Capellan: Die Nationalisten sagen dagegen: Das war ein Kniefall vor Europa. War es das?
Alkan: Natürlich haben wir in der Türkei sowohl Befürworter als auch Gegner der Europäischen Union. Die Nationalisten sind gerade jetzt vor den Wahlen Gegner der Europäischen Union, obwohl es auch Nationalisten waren, die damals das nationale Programm in der Regierung mit unterschrieben hatten. Sie sind immer noch in der Regierung. Ich werte die Haltung der Nationalisten eher als eine Wahlpropaganda, denn am 3. November werden wir in der Türkei Wahlen haben, und die Nationalisten haben sehr viele Stimmen verloren. Denn als sie 1999 an die Macht kamen, haben sie gesagt: Am 19. April gewinnen wir die Wahlen, am 19. Mai werden wir Herrn Öcalan hängen. Ich meine, das sind alles Versprechungen, die sie nicht haben halten können, so dass sie sich jetzt gegen die Europäische Union stellen.
Capellan: Hat denn die Europäische Union, hat es Europa in der Hand, welchen Weg die Türkei am 3. November gehen wird?
Alkan: Wir haben in der Türkei zwei Strömungen: Europagegner und Europafreunde. Es wird sich zeigen, inwieweit die Europabefürworter eine Partei bilden können, oder ob sie eine Koalition bilden können, denn so stark scheinen die Europagegner nicht zu sein. Es sind die Nationalisten und die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung. Es wird sich zeigen, inwieweit diese beiden Parteien stärkere Kräfte an sich binden werden können.
Capellan: Und wie sollen die Europäer jetzt reagieren? Müssen jetzt Beitrittsverhandlungen umgehend angeboten werden?
Alkan: Der wichtigste Termin ist zunächst der 16. Oktober, weil am 16. Oktober der Fortschrittsbericht der Europäischen Union veröffentlicht wird, und in diesem Fortschrittsbericht sollte eigentlich die Europäische Union positive Worte für die Türkei benutzen. In den letzten Fortschrittsberichten war es einfach so, dass die Türkei sehr oft kritisiert wurde. Jetzt sollte einmal gesagt werden: Gut, es sind zwar noch Mängel da, aber es sind auch sehr viele positive Reformschritte in Richtung Europäische Union getan werden. Man sollte auch versuchen zu loben, nicht nur kritisieren.
Capellan: Wie konkret muss das denn sein? Wir haben im Dezember den EU-Gipfel. Dann soll darüber entschieden werden, ob es nun Beitrittsverhandlungen gibt oder nicht. Wie konkret muss Brüssel da werden?
Alkan: Es ist einfach für die Türkei wichtig, dass sie jetzt ein Datum bekommt, inwieweit die Beitrittsverhandlungen beginnen können, denn mehr kann die Türkei erst mal nicht tun. Die Türkei sollte die Todesstrafe abschaffen. Das war sehr wichtig, und das hat sie getan. Die Türkei sollte vor allen Dingen Presse- und Meinungsfreiheit stärker befürworten; das hat sie auch getan. Die Türkei hat eigentlich ihre Hausaufgaben getan. Weshalb die Europäische Union vielleicht jetzt noch ein bisschen zögert, ist die Umsetzung, aber da muss man der Türkei ein bisschen Zeit geben, denn die Reformen sind zunächst durchgeführt. Jetzt muss man sich mit der Umsetzung ein bisschen Zeit lassen, aber es ist wichtig, in diesem Jahr der Türkei noch ein Datum für die Beitrittsverhandlungen zu geben, denn ansonsten werden diese Europagegner an Kräften gewinnen. Jetzt wird schon gesagt: Nehmt das mit der Europäischen Union nicht so ernst, sie werden euch doch nicht aufnehmen. Und wenn die Europäische Union im Dezember kein Datum gibt, dann werden die Europagegner sagen: Schaut mal, wir haben Recht gehabt.
Capellan: Diese Bedenken sind ja sicherlich auch berechtigt. Vielleicht reden wir mal Tacheles. Reden wir über das, was ja auch viele Politiker in Deutschland nicht auszusprechen wagen. Da besteht die Angst vor einem Beitritt. Da wird gesagt: Da werden Millionen von Türken nach Mitteleuropa kommen, um hier nach Arbeit zu suchen. Da wird auch unter der Hand angeführt, dass sich die Kräfte in der Europäischen Union verschieben könnten, wenn eben dieses bevölkerungsreiche Land in Brüssel dabei wäre. Also wie ernst nehmen es Ihrer Ansicht nach die Europäer eigentlich mit einem Beitritt der Türkei?
Alkan: Natürlich nehmen sie es sehr ernst. Wenn die Türkei heute in die Europäische Union aufgenommen werden sollte, wäre sie hinter Deutschland die stärkste Macht im Europäischen Parlament. Wenn die Türkei in die Europäische Union aufgenommen werden sollte, würden Millionen von Türken versuchen, nach Mitteleuropa, nach Westeuropa, vor allen Dingen nach Frankreich, Deutschland, Holland zu gehen, um Arbeit zu suchen. Natürlich ist auch wichtig, dass man die Freizügigkeit für eine bestimmte Zeit, wie zum Beispiel für Polen, erst mal nicht benutzen lässt. Die Türkei wird, wenn sie in die Europäische Union aufgenommen wird, erst mal an die zehn Jahre die Freizügigkeit nicht benutzen können oder dürfen. Und in diesen zehn Jahren muss sich die Türkei so weit, so gut entwickeln, dass dann die türkischen Bürger nicht mehr in die Europäische Union gehen wollen, weil die Türkei einfach selbst ein entwickeltes Land ist.
Capellan: Also wenn man davon ausgeht, dass solche Probleme in den Griff zu bekommen sind, dann muss man vielleicht die Grundsatzfrage stellen, die zum Beispiel Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber immer wieder gestellt hat: Gehört die Türkei kulturell nach Europa? Er hat das bezweifelt.
Alkan: Ich meine, das sind Fragen, die man sich nicht heute stellen sollte, sondern die man sich 1959, 1963 hätte stellen müssen, denn damals wurde ja entschieden, ob die Türkei auch in den Club der Europäischen Union aufgenommen werden sollte. Ich zitiere nur Herrn Walter Hallstein, Kommissionspräsident 1963. Als das Ankara-Abkommen unterzeichnet wurde, hat Herr Hallstein gesagt: Die Türkei ist ein Teil von Europa. Damals wurde nicht ausgeschlossen, politisch, kulturell, wirtschaftlich, so dass man, glaube ich, auch diese Fragen heute nicht mehr stellen sollte. Ich meine, die Türkei gehört genau so gut zu Europa, zur Europäischen Union wie auch der gesamte Balkan. Es ist ja auch eine kulturelle Bereicherung. Man darf jetzt nicht sagen: Die Türkei ist ein Staat, der uns vielleicht nicht sehr nahe ist. Dann muss man sich fragen, wie nahe den Europäern die bulgarische, die rumänische Kultur ist. Das sind orthodoxe Staaten. Man sollte das Ganze als eine Bereicherung für die Europäische Union sehen, nicht als eine Grenze zwischen Europa und Asien.
Capellan: Ihre Prognose: Wie könnte das nun weitergehen? Was erwarten Sie? Wie wird Europa und die Kommission in Brüssel reagieren?
Alkan: Ich gehe davon aus, dass die Kommission positiv reagieren wird. Ich gehe davon aus, dass am 16. Oktober beim Fortschrittsbericht positive Worte fallen werden, denn die Türkei braucht wieder eine europäische Perspektive. Diese haben wir auch 1999 in Helsinki gebraucht. Es ist einfach wichtig, dem Land eine Perspektive zu zeigen, zu zeigen: Türkei, wir sind hinter euch. Wir sind mit euch. Und dann kann man darüber diskutieren, inwieweit man der Türkei einen Termin geben kann. Aber es ist erst mal wichtig, der Türkei zu sagen: Wir sind hinter euch. Man darf jetzt nicht glauben, die Türkei wird in zwei, drei Jahren Mitglied, so schnell wird es nicht gehen, aber einfach sagen: Ihr seid mitgliedsreif. Mehr wollen wir nicht in der Türkei.
Capellan: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio