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Türkei nach Einmarsch in Nordsyrien
Erdogans hausgemachte Probleme

Gut zwei Monate ist es her, dass die Türkei ihre Truppen über die Grenze nach Nordsyrien geschickt hat. International ist das Land isoliert und kann nicht auf westliche Unterstützung hoffen. Und auch innenpolitisch hat der Feldzug keinen dauerhaften politischen Gewinn für Präsident Erdogan gebracht.

Von Thomas Seibert | 13.12.2019
Passanten gehen an Wahlplakate von Recep Tayyip Erdogan und Muharrem Ince in Istanbul im Juni 2018 vorbei. |
Wahlplakat von Recep Tayyip Erdogan in Istanbul im Juni 2018 (picture alliance / Emrah Gurel)
Die Hauptnachrichtensendung des regierungsnahen türkischen Fernsehkanals ATV am Abend des 9. Oktober 2019. Es ist soweit, sagt der Sprecher: Die türkische Armee ist in den Norden Syriens einmarschiert. Monatelang hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der Invasion gedroht, die offiziell zwei Ziele hat: Zum einen soll der sogenannte Terrorkorridor auf der syrischen Seite der Grenze zerstört werden. Mit Terrorkorridor ist das Herrschaftsgebiet der syrischen Kurdenmiliz YPG gemeint. Die YPG ist ein Ableger der Terrorgruppe PKK und wird von der Türkei deshalb als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit betrachtet. Ankara will die YPG 30 Kilometer weit von der Grenze wegdrängen. Zum zweiten will Erdogan nach Vertreibung der YPG in Nord-Syrien eine so genannte Schutzzone einrichten, um dort zwei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln.
In den Haushaltsberatungen des türkischen Parlamentes zählte Verteidigungsminister Hulusi Akar kürzlich die Erfolge des Einmarsches auf. Die türkische Armee und verbündete Milizen haben demnach in Syrien eine Fläche von mehr als 4.000 Quadratkilometermetern sowie 600 Städte und Ortschaften unter ihre Kontrolle gebracht. Die Türkei werde nicht ruhen, bis ihre Feinde besiegt seien, sagte der Minister.
Ein Portraitfoto von Recep Tayyip Erdogan
Notarzt Michael Wilk - "Türkische Invasion hat Kaskade menschlicher Tragödie ausgelöst"
Als Muster ohne Wert und propagandistisches Mittel hat der deutsche Notfallmediziner Michael Wilk die sogenannte Waffenruhe im nordsyrischen Kriegsgebiet bezeichnet. "Uns wurden von Anfang an in der Waffenruhe Schwerstverletzte, Sterbende und Misshandelte in die Notaufnahme gebracht", sagte Wilk im Dlf.
"Unser Kampf wird weitergehen, bis der letzte Terrorist neutralisiert worden ist, Tag und Nacht, Sommer wie Winter, auf Berg und Tal, im Inland wie im Ausland."
Laut Umfragen klare Mehrheit für Einmarsch
In der türkischen Öffentlichkeit wird die Militäraktion begrüßt. Vier von fünf Türken stehen laut Umfragen hinter der Entscheidung zum Einmarsch. Viele stimmen dem Argument der Regierung zu, dass die Türkei etwas gegen die Bedrohung durch die PKK oder ihre Verbündeten in Syrien tun muss.
Der Rückhalt für die Intervention speist sich auch aus dem hohen Ansehen der türkischen Armee bei den Bürgern. Die Intervention mit der offiziellen Bezeichnung "Quelle des Friedens" ist bereits die dritte Militäraktion der Türkei auf syrischem Boden. Im Jahr 2016 nahmen türkische Truppen das Gebiet um die Stadt Dscharablus ein, und im vergangenen Jahr eroberten sie die Gegend um die Stadt Afrin von den Kurden – auch damals unter dem Beifall vieler Türken über die meisten Parteigrenzen hinweg.
Diesmal ist es ähnlich. Wenn die türkische Armee im Krieg sei, stehe die Bevölkerung erst einmal hinter den Soldaten, sagt der türkische Journalist Yildiray Ogur von der Zeitung Karar.
"In Kriegszeiten sammelt sich die Gesellschaft um die Armee. Alle anderen Probleme rücken in den Hintergrund. Alles wird zum Problem zweiten Ranges abgestuft."
