Nautilus erschienen, er hat 224 Seiten und kostet 12,90 Euro.