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Türkei und Nordsyrien
„Eine Katastrophe für Jesiden und Christen“

Die türkische Offensive in Syrien hat auch Auswirkungen auf die religiösen Minderheiten der Region. Sie fürchten vor allem die Verbündeten der Türkei, syrische Milizen. Experten warnen: Durch neue Fluchtbewegungen könnte es in Nordsyrien bald keine Jesiden und Christen mehr geben.

Von Christian Röther |
Vertriebene Syrer gehen über eine schlammige Hauptallee in einem Lager in der Nähe des Dorfes Kafr Lusin, in Idlibs nördlicher Landschaft, nahe der syrisch-türkischen Grenze.
Flüchtlinge in einem Lager in der Nähe der syrisch-türkischen Grenze (AFP / Aaref Watad)
Seit Jahren schon fliehen religiöse Minderheiten aus dem Nahen Osten. Eine Art Ausnahme waren bisher die kurdisch kontrollierten Gebiete im Norden Syriens. Dort konnten Jesiden oder Christen vergleichsweise unbehelligt leben – bis am 9. Oktober die türkische Armee ihre Offensive begann.
"Die Minderheiten haben Angst vor der türkischen Armee, vor allem die Christen. Bei den Christen handelt es sich zum Teil um Nachfahren der überlebenden Christen, die den Völkermord 1915 im Osmanischen Reich überlebt haben", sagt Kamal Sido.
Menschrechtler durch und durch: der kurdisch-syrische Deutsche Kamal Sido
Menschrechtler durch und durch: der kurdisch-syrische Deutsche Kamal Sido (Gesellschaft für bedrohte Völker)
Sido ist selbst in Nordsyrien aufgewachsen. Er ist sunnitischer Muslim und stammt aus einer kurdischen Familie. Sido arbeitet als Nahostreferent bei der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Türkei werde von syrischen Christen – und von Jesiden – auch deshalb als Bedrohung empfunden, sagt Sido, weil die Türkei mit islamistischen Milizen kooperiere:
"Diese Söldner, die die Türkei jetzt unterstützen - oder im Auftrag der Türkei diesen Krieg führen: Das sind radikale Islamisten, und in der Ideologie unterscheiden sie sich kaum vom Islamischen Staat."
"Es wird enthauptet, es wird gemordet"
Ähnlich äußerte sich in der Tagesschau die jesidische Menschenrechtlerin Düzen Tekkal:
"Das, was die Söldner Erdogans dort machen, sind eins zu eins IS-Methoden. Es wird enthauptet, es wird gemordet, es wird geschändet. Dörfer, die schon eingenommen worden sind, da wurden sofort auch Schleier-Gebote durchgesetzt."
Die jesidische Journalistin Düzen Tekkal
Die jesidische Journalistin Düzen Tekkal (Deutschlandradio Kultur / Jürgen Webermann)
Sido: "Die Minderheiten, sowohl die Christen als auch die Jesiden, wenn die vor die Alternative gestellt werden: türkische Armee, syrische Rebellen – sie würden sich für Assad entscheiden. Assad lässt die Menschen in Ruhe, wenn man sich politisch nicht betätigt."
Syriens Präsident Assad als kleineres Übel für religiöse Minderheiten – diese Einschätzung Kamal Sidos teilt Simon Jacob:
"Wir haben hier die Situation, dass viele Christen auch nach wie vor das Assad-Regime als Schutzmacht betrachten. Unabhängig davon, was das Assad-Regime im Hintergrund mit seinen Geheimdiensten und Foltergefängnissen der Bevölkerung angetan hat."
"Es trifft Christen, Jesiden und auch viele Muslime"
Simon Jacob ist Vorsitzender des Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland und außerdem regelmäßig als Journalist im Nahen Osten unterwegs:
"Wenn man die Wahl hat zwischen zwei Übeln, dann wird man eher das Übel nehmen, welches einem noch Luft zum Atmen lässt. Und dschihadistische Gruppierungen, die mit der Türkei zusammenarbeiten – und das ist bewiesen – sind nicht die Gruppierungen, unter denen eine Bevölkerung leben kann, die verschiedenen Religionen angehört. Und das trifft die Christen genauso hart wie die Jesiden und andere Bevölkerungsgruppen – übrigens auch sehr viele Muslime, die mit dem IS oder mit Al-Qaida oder salafistischen Strömungen nichts am Hut haben."
Der Journalist Simon Jacob, Vorsitzender des Zentralrats Orientalischer Christen und Gründer des "Projekts Peacemaker"
Der Journalist Simon Jacob, Vorsitzender des Zentralrats Orientalischer Christen und Gründer des „Projekts Peacemaker“ (Oannes-Consulting GmbH)
Doch genau diese Strömungen könnten jetzt wiedererstarken, im Chaos von Nordsyrien. Das fürchten viele Beobachter, und auch Simon Jacob sieht Anzeichen dafür, dass etwa der Islamische Staat zurückkehren könnte. Der IS gilt zwar manchen als besiegt, doch die Ideologie sei nach wie vor da, sagt Jacob, und damit die Grundlage für eine politische und militärische Rückkehr:
"Der IS ist bereits wiedererstarkt. Er hat sich in den Untergrund zurückgezogen. Er ist ideologisch nach wie vor existent, weil die Probleme in der Region nicht gelöst wurden. Der IS besteht aus einer Ideologie, die seit Jahrzehnten in den Köpfen der Menschen herumschwirrt und nicht besiegt wird oder nicht verschwindet, wenn man den Menschen nicht Perspektiven bietet."
"Spannungen zwischen orthodoxen und liberalen Christen"
Mit dem Islamischen Staat könnte also eine weitere Gefahr für die religiösen Minderheiten zurückkehren.
Simon Jacob ist selbst syrisch-orthodoxer Christ. Er wurde in der Türkei geboren. Der Völkermord von 1915 ist Teil seiner Familiengeschichte. 90 Prozent seiner Familie seien damals "ausgelöscht" worden, erzählt er. Als kleines Kind kam Jacob 1980 nach Deutschland.
Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem osmanischen Reich sitzt im Jahr 1915 in Syrien auf dem Boden.
Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich im Jahr 1915 in Syrien (picture-alliance / dpa / Library of congress)
Er ist nicht nur Journalist und Vorsitzender des Zentralrats Orientalischer Christen, sondern hat auch das "Projekt Peacemaker" ins Leben gerufen. Damit will er beitragen zum Frieden im Nahen Osten. Gerade beobachtet Jacob allerdings mit Sorge, wie der nordsyrische Konflikt auch in Deutschland für Unfrieden sorgt:
"Das führt zu Spannungen zum Beispiel zwischen Kurden und Türken, zwischen Alawiten und Sunniten, zwischen orthodoxen Christen und liberalen Christen."
Die Türkei als Hoffnung der Christen?
Dass in Deutschland Türken und Kurden aufeinander losgehen, war in den vergangenen Wochen mehrfach in den Nachrichten. Der Syrien-Konflikt spalte aber auch die orientalischen Christen.
Simon Jacob stellt fest, "dass gerade die Christen in Deutschland mit nahöstlichen Wurzeln sehr sehr sensibel auf die Entwicklungen reagieren, was dazu führt, dass es zu Konflikten kommt. Das heißt, der Graben zieht sich durch die christlichen Communities, die zum Beispiel ganz klar in Assad eine Schutzmacht sehen. Oder zum Beispiel in der Kooperation mit den Kurden eine Möglichkeit sehen. Oder eventuell sich zum Beispiel eher der Türkei zugeneigt fühlen aufgrund ihrer Abstammung und sogar ihrem Verwandtschaftsverhältnis zu ihren Familien in der Türkei. Was die Situation noch schwieriger macht."
Die Türkei als Hoffnungsträger für christliche Minderheiten? Das klingt paradox, hieß es doch eben noch, die Türkei kooperiere mit islamistischen Milizen. Dennoch konnte Präsident Erdogan zuletzt auch bei einigen Christen punkten, denn er will neuerdings sein Herz für Minderheiten entdeckt haben. Und er lässt auch Taten sprechen: In Istanbul wird derzeit eine neue Kirche gebaut – die erste in der modernen Türkei. Zur Grundsteinlegung kam Erdogan persönlich.
Der syrisch-orthodoxe Patriarch Yusuf Cetin (links) überreicht Präsident Erdogan bei der Grundsteinlegung für die erste christliche Kirche seit 1923 ein Geschenk.
Der syrisch-orthodoxe Patriarch Yusuf Cetin (links) überreicht Präsident Erdogan bei der Grundsteinlegung für die erste christliche Kirche seit 1923 ein Geschenk. (AFP / Ozan Kose)
Trotzdem – Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker bleibt skeptisch:
"Diese Politik von Erdogan ist uns bekannt. In der Heimat der Christen in der Südost-Türkei – er lässt dort die Menschen nicht in Ruhe. In Istanbul ist es überhaupt kein Problem, auch wenn man dort eine Kirche baut und die Leute sich assimilieren lassen. Aber nicht in ihrer Heimat, wo sie Ansprüche erheben, aramäische Sprache wollen wie die Kurden kurdische Sprache. Das ist genau im Sinne der Türkei, dass in Istanbul diese Menschen assimiliert werden."
"Die Erfahrungen machen Christen und Jesiden Angst"
Im Grenzbereich Syrien-Türkei hingegen, dort wecke die jüngste türkische Offensive bei den religiösen Minderheiten ungute Erinnerungen, meint Sido: Schon im Januar 2018 war die Türkei militärisch vorgerückt nach Syrien, damals auf die mehrheitlich kurdische Stadt Afrin. Und auch damals kooperierte die Türkei mit syrischen Milizen. Jesiden aus Afrin warfen den Verbündeten der Türkei damals vor, sie hätten ihre Gebetsstätten zerstört. Auch von Zwangskonversionen wurde berichtet.
Trümmer in Jindaris, Afrin, im Norden Syriens nach einem türkischen Artillerieangriff
Trümmer in Jindaris, Afrin, im Norden Syriens nach einem türkischen Artillerieangriff im Jahr 2018 (dpa / Sputnik)
"Nach Afrin wissen die Menschen sehr genau, wie diese Rebellen, die mit der türkischen Armee zusammenarbeiten, sich verhalten gegenüber Minderheiten. Die Erfahrungen von Afrin machen den Christen und Jesiden Angst. Da wird kein einziger Christ oder Jeside im Gebiet bleiben. Und diese Angriffe sind ein weiterer Schlag gegen die multiethnische, multireligiöse Zusammensetzung dort. Und ich glaube, das ist eine Katastrophe für die ganz kleinen Minderheiten Jesiden und Christen."
Auch Simon Jacob vom Zentralrat der Orientalischen Christen in Deutschland fürchtet eine solche Katastrophe in Nordsyrien, sollten die Türkei und ihre Verbündeten dort weiter an Macht gewinnen:
"Dies führt letzten Endes – und das ist das Traurige daran – aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem massiven Exodus und zu einem Verlust der Vielfalt in dieser Region."