Zudem bedient die Regierung mit dem Einmarsch das wichtige innenpolitische Thema der Flüchtlingsproblematik. Nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011 zeigte sich die türkische Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen aus dem Nachbarland zunächst lange Zeit sehr hilfsbereit. In jüngster Zeit aber ist die Stimmung umgeschlagen, vor allem, weil sich viele Türken wegen der schlechten Wirtschaftslage um die eigene Zukunft sorgen. Die 3,6 Millionen Syrer in der Türkei gelten bei vielen Türken als Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
Von der Türkei unterstützte syrische Milizionäre beobachten Rauchsäulen von Kämpfen in der Nähe der Stadt Ras al-Ein
Oktober 2018: Von der Türkei unterstützte syrische Milizionäre beobachten Rauchsäulen von Kämpfen in der Nähe der Stadt Ras al-Ein (AFP/Nazeer Al-khatib)
Erdogans Regierung will auf den wachsenden Unmut reagieren. In der Metropole Istanbul, wo allein schätzungsweise 800.000 Syrer leben, haben die Behörden damit begonnen, die Flüchtlinge in andere türkische Provinzen zu bringen. Im Zusammenhang mit dem Syrien-Einmarsch verspricht Erdogan, viele der Flüchtlinge nach einer erfolgreichen Militäraktion in das eroberte Gebiet in Nord-Syrien zurückzuschicken. Bei diesem Versprechen spielt es keine Rolle, dass der Plan kaum umzusetzen ist. Die allermeisten Syrer wollen in der Türkei bleiben und lehnen eine freiwillige Rückkehr ab. Eine Massenabschiebung gegen den Willen der Betroffenen schließt Ankara aber aus. Journalist Ogur.
"Es ist natürlich nicht einfach, die Syrer einfach wieder nach Hause zu schicken. Aber die Flüchtlinge sind zu einem wichtigen politischen Thema in der türkischen Politik geworden. In allen Umfragen stehen die Syrer auf der Liste der wichtigsten Probleme neben der Wirtschaftslage auf Platz Eins. Es ist einfach, die schlechte Situation der Wirtschaft den Syrern anzuhängen. Es wird Stimmung gemacht nach dem Motto: Für die Syrer wird Geld ausgegeben, und für uns bleibt nichts mehr übrig. Deshalb will die Regierung mit dem Syrien-Einmarsch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie sagt: Wir kämpfen gegen die PKK und schaffen gleichzeitig einen Raum, in den wir die Syrer zurückschicken können."
Auch wegen historischer Faktoren findet der Syrien-Einsatz der türkischen Armee in der Öffentlichkeit viel Unterstützung. Die türkische Republik ist Nachfolgerin des Osmanischen Reiches, das Regionen wie das heutige Syrien über Jahrhunderte beherrschte. Der Feldzug im Nachbarland, bei dem sich die Türkei als regionale Ordnungsmacht versteht, lindert also auch imperiale Phantomschmerzen. Das fördert die Akzeptanz des Einmarsches.
Das gilt nicht nur für die Öffentlichkeit. Im Parlament von Ankara stimmten die meisten Parteien dem Einmarsch zu. Der Konsens reichte von Erdogans Regierungspartei AKP und deren nationalistischen Partnerin MHP bis zur linksnationalen Oppositionspartei CHP und deren Bündnispartnerin, die bürgerlich-konservative Iyi Parti der Politikerin Meral Aksener. Nur die pro-kurdische Partei HDP lehnte die Intervention als Krieg gegen die Kurden ab.
Die Zustimmung von CHP und Iyi Parti zum Einmarsch sorgt für Ärger bei der HDP. Bei den Kommunalwahlen in diesem Frühjahr war die Kurdenpartei ein informelles Bündnis mit CHP und Iyi Parti eingegangen und hatte damit zu den schweren Niederlagen von Erdogans AKP in Istanbul und anderen großen Städten entscheidend beigetragen. Bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul zum Beispiel unterstützten kurdische Wähler den CHP-Kandidaten und späteren Wahlsieger Ekrem Imamoglu.
"So macht man sich Feinde"
Dieses Bündnis der Erdogan-Gegner in der Türkei ist durch den Syrien-Einmarsch schwer erschüttert worden. Imamoglu verärgerte die Kurden mit der Bemerkung, er bete für die türkischen Soldaten in Syrien. Diese Spannungen nützen der Regierung Erdogan, die von einer gespaltenen Opposition kaum etwas zu befürchten hat.
Für die HDP hat der Syrien-Einmarsch noch schwerwiegendere Folgen. Die Regierung in Ankara hat in zwei Dutzend HDP-regierten Städten im Kurdengebiet die gewählten Bürgermeister absetzen und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzen lassen. In einigen Städten – wie in Diyarbakir, der größten Stadt der türkischen Kurdenregion – wurden die HDP-Politiker nicht nur aus den Rathäusern vertrieben, sondern auch verhaftet. Weil die türkische und die internationale Aufmerksamkeit auf den Einmarsch in Syrien gerichtet war, konnten die Behörden diese Säuberungen fast unbemerkt vollziehen. Hülya Uyanik, die HDP-Co-Vorsitzende in Diyarbakir, fühlt sich von den Partnern ihrer Partei in den Reihen der türkischen Opposition verraten.
"Als die Türkei zum Krieg übergegangen ist, wie das Diktaturen immer wieder machen, hat sich die Opposition wieder hinter der Regierung aufgereiht. Die vermeintlich oppositionellen Kreise sind sofort auf Nationalismus und Militarismus zurückgefallen und haben sich hinter die Regierung gestellt. Und seither werden unserer Bürgermeister verhaftet und unsere Kommunen reihenweise unterer Zwangsverwaltung gestellt, und die öffentliche Meinung der Türkei begehrt nicht dagegen auf."
Hat es Erdogan also geschafft, mit dem Syrien-Feldzug die Bevölkerung auf seinen Kurs einzuschwören und die Opposition zu schwächen?
Ganz so einfach ist es nicht. Die CHP etwa will ihre Zustimmung zu dem Einmarsch nicht als Unterstützung für die Syrien-Politik der Regierung im Allgemeinen verstanden wissen. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu kritisiert seit langem, Erdogan habe die Türkei mit seiner aktiven Unterstützung für syrische Rebellengruppen zur Kriegspartei in Syrien gemacht und dem Land damit schweren Schaden zugefügt.
"Sie haben Waffen nach Syrien geliefert, sie haben in aller Welt Terroristen gesammelt und über die Türkei nach Syrien geschickt, sie haben verwundete Terroristen in die Türkei gebracht, hier heimlich behandelt und wieder nach Syrien geschickt. Gewinnt man so Freunde? Nein, so macht man sich Feinde. Stimmt das etwa nicht, was wir sagen? Es stimmt."
Erdogan weist die Vorwürfe zurück. In einem Fernsehinterview zwei Wochen nach Beginn des Einmarsches im Oktober, versuchte er, seinen Gegenspieler Kilicdaroglu als vaterlandslosen Gesellen hinzustellen, der die Regierung kritisiere, während er selbst versuche, in Gesprächen mit der Weltmacht Russland das Beste für das Land zu erreichen. Gleichzeitig wies Erdogan darauf hin, dass die türkischen Wähler hinter dem Einmarsch stünden.
"Ich habe meinen Verteidigungsminister zu den Parteien geschickt, um sie zu informieren. Er ist zum Chef der Haupt-Oppositionspartei gegangen, zu Frau Aksener und auch zur MHP – so sensibel gehen wir mit dem Thema um. Und während diese Unterrichtungen laufen, und wir in Russland über dieses Thema sprechen, und darüber, wie wir den Terrorismus am besten bekämpfen, stellt der sich hin und greift uns an. Wir haben zwar selbst keine Umfragen machen lassen, aber nach unseren Informationen liegt die Unterstützung bei 75 bis 80 Prozent."
Türkische Flagge und Wahlplakat für Erdogan hängen in Ankara.
Erdogan-Werbung in Ankara (AFP / Adem Altan)
Heute, rund zwei Monate nach Beginn der Intervention, zeigt sich in den Umfragen jedoch, dass Erdogans Partei AKP die große Unterstützung der Bevölkerung für die Militäraktion nicht in einen neuen Schub für sich selbst ummünzen konnte. Laut einer Befragung des Instituts Piar vom November liegt die AKP bei 32 Prozent der Stimmen. Von Rückenwind für die Regierung wegen der Syrien-Aktion kann also keine Rede sein.
Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass Erdogans Regierung ihre selbstgesteckten Kriegsziele in Syrien nicht erreichen konnte. Bisher hat die türkische Armee nur etwa ein Viertel der ursprünglich angestrebten Fläche in Syrien erobert. Auch von der versprochenen Umsiedlung syrischer Flüchtlingen aus der Türkei in die so genannte "Schutzzone" in Syrien ist nichts zu sehen. In Vereinbarungen mit Russland und den USA verpflichtete sich Erdogan außerdem, auf eine weitere Ausdehnung des türkischen Besatzungsgebietes zu verzichten.
Die Regierung habe ihre Ziele in Syrien klar verfehlt, sagt der Istanbuler Journalist Tugrul Eryilmaz. Statt eines klaren Sieges, den die Führung versprochen habe, gebe es eine sehr unübersichtliche Situation, bei dem keiner wisse, ob es wirklich Erfolge gebe.
"Ich habe studiert, ich bin 70 Jahre alt, ich kenne die Türkei – und nicht einmal ich weiß, was denn jetzt aus dieser Operation Quelle des Friedens geworden ist. Wann wurde der Einmarsch gestoppt? Ist er überhaupt beendet? Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Als türkischer Staatsbürger weiß ich überhaupt nicht: Soll ich jetzt den USA applaudieren, oder Russland, oder der EU?"
Erdogans Kalkül wird möglicherweise nicht aufgehen
Zu allem Überfluss wurde auch noch ein Brief von US-Präsident Trump an Erdogan bekannt, in dem sich Trump mit einer Wortwahl an den türkischen Staatschef wandte, die in der Türkei als schwere Beleidigung aufgefasst wurde. Unter anderem forderte Trump mit Blick auf den türkischen Syrien-Einmarsch, Erdogan solle – so wörtlich – kein Idiot sein. Das hat dem von der Regierung sorgsam gepflegten Ruf von Erdogan als starker Mann geschadet, sagt Yildiray Ogur.
"Der Präsident, der sonst immer so selbstbewusst auftritt, ist zum ersten Mal von einem amerikanischen Präsidenten etwas gedemütigt worden, und er konnte auch keine rechte Antwort darauf geben. Deshalb hat diese Episode sein Image als charismatische Führungspersönlichkeit angekratzt. Auch hat sich die militaristische Stimmung, diese Begeisterung zu Beginn des Einsatzes, als von Eroberungen die Rede war, inzwischen wieder gelegt. Jetzt ist die Stimmung so, als hätte es den Einsatz überhaupt nicht gegeben. Niemand spricht mehr darüber."
Auch Erdogans Kalkül, einen Keil in die Reihen der Opposition zu treiben, wird möglicherweise nicht aufgehen. Trotz der Verärgerung der Kurden über das Verhalten der anderen Parteien bleibe die Ablösung der Erdogan-Regierung für die Wähler der Opposition das Hauptziel, sagt Ogur.
"Schlussendlich will die Opposition die Regierung ablösen. Auch für die Kurden ist das nach wie vor die wichtigste Motivation. Wenn es jetzt Wahlen gäbe, würde dieses Ziel den Streit um den Syrien-Einmarsch wieder verdrängen. Der Machtwechsel bleibt das Hauptziel der Opposition. Was Syrien und die Haltung der CHP angeht – all das wird am Wahltag vergessen sein."
Muslim people across Turkey celebrated Eid al-Adha, during which meat and food supplies were given to Syrian refugees living at rundown houses in Istanbul. | Verwendung weltweit
Syrische Flüchtlinge in Istanbul (dpa / citypress 24)
Selbst wenn Erdogan durch den Syrien-Einsatz seine nationalistische Wählerbasis konsolidieren konnte, sind ihm möglicherweise an anderer Stelle Anhänger verloren gegangen. Seine Partei AKP wurde in den vergangenen Jahren auch von vielen Kurden gewählt – doch diese Unterstützung wackelt nun, unter anderem, weil es immer wieder Berichte über Vertreibungen und Enteignungen von Kurden durch pro-türkische Milizionäre in Syrien gibt.
Die Kurdenpartei HDP stellt den Syrien-Einmarsch als anti-kurdische Aktion dar und bringt ihn mit dem Druck auf die kurdischen Bürgermeister in der Türkei in Zusammenhang. Die Ko-Vorsitzende Pervin Buldan gab vor der Parlamentsfraktion der HDP die politische Angriffslinie gegen die Regierung vor.
"Ihr sagt: Wir haben kein Problem mit den Kurden, die Kurden sind nicht unsere Feinde, wir führen keinen Krieg gegen die Kurden. Aber die Kurden sind der Grund, warum ihr in den Norden Syriens eingedrungen seid. Es sind Kurden, deren Häuser ihr zerstört, es sind Kurden, die ihr vertreiben wollt, es sind Kurden, deren Häuser und Felder ihr von euren Banden erobern lasst, es sind Kurden, die ihr bombardiert. Es sind Kurden, deren Bürgermeisterämter ihr den illegalen Statthaltern übergeben habt, es sind Kurden, deren Bürgermeister ihr festnehmen lasst – aber dann sagt ihr ohne rot zu werden: Wir haben kein Problem mit den Kurden."
Normalbürger haben mit großen Problemen zu kämpfen
Zudem schiebt sich mehr und mehr die schlechte Wirtschaftslage wieder in den Vordergrund. Nicht der Feldzug in Syrien bestimmt die Unterhaltungen an den Küchentischen, sondern die Frage, wie die nächste Rechnung bezahlt werden soll. Zwar hat sich die türkische Wirtschaft nach einem steilen Absturz im vergangenen Jahr wieder etwas gefangen und die Rezession hinter sich gelassen. Die Regierung verspricht für das kommende Jahr ein Wachstum von fünf Prozent.
Doch vorerst haben viele Normalbürger mit großen Problemen zu kämpfen. Die Preise für Strom und Gas sind mehrmals kräftig angehoben worden, die Arbeitslosigkeit liegt bei 14 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist sogar doppelt so hoch. Mehrere kollektive Selbstmorde aus wirtschaftlicher Not haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Diese Realitäten haben den von der Regierung erhofften innenpolitischen Effekt des Syrien-Einmarsches verpuffen lassen, sagt Journalist Yildiray Ogur.
"Zum ersten Mal seit dem Regierungsantritt der AKP ist die Lage so schlecht – und es gibt auch keine Aussicht auf Besserung. Die Regierung kann der Öffentlichkeit kein Vertrauen in ihre Wirtschaftspolitik mehr vermitteln, und das macht die Sache noch schwieriger. Wirtschaftskrisen gab es auch schon in der Vergangenheit, doch damals gab es aus Sicht der Leute fähige und erfahrene Wirtschaftspolitiker. Die derzeitige Mannschaft dagegen flößt den Menschen kein Vertrauen ein. Und das fördert die Verunsicherung der Leute. Und jetzt beginnt auch noch der Winter, das heißt, dass zum Beispiel die Gas-Rechnungen steigen. Der Ärger der Menschen über die Regierung wird wachsen."
Erdogan tut sein Bestes, um das Thema Syrien auf der Tagesordnung zu halten. Der Präsident droht inzwischen mit einer weiteren Intervention im Nachbarland, auch wenn die Türkei mit einer solchen Militäraktion großen Streit mit Russland und den USA riskieren würde. Beim NATO-Gipfel in London in der vergangenen Woche war die Forderung der Türkei nach Rückendeckung der Allianz für den Syrien-Einmarsch ein Hauptstreitpunkt. Erdogan stritt sich darüber in aller Öffentlichkeit mit dem französischen Präsidenten Macron.
Trotzdem konnte er sich bei dem Treffen in London nicht durchsetzen. Die NATO lehnte die türkische Forderung nach Unterstützung für den Syrien-Feldzug ab. Leider wollten einige Verbündete nach wie vor mit der Kurdenmiliz YPG zusammenarbeiten, sagte Erdogan nach dem NATO-Gipfel. An einen Rückzug seiner Truppen aus Syrien denkt der Präsident deshalb zwar nicht. Doch von den angestrebten Zielen ihrer Syrien-Politik ist seine Regierung weit entfernt.