Archiv

Türkei
Hauptsache weg

In Zeiten von AKP-Regierung und Gezi-Protesten wollen zunehmend junge türkische Akademiker ihr Land verlassen. Die Sehnsucht nach mehr Freiheit und tolerantem Miteinander treibt sie nach Australien oder in die USA.

Von Luise Sammann |
    Die berühmte Oper von Sidney, ein Korallenriff, ein endloser Strand bei Sonnenuntergang. Bulut Karatürk klickt sich an seinem Laptop durch ein Album mit Australienbildern. Das Land seiner Träume gilt als Surferparadies - doch Bulut interessiert sich nicht für Sonne und Meer. Beides könnte er schließlich auch in seiner Heimat haben. "Was ich will, ist ein friedlicheres und vor allem ein freieres Leben. Ich will etwas Besseres als das hier."
    Bulut arbeitet in Istanbul als Vertriebsmanager bei einem internationalen Mobilfunkunternehmen. Für türkische Verhältnisse verdient er überdurchschnittlich gut, bald steht eine Beförderung an. Trotzdem ist er bereit, in Australien ganz von vorne anzufangen, vielleicht auch von ganz unten.
    "Jeden Tag wird die Politik restriktiver und religiöser"
    "Ins Ausland zu gehen hat natürlich Vor- und Nachteile, man muss das genau abwägen. Aber ist die Einschränkung unserer Freiheit hier in der Türkei ist ein großes Problem. Jeden Tag wird die Politik restriktiver und religiöser und wir können schon jetzt absehen, was das für die Zukunft bedeuten wird. So ein Leben wollen wir nicht!"
    Buluts Ziel hieß eigentlich Amerika, doch bei der Greencard-Verlosung ging er leer aus. Die australische Regierung aber wirbt gut ausgebildete Einwanderer wie ihn gezielt an, die Chancen, dass es diesmal klappt, stehen gut. Und für ihn selbst gilt inzwischen ohnehin: Hauptsache weg!
    Mit seinen Plänen ist der 32-Jährige längst kein Einzelfall mehr. Fast könnte man von einer neuen Auswanderungswelle in der Türkei sprechen. Doch diesmal sind es nicht arbeitslose Anatolier, sondern gut ausgebildete Großstädter wie Bulut, die ihr Land verlassen.
    "Von 10 Leuten, die bei uns anrufen, sind mindestens sechs oder sieben Akademiker mit einem festen Job," bestätigt Ebru Yildirm. Ihre Agentur am Rande von Istanbul hat sich darauf spezialisiert, Türken wie Bulut nach Australien zu vermitteln. Hilfe bei der Beschaffung der richtigen Papiere, Sprachtests und Jobvermittlung. Yildirims Geschäft brummt – und das vor allem seit den Massendemonstrationen vom Sommer, die die türkische Regierung brutal niederschlagen ließ.
    "Die Zahl der Menschen, die Informationen suchen, um dieses Land zu verlassen, steigt wie verrückt. Im Vergleich zu 2009 haben wir einen Anstieg um 400 Prozent! Einige, die bei uns anrufen, sagen gleich vorneweg: Nach Gezi haben wir uns entschieden. Vorher haben wir höchstens mal überlegt, aber jetzt wollen wir, dass es schnell geht."
    Oper in Sydney mit Hafenbrücke
    Traumziel Sydney (dradio.de)
    Viele tun es für ihre Kinder
    Ebru Yildirim zieht einen Stapel aktueller Fälle aus einer Schublade. Über die Hälfte aller Türken, die von einem Leben im Ausland träumen, haben Kinder, weiß sie. "Meist sind die Kinder im Kindergartenalter oder noch kleiner, zwei oder drei Jahre alt. Und ihre Eltern wollen ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen, als sie sie hier zurzeit sehen."
    Auch Australien-Bewerber Bulut hat einen einjährigen Sohn. Dessen Geburt war der ausschlaggebende Punkt, bestätigt Ehefrau Burcu. "Natürlich macht mir die Vorstellung auch Angst, noch einmal von ganz vorn anfangen zu müssen. Aber dann ist da immer der Gedanke an unseren Sohn. Australien ist ein Sozialstaat! Hier aber ist selbst die Schulbildung ein Problem. Immer mehr Gymnasien werden in religiöse Schulen umgewandelt und es ist schwer eine gute Alternative zu finden. Privatschulen sind unbezahlbar."
    Die Bewerbung von Bulut und Burcu Karatürk liegt inzwischen bei den australischen Behörden. Wenn alles gut geht, ziehen sie 2014 ans andere Ende der Welt - weit weg von ihren Familien, ihren Freunden und ihrem Lieblingsfußballverein. Aber auch weit weg von Ministerpräsident Erdogan.
    "Diese Regierung hat immer gesagt, sie würde Politik für alle machen. Aber die Realität zeigt, dass das nicht stimmt. Die Möglichkeiten hier in Frieden zu leben, obwohl man die Ansichten der Regierung nicht teilt, werden immer kleiner. Wir haben uns entschieden, für uns und unseren Sohn nach einer besseren Zukunft zu suchen. Sogar, wenn das bedeutet, dass ich nicht mehr zu den Spielen von Fenerbahce Istanbul gehen kann."