Samstag, 20. April 2024

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Türkei unter Druck
"Irgendwann kippt das ganze Land über den Abgrund"

Der Putschversuch von Teilen des Militärs in der Türkei habe gezeigt, "dass kein Frieden mehr im Land herrscht", sagte der Schriftsteller Zafer Senocak im DLF. Die Spaltung in der Gesellschaft spiegele sich im Militär wider. "Das ist natürlich eine hoch gefährliche Situation".

Safer Senocak im Gespräch mit Michael Köhler | 16.07.2016
    Zafer Senocak lächelt für ein Foto.
    Der Schriftsteller Zafer Senocak (imago images / Horst Galuschka)
    Michael Köhler: Ein gescheiterter Putschversuch in der Türkei hat in der vergangenen Nacht nahezu 300 Todesopfer gefordert. Einigen Generälen ging Erdogans Machthunger wohl zu weit. Präsident Erdogan findet in Teilen des Militärs Kritiker und Gegner. Sein Krieg gegen Kurden und die Drangsalierung der Opposition sowie der Umgang mit islamistischen Kämpfern ärgerte viele. Sie putschten. Auch wenn es fast nach gewolltem Scheitern aussieht. Die menschlichen und politisch-kulturellen Folgen sind schrecklich. Die türkische Regierung habe die Lage wieder unter Kontrolle, heißt es. Der Putsch wird von der deutschen Bundesregierung verurteilt.
    Grund für uns, mit dem deutschen Schriftsteller mit türkischen Wurzeln Zafer Senocak zu sprechen. Ihn habe ich gefragt: Kann man eigentlich Demokratiedefizite, die es ja ganz offensichtlich in der Türkei unübersehbar gibt und die bestehen, kann man Demokratiedefizite wegbomben, mit Panzern überrollen oder durch einen Putsch lösen?
    "Nötige Kritik kann sich nicht durchsetzen"
    Zafer Senocak: Nein, auf keinen Fall. Das war ja ein Albtraum in der Nacht gestern. Die Frage allerdings bleibt: Wieso steht dieses Land immer so am Rande des Abgrunds? Es ist doch offensichtlich, dass kein Frieden mehr im Land herrscht. Es ist ja nicht nur dieser Putsch, sondern auch natürlich die verschiedensten Terrorattacken, die Situation in Syrien, die Grenzsituation insgesamt, die Lage im Nahen Osten. Das alles betrifft die Türkei und dann muss die Regierung Erdogan - so muss man sie ja nennen, auch wenn Erdogan eigentlich der Staatspräsident ist und die Regierung Yildirim eigentlich von Yildirim geführt wird - sich schon die Frage stellen, was in den letzten Jahren so passiert ist. Und das ist ein Problem im Land, dass im Grunde genommen nötige Kritik nicht mehr sich durchsetzt und so richtig an die richtigen Ohren kommt, und das ist, glaube ich, etwas, was sich anstaut immer wieder. Wir haben das ja 2013 erlebt bei dem Aufstand der Gezi-Proteste und jetzt mit diesem seltsamen Putsch, was mich auch an eine Art Inszenierung erinnert. Im Grunde genommen, man kann das ja militärtechnisch oder so gar nicht richtig definieren, was da genau passiert ist. Aber auf jeden Fall zeigt sich, dass die Spaltung des Landes in der Gesellschaft sich im Militär ja wiedergibt, und das ist natürlich eine hoch gefährliche Situation.
    Köhler: Ich greife das gerne auf, was Sie sagen. Wir leben in Zeiten nach den Gezi-Park-Protesten und dem Taksim-Platz. Sie haben es gesagt: 2013. Der Wunsch nach Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus, gegen Autokratie ist unüberhörbar. Geht es bei diesem Putsch vielleicht auch immer wieder um den alten Streit zwischen säkularem Kemalismus versus islamische Republik Erdogans?
    "Erdogan hat die Vorstellung, dass er 100 Prozent herrschen muss"
    Senocak: Das ist genau die Schnittstelle, wo sozusagen diese politische Herrschaft von Erdogan, die ja nun seit 2002 andauert, also einen langen Zeitraum über, nicht geschafft hat, eine Befriedigung im Land zu erreichen, auch eine Kulturkommunikation herzustellen zwischen Menschen, die fromm sind, die islamisch traditionell leben, und Menschen, die säkular sind, die sich nach Europa orientieren, die westlich sind. Das sind nun zwei fast gleichstarke Gruppen in der Türkei. Das muss man einfach sehen. Ob da die eine Seite 51, die andere 49 Prozent hat, das ist nicht wichtig. Für Herrn Erdogan aber scheint das das Wichtigste zu sein und er hat so die Vorstellung, dass 51 Prozent 100 Prozent herrschen muss, und das hat mit Demokratie nichts zu tun. Das ist auch eine Art Putsch und das löst das Problem des Landes nicht, das im Grunde genommen der politische Herrschaft eben zu teilen schwerfällt. Das muss mühsam erlernt werden. Das wurde in Europa ja auch, das wissen wir, sehr mühsam erlernt. Aber ich sehe in den letzten Jahren keine Fortschritte und man kann nur hoffen, dass diese Albtraumnