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Türkei und EU
Schlechte Aussichten für die Visafreiheit

Am Mittwoch debattiert das Europaparlament über die von der Türkei geforderte Visafreiheit. Weil Präsident Erdogan offenbar nicht bereit ist, die Anti-Terrorgesetze seines Landes zu verändern, dürften nicht wenige Parlamentarier eine eher ablehnende Haltung einnehmen. Das wiederum stört die EU-Kommission - wohl aus Sorge vor einem Platzen des Flüchtlingsdeals.

Von Annette Riedel | 11.05.2016
    Es sieht nicht gut aus für den EU-Türkei-Deal. Das Gefühl konnte sich einstellen, wenn man in den vergangenen Tagen Richtung Ankara schaute und lauschte. Und es bestätigt sich, wenn man mit Europaparlamentariern spricht. Teil der Abmachungen - für die Türkei besonders wichtiger Teil - ist, dass türkische Bürger bereits ab Juli visumfrei in die EU einreisen dürfen. Dass die Türkei in den vergangenen knapp zwei Monaten erhebliche Anstrengungen unternommen hat, um alle dafür im März verabredeten 72 Bedingungen fristgerecht zu erfüllen, hatte ihr die EU-Kommission durchaus anerkennend in der vergangenen Woche beschieden. Aber fünf wichtige Punkte müssten noch umgesetzt werden. Daran will zwar auch die EU-Kommission nicht rütteln, hätte es aber gern gesehen, dass die legislative Arbeit für die Visa-Freiheit im EU-Parlament schon zuvor beginnt, um die Frist Juli einhalten zu können – aus Sorge, dass der Deal sonst platzen könnte. Mit diesem Ansinnen ist sie aber im EU-Parlament auf taube Ohren gestoßen. Ziemlich einhellig.
    "Erst muss alles auf den Tisch – entweder alles oder gar nichts", sagt die Fraktionsvorsitzende Gabi Zimmer der Linken. Ihr Kollege Manfred Weber von der CSU, der die Fraktion der Europäischen Volkspartei führt, sieht es nicht anders:
    "Es wird im Europäischen Parlament keine Beratung der Visa-Liberalisierung geben, bevor die Türkei nicht die 72 Kriterien umgesetzt hat. Dazu gehört auch die Überarbeitung des Terror-Paragraphens."
    Mag es bei anderen ausstehenden Punkten, wie etwa der Einführung biometrischer Pässe, vielleicht wirklich nur noch eine Frage der Zeit sein, wann die Türkei sie abgearbeitet hätte. Von der Veränderung der Anti-Terrorgesetze will Staatspräsident Erdogan, der sich gerade seines moderateren Premiers Davutoglu entledigt hat, nichts mehr wissen, wenngleich es Teil des EU-Türkei-Deals ist. Ein Punkt, der andererseits den Europaparlamentariern besonders wichtig ist. Denn:
    "Die Anti-Terror-Gesetze nutzt Erdogan hauptsächlich, um gegen Kritiker in den Medien vorzugehen", spricht der Vorsitzende der Liberalen, Guy Verhofstadt mutmaßlich den meisten seiner Kollegen aus der Seele. Und auch die Meinung der Vorsitzenden der grünen Fraktion im EU-Parlament, Rebekka Harms, trifft die Haltung der Mehrheit, wenn sie sich zwar unbedingt für ein gutes Verhältnis mit der Türkei ausspricht, aber hinzufügt:
    "Ich bin nicht davon überzeugt, dass es richtig ist, die Lösung der Flüchtlingskrise in der Türkei und mit der Türkei zu suchen."
    Dublin auf dem Prüfstand
    Teil des Bemühens der EU, eigene Anstrengungen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zu unternehmen, sind Umbauten im Asylsystem, etwa am Dublin-Regime, dass die Zuständigkeit für Asylverfahren festschreibt. Die Abgeordneten diskutieren am Mittwoch die Vorschläge, die die EU-Kommission in der vergangenen Woche dazu vorgelegt hat. Bei den EU-Kritikern der konservativen EKR-Fraktion betrachtet man die Pläne nicht grundsätzlich ablehnend, aber mit Skepsis, so wie der tschechische Abgeordnete Jan Zahradil.
    "Wir müssen das gegenwärtige System tatsächlich verändern, aber der Teufel steckt im Detail. Ich bin mir noch nicht sicher, ob nicht zwischen den Zeilen etwas steht, was missbraucht werden kann, um eine weitere Quote einzuführen. Wir zentraleuropäischen Länder sind entschieden gegen Umverteilungsmechanismen."
    So ein Umverteilungsmechanismus aber gehört zu den Vorschlägen der EU-Kommission für eine Dublin-Reform – jedenfalls im Falle, dass ein EU-Land erheblich mehr Asylbewerber im Land hat, gemessen an den Kriterien Wirtschaftskraft und an Bevölkerungsgröße, als ihm zugemutet werden kann. In dem Fall sollen unterdurchschnittlich belastete Länder dem betreffenden Land Flüchtlinge abnehmen. Wer das nicht will, soll sich pro Flüchtling, den aufzunehmen er ablehnt, mit 250.000 Euro gegenüber den aufnehmenden Ländern zumindest finanziell solidarisch zeigen. Der konservative tschechische Abgeordnete Zahradil ist nicht grundsätzlich gegen eine solche Idee.
    "Darüber kann man reden, aber wir müssen unbedingt den Eindruck vermeiden, dass wir da eine Art Menschenhandel betreiben."
    Sozialdemokratischen Abgeordneten im EU-Parlament gehen, wie auch Liberalen und Grünen, die Vorschläge der EU-Kommission zur Dublin-Reform insgesamt nicht weit genug in Richtung eines Systems der gemeinsamen europäischen Verantwortung für Asylbewerber, die in die EU kommen. Rebekka Harms:
    "Ich habe bei den Vorschlägen das dumpfe Gefühl, dass da wieder diese Abwälzung im Normalfall entlang der Außengrenzen gesucht wird und dass erst, wenn's nicht mehr funktioniert, die Verteilung passiert."