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Türkei
Opposition schließt sich zusammen

In sechs Wochen finden in der Türkei die Parlamentswahlen statt. An einen Regierungswechsel glaubt die Opposition nicht wirklich - doch sie formiert sich: Neben der HDP mit ihrer Leitfigur Selahattin Demirtas schafft es auch die CHP, verschiedenste Bevölkerungsgruppen hinter sich zu vereinen.

Von Luise Samman | 21.04.2015
    Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), spricht vor der Präsidentenwahl auf einer Kundgebung in Istanbul. SEDAT SUNA
    Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), gilt als einzig ernst zu nehmender Gegner Erdogans. (picture alliance / dpa / EPA Sedat Suna)
    Der Redner auf einer Bühne im asiatischen Teil Istanbuls spricht nicht, er schreit. Und er wird pathetisch, so, wie es die Menschen in der Türkei von ihren Politikern erwarten. Eine historische Mission wolle man anpacken, ruft er wieder und wieder in sein Mikrofon.
    Selahattin Demirtas ist der bekannteste kurdische Politiker, den die Türkei momentan kennt. Er ist es, der den Kurden wieder eine Stimme gegeben hat. Doch wenn er in diesen Tagen auftritt, dann wird er nicht müde, genau das zur Nebensächlichkeit zu erklären. Denn seiner Partei, der HDP, so ruft er auch heute wieder in die Menge, gehe es eben nicht nur um die Rechte der Kurden, sondern um die Rechte aller. Tatsächlich sind unter denen, die ihm an diesem sonnigen Frühlingstag zujubeln genauso viele kurdische wie türkische Fans. Ein Phänomen in der Türkei. Und damit nicht genug:
    "Besonders wir Frauen müssen die HDP unterstützen, weil wir in einem Land leben, in dem wir immer noch um unsere grundlegendsten Rechte kämpfen," erklärt eine junge Frau. Und ein Mann meint:
    "Ich bin hier, weil ich Alevit bin und weil ich Freiheit für uns Aleviten will!"
    Kurden und Türken, Sunniten und Aleviten, Männer und Frauen... Gruppen, die sich in der Türkei seit Jahren eher bekämpfen als unterstützen, jubeln plötzlich ein und demselben Politiker zu. Bei der Wahlkampfauftaktveranstaltung der noch jungen HDP scheint ein frischer Wind durch die Türkei zu wehen. Vor allem für die regierende AKP soll daraus möglichst bald ein Gegenwind werden.
    "Wir verstehen uns als gemeinsame Hoffnung der unterschiedlichsten Gruppen," fasst Abdullah Demirbas, führender HDP-Politiker, nicht ohne Stolz zusammen.
    "In der türkischen Gesellschaft gibt es neben den Kurden noch so viele andere Opfer des Systems. Nehmen sie die Homosexuellen, die Christen und die Juden, die Frauen, die jungen Leute... Wenn wir alle uns an dem Punkt treffen, an dem es um unsere Freiheit geht, dann wird in diesem Land eine echte Demokratie entstehen."
    Was noch fehlt, ist ein Identifikationsmerkmal
    Gemeinsam sind wir stark - es ist nicht allein die HDP, die auf diese Strategie setzt, um nach 13 Jahren AKP-Regierung einen Wandel der Türkei herbeizuführen. Auch die größte Oppositionspartei im Land, die CHP, gibt sich seit einiger Zeit betont pluralistisch. In einem Istanbuler Wahlkreis schickt sie einen christlich-armenischen Kandidaten ins Rennen, in einem anderen einen Angehörigen der Roma-Minderheit. In einem CHP-Werbespot, der in Internet und Fernsehen kursiert, tauchen zudem auffällig viele Frauen mit Kopftuch auf - lange Zeit ein Tabu für die streng säkulare Partei.
    "Die Idee, dass man mehr erreichen kann, wenn man sich zusammenschließt, ist seit den Gezi-Protesten immer weiter gewachsen," beobachtet der Politikwissenschaftler Yüksel Taskin von der Istanbuler Marmara-Universität. Und straft damit alle die Lügen, die den Aufstand vom Sommer 2013 schon als gescheitert oder zumindest wirkungslos abgetan hatten.
    "Aber es ist ein langer Weg, bis aus solchen sozialen Bewegungen auch wirklich politische Kräfte entstehen. Eine ernsthafte Alternative zu kreieren ist vor allem nicht einfach, weil die türkische Gesellschaft seit langer Zeit extrem gespalten ist."
    Genau diese Polarisierung lässt die AKP seit Jahren Wahlen gewinnen. Während sich die eine Hälfte des Landes in Kleinstgruppen bekriegt, hat vor allem Erdogan es verstanden, die andere Hälfte hinter sich zu vereinen. Mit seinen religiös-konservativen Reden hat er ihnen ein gemeinsames Identifikationsmerkmal gegeben, das seinen Gegnern auch in diesen Tagen noch fehlt. Ein Blick ins Internet genügt, um das zu sehen. "Für die HDP zu stimmen ist genauso, wie die Terroristen von der PKK zu unterstützen", heißt es da auf einer Facebook-Seite. Als "Vaterlandsverräter" beschimpft ein anderer die kemalistische CHP dafür, dass sie einen christlich-armenischen Kandidaten ins Rennen schickt. Doch trotz aller Grabenkämpfe: Der Anfang ist gemacht. Der Politikwissenschaftler Taskin Yüksel:
    "In Ägypten, im Iran oder in Bahrain werden sie keine Gay-Parade erleben. In der Türkei dagegen sehr wohl. Diese gesellschaftliche Öffnung einerseits und der Zusammenschluss einzelner Gruppen andererseits mögen bislang nur auf der Mikroebene stattfinden. Trotzdem sollte niemand sie unterschätzen."