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Türkei fürchtet Regierungswechsel in Deutschland

Der Politologe Hüseyin Bagci befürchtet, dass die Türkei bei einem Regierungswechsel in Deutschland einen wichtigen Verbündeten für einen türkischen EU-Beitritt verlöre. Die von Angela Merkel vorgeschlagene privilegierte Partnerschaft sei für die Regierung Erdogan keine Alternative. Sie setze weiterhin auf eine EU-Vollmitgliedschaft, so Bagci.

Moderation: Christine Heuer |
    Christine Heuer: Das rot-grüne Debakel, das wir soeben in Deutschland beobachten können, hat möglicherweise auch gravierende außenpolitische Folgen. So könnte sich erweisen, dass es politisch betrachtet nur ein Katzensprung ist von Düsseldorf nach Ankara, vom rot-grünen Absturz in Nordrhein-Westfalen also und den Neuwahlplänen im Bund bis zum Ende aller Beitrittsträume der Türkei zur Europäischen Union. Ist dieser Beitritt überhaupt noch denkbar, falls in Deutschland ab Herbst die CDU regiert, die Beitrittsgegnerin Angela Merkel an Stelle des wichtigsten Beitrittsbefürworters Gerhard Schröder? Am Telefon begrüße ich Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der Universität in Ankara. Guten Morgen Professor Bagci!

    Hüseyin Bagci: Guten Morgen!

    Heuer: Es gibt in Deutschland heute früh, Herr Bagci, schon erste Stimmen aus der CDU, die fordern, die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu verschieben. Das kann Sie nicht überraschen oder?

    Bagci: In der Türkei gibt es große Besorgnis, dass wenn die Christdemokraten im Herbst an die Regierung kommen sollten, es für die Türkei höchstwahrscheinlich große Schwierigkeiten auf lange Sicht geben würde. Wie es aber zurzeit aussieht wird die Türkei am 3. Oktober mit der Europäischen Union die Verhandlungen beginnen. Da steht keineswegs irgendetwas im Wege.

    Heuer: Es gibt aber schon erste Forderungen aus der Union, wenn ich das noch mal wiederholen darf, die genau dies fordern, nämlich eine Verschiebung dieser Entscheidung.

    Bagci: Ja, diese Forderung ist da, aber wie es zurzeit aussieht, wird die Türkei die Verhandlungen am 3. Oktober mit der Europäischen Union technisch beginnen. Später, wenn die Christdemokraten an die Regierung kommen sollten, würde es natürlich auch der Fall sein, dass diese Verhandlungen abgebrochen werden können, wenn einige Länder, darunter auch Deutschland natürlich, irgendwie fordern würde, dass die Türkei nicht die Kriterien erfüllt, weswegen die Beziehungen abgebrochen werden sollten. Theoretisch gesehen, wie Sie es auch gesagt hatten, ist es denkbar, dass die Verhandlungen abgebrochen werden, aber wie es technisch zurzeit aussieht, können auch die Christdemokraten nicht verhindern, dass die Verhandlungen wohl am 3. Oktober beginnen.

    Heuer: Rechnen Sie denn damit, dass eine Regierungschefin Angela Merkel, würde sie denn gewählt, ganz klar nein sagen würde zum EU-Beitritt Ihres Landes?

    Bagci: Ja. Sie hat das auch gesagt, wenn sie gewählt werden sollte. Sie war voriges Jahr in der Türkei und sie hat dieses Angebot der privilegierten Partnerschaft gemacht und die türkische Regierung hatte das abgelehnt. Sie haben aber Recht: Seit vorgestern haben wir in der Türkei gemischte Gefühle, weil die Türkei in den letzten Jahren sehr viel auf Deutschland gespielt hatte, dass Deutschland das größte Land sei in der Europäischen Union, was den türkischen Beitritt politisch sehr stark unterstützt hatte. Das würde jetzt natürlich bedeuten, dass diese Unterstützung nicht mehr da ist. Aber ich darf es noch mal ausdrücklich sagen: die Christdemokraten sagen ja, dass die Türkei irgendwie in Europa verankert werden sollte. Nur sie haben nicht die Meinung, dass die Türkei für eine Vollmitgliedschaft die Kriterien erfüllt. Das ist natürlich eine politische Haltung, die auch zu diskutieren ist.

    Heuer: Aber politisch betrachtet, Herr Bagci, ohne Gerhard Schröder an ihrer Seite kann die Türkei nicht mehr mit einem Beitritt zur Europäischen Union rechnen?

    Bagci: Sie meinen an der türkischen Regierungsseite? Ich bin nämlich Akademiker.

    Heuer: Ja.

    Bagci: Ich glaube auch, dass es psychologisch gesehen für die Türkei ein großer Schlag bedeutet. Da haben Sie Recht. Sogar die türkische Börse hat darauf reagiert, dass das Vertrauen Deutschlands zur Türkei verloren gehen könnte. Wie Sie sehen haben die deutschen politischen Entwicklungen direkten Einfluss auf die türkische Außenpolitik sowie zur türkisch-europäischen Union. Von daher gehe ich davon aus, dass wir in den nächsten Monaten und kommenden Jahren natürlich dieses Gefühl haben werden hier in der Türkei, dass Deutschland nicht mehr mit uns ist, aber auf der anderen Seite wird die Türkei wohl mit Deutschland auch auf bilateraler Basis natürlich ihre Beziehungen fortsetzen. Ganz egal wer in Deutschland an die Macht kommt, die Beziehungen der Türkei werden weiterhin unterhalten und der Türkei weiterhin ein Angebot gemacht, dass die Türkei in Europa verankert bleibt.

    Heuer: Frage an den Politikwissenschaftler, Herr Bagci. Sie haben gerade noch mal betont, dass Sie einer sind und nicht die türkische Regierung vertreten. Was würden Sie denn der türkischen Regierung empfehlen? Sollte die sich jetzt auf eine privilegierte Partnerschaft innerlich einstellen und versuchen, diese Partnerschaft zu erreichen?

    Bagci: Frau Heuer, gestern hatte ich darüber kommentiert. In der Türkei hat die Diskussion bereits begonnen. In der Türkei haben wir jetzt zwei Lager, wenn Sie so wollen. Einer sagt Vollmitgliedschaft ist gut für die Türkei, aber auf der anderen Seite sagt das andere Lager, das ist eine Open-End-Diskussion. Wir wissen nicht, wie lange es dauert. Für die Türkei ist es einfacher, eine privilegierte Partnerschaft zu haben, weil man dadurch gewisse Problematiken wie die Armenien-Frage oder Kurden-Frage und so weiter besser behandeln könne. Viele politische Kriterien, die der Türkei gewisse Schwierigkeiten mit der Europäischen Union bringen, würden dann natürlich draußen bleiben. Deswegen diese Diskussion, dass man sich langsam zu dieser Frage verinnerlicht, glaube ich wird eine dominierende Debatte sein in den kommenden Monaten. Die Regierung macht aber zurzeit keinen Schritt zurück von ihrer Position, dass die Türkei wohl die Vollmitgliedschaft weiterhin sucht.

    Heuer: Kurz, ganz kurz zum Schluss, Herr Bagci. Glauben Sie, dieser Rückzug wird noch kommen?

    Bagci: Nicht von dieser Regierung. Diese Regierung hat noch zwei Jahre und ich gehe nicht davon aus, dass sie in den nächsten zwei Jahren ihre Position ändern wird, weil es politisch für sie dann nicht zu vertreten wäre.

    Heuer: Hüseyin Bagci war das, Politikwissenschaftler an der Universität in Ankara. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Bagci.