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Türkei
"Ein Pascha an der Spitze"

Die Türkei hat die heftigsten Proteste gegen Regierungschef Erdogan seit mehreren Monaten erlebt. Der wiederum habe den Bezug zur Realität verloren, sagt Nahost-Experte und Türkei-Kenner Michael Lüders im Deutschlandfunk. Erdogan lebe in seiner eigenen Welt und lasse keine Kritik zu.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller | 13.03.2014
    Demonstranten auf der Straße, viele laufen weg, einer wirft eine Rauchbombe.
    In der Türkei lieferten sich Polizei und Demonstranten Straßenkämpfe. (Sedat Suna, dpa picture-alliance)
    Dirk Müller: Die Türkei, seit Monaten im Fokus der Berichterstattung. Um genauer zu sein, steht der Ministerpräsident selbst dabei im Fokus, Recep Tayyip Erdogan. Die Proteste gegen umstrittene Bauprojekte in Istanbul, das ist die eine Seite. Anhaltender Kritik, anhaltender Proteste, Demonstrationen und auch anhaltender Gewalt. Der Tod eines 15jährigen Jungen hat jetzt in dieser Woche für eine weitere Eskalation gesorgt. Die zweite Seite spiegelt die massiven Korruptionsvorwürfe gegen den Regierungschef und dessen Machtapparat. Erdogan gerät also immer weiter unter Druck von vielen Seiten und es gibt auch weitere Tote.
    Die Krise in der Türkei - unser Thema mit Politikwissenschaftler Michael Lüders, Nahost- und Türkei-Experte. Guten Tag.
    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Müller. Hallo!
    Müller: Herr Lüders, weiß Erdogan noch, was im Land vor sich geht?
    Lüders: Er hat den Bezug zur Realität auf jeden Fall verloren. Das muss man sagen. Er lebt in seiner eigenen Welt und ähnlich wie Putin ist er völlig neutral gegenüber Kritik. Er versteht nicht mehr, was in seinem eigenen Land vor sich geht. Er macht eine ausländische Verschwörung dafür verantwortlich und ist nicht in der Lage, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen, die mehr und mehr Kritik üben an seinem Herrschaftsstil, zu integrieren in die türkische Politik, und das ist eine große Gefahr für die Türkei in politischer, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht.
    "Erdogan besitzt nicht die Fähigkeit, Konflikte zu moderieren"
    Müller: Warum hat er vergessen, Demokrat zu werden?
    Lüders: Das hängt ein bisschen mit den Strukturen türkischer Politik insgesamt zusammen. Alle türkischen Parteien und auch seine AK-Partei sind Parteien, die strukturiert sind von oben nach unten, mit einem Pascha an der Spitze, der von oben aus dem Rest der Partei und in seinem Fall auch des Landes mitteilt, was gut für dieses Land sei und was nicht. Er selbst sieht sich als Landesvater, als Pascha, und er hält jede Form der Kritik an seinem Politikstil für eine Art Blasphemie, für eine Art Vatermord. Er ist nicht bereit, das zu dulden, und er hat ja auch nicht ohne Grund die Protestierer im Gezi-Park im vorigen Sommer als ungezogene, als verzogene Kinder bezeichnet, und dieses Bild sagt etwas aus über seine Mentalität. Er glaubt, er wisse als Stammvater am besten, was der Türkei gut tue und was nicht, und er besitzt nicht die Fähigkeit, Konflikte zu moderieren oder die Partei wie auch die politische Landschaft der Türkei insgesamt zu öffnen. Die Türkei ist mittlerweile ein sehr modernes Land in vielerlei Hinsicht, aber die politischen Strukturen sind in den 1950er- und 1960er-Jahren stecken geblieben.
    Müller: Wenn ich Sie aber richtig verstehe, Herr Lüders, dann sagen Sie ganz klar: Die ganze Problematik jetzt, das ist kein spezifisches Erdogan-Problem, sondern Türkei-systemimmanent?
    Lüders: In der Tat, so ist es. Es ist nicht ganz richtig, wenn viele Beobachter glauben, es sei ein Problem von Islam oder nicht Islam, um das es hier ginge. Alle türkischen Parteien, nicht nur die islamische AK-Partei, ist so organisiert wie beschrieben, ein Pascha an der Spitze, der von oben nach unten das Land regiert. Ab und zu gibt es auch mal eine Ausnahme wie Tanju Ciller in den 1990er-Jahren, aber im Prinzip sind die Strukturen klar von oben nach unten und das gilt für alle türkischen Parteien und ist auch ein großes Problem für die jetzt Protestierenden, denn sie haben bislang noch keine Partei, wo sie ihre Energien hin kanalisieren könnten. Es gibt keine Alternative zur AK-Partei. Die CAP, die größte Oppositionspartei, die ein merkwürdiger Mix ist aus Ultranationalismus und Sozialdemokratie, wäre dasselbe in Grün.
    "Türken sind überaus europafähig"
    Müller: Grün ist ein gutes Stichwort. Haben Sie schon mal mit der Grünen-Führungselite in Deutschland oder mit den Sozialdemokraten gesprochen und gesagt, wisst ihr überhaupt, dass die Türkei gar nicht europafähig ist?
    Lüders: Nein, die Türken sind überaus europafähig und die Türkei insgesamt hat enorme Schritte nach vorne gemacht mit Blick auf ihre Westanbindung und mit Blick auf Weltoffenheit. Aber das gilt eben nicht für das politische System, es gibt nicht unbedingt für die ländliche Türkei. Aber es gibt weite Teile der Bevölkerung, die mit diesem politischen System, wie es Erdogan verkörpert, nichts mehr zu tun haben wollen. Das sind einmal die Gezi-Park-Protestierer, vor allem also die städtische Mittelschicht, vielfach jung und westlich orientiert, und es ist zum anderen die Gülen-Bewegung, also wertkonservative, religiös orientierte Türken, die mit großer Sorge dem ehemaligen Verbündeten Erdogan die Gefolgschaft aufgekündigt haben und über den Justizapparat versuchen, die ganzen illegalen Machenschaften von Erdogan und seinen Verbündeten offenkundig zu machen, vor Gericht zu bringen, bislang mit wenig Erfolg. Erdogan reagiert, indem er sich rächt und die Freiheiten der Türken etwa durch die Zensur im Internet mehr und mehr einzuschränken droht und das auch getan hat, und das verheißt nichts Gutes. Der Druck kommt zunehmend auch aus der Wirtschaft, die mit Sorge sieht, dass zahlreiche Investoren sich von der Türkei abwenden.
    Müller: Dann nehmen wir das Stichwort noch mal auf: Gülen-Bewegung, wie auch immer ausgesprochen, geht ein bisschen durcheinander bei uns auch in den Medien, Michael Lüders. Wenn dieses Netzwerk wiederum auch so mächtig ist, denn das wird ja von außen gesteuert beziehungsweise von den USA ja auch zumindest organisiert und beeinflusst, das hört sich ja auch wiederum nicht nach offenen, transparenten demokratischen Strukturen an.
    Lüders: Den Weg muss die Gülen-Bewegung noch gehen, denn sie ist bislang überhaupt nicht parteipolitisch organisiert, obwohl auch sie natürlich ihren Pascha, nämlich besagten Fethullah Gülen an der Spitze hat, der in den USA in Pennsylvania lebt. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten in der Türkei und solange das nicht geschieht, kann Erdogan auch erst einmal die Proteste aussitzen. Es gibt gegenwärtig keine Partei, die ihm unmittelbar gefährlich werden könnte. Zwar sind in zwei Wochen Kommunalwahlen, aber auch die Türken, die unzufrieden sind mit ihm, wissen eigentlich nicht, welche alternative Partei sie wählen könnten. Sie bleiben eventuell den Wahlen fern. Das wäre dann die größte Form der Kritik zurzeit, die man an Erdogan anbringen könnte. Aber es ist noch nicht so weit, dass seine Macht unmittelbar gefährdet wäre. Wenn allerdings die Wahlergebnisse bei den Kommunalwahlen für ihn desaströs ausfallen, wird er sein Ziel nicht verwirklichen können, nächster Präsident der Türkei zu werden. Bislang ist ja ein Präsident in der Türkei überwiegend ein Repräsentant zeremonieller Natur wie in Deutschland, aber Erdogan will einen Präsidialstaat errichten, mit ihm als starkem Mann, ähnlich wie die französische Republik oder der amerikanische Präsident.
    Vergleich: Präsident Gül wie Angela Merkel in der Kohl-Ära?
    Müller: Jetzt gibt es noch einen Präsidenten, der schaut sich die ganze Sache an. Das ist auch zumindest ein enger Freund gewesen von Erdogan, nämlich der Präsident namens Gül. Wie geht er damit um?
    Lüders: Abdullah Gül ist jemand, der unter den Vertretern der AK-Partei sicherlich mit am meisten Vernunft gesegnet ist auf der Führungsebene. Er weiß aber auch, dass er nicht den Königsmord, den Paschamord wagen kann, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Er verhält sich ein bisschen so, wenn ich das vergleichen darf, wie Angela Merkel in der Spätphase der Helmut-Kohl-Ära. Wer da zum falschen Zeitpunkt sich zu früh herauswagte, um dessen Karriere war es durchaus geschehen. Angela Merkel hat das sehr geschickt angestellt, das Ergebnis ist bekannt, und diesen Weg versucht auch Abdullah Gül zu gehen. Er ist der potenzielle Nachfolger von Erdogan, aber er muss aufpassen, dass er jetzt nicht einen falschen Schritt macht, der ihn in Ungnade fallen ließe. Erdogan hat Macht über alle Partei- und politischen Ämter in der Türkei und er kann Abdullah Gül ohne Weiteres entlassen. Dieses Risiko wird er nicht eingehen wollen.
    "Gemäßigte Kräfte unterstützen"
    Müller: Jetzt haben wir von Ihnen, Michael Lüders, in diesem Gespräch ganz viel von Paschas gehört. Sollten wir abwarten, bis erst mal alle Paschas in der Türkei zurückgetreten sind?
    Lüders: Na ja, so schnell wird das nicht gehen. Man kann den Türken nur wünschen, dass sie die richtigen Schritte ergreifen. Das betrifft zum Beispiel die Gezi-Park-Protestierer, die den nächsten Schritt auch gehen müssen, nämlich Parteien zu gründen, die völlig neu strukturiert sind, eben pluralistisch, die eine Parteiendemokratie verwirklichen. Das ist ein langer und mühseliger Weg. Den hat die Türkei noch vor sich und dabei muss man diejenigen Kräfte, die demokratisch gesinnt sind, auch begleiten. Es hilft also nicht zu sagen, die Türkei gehört nicht zu Europa, oder die Türkei ist islamisch und wir wollen sie deswegen nicht. Es ist sinnvoller, diese gemäßigten Kräfte, die es dort gibt, zu unterstützen, und welchen Weg am Ende die Türkei geht, müssen die Türken natürlich selber für sich bestimmen.
    Müller: Jetzt bekomme ich das Zeichen, dass wir in zehn Sekunden fertig sein müssen. Dennoch die Frage: Dass Erdogan seinen Hut nimmt, bekommen wir in diesem Jahr noch mit?
    Lüders: Das kann durchaus passieren, wenn der Druck weiter so sich aufbaut, wie das gegenwärtig der Fall ist.
    Müller: Der Politikwissenschaftler und Türkei-Kenner Michael Lüders. Danke für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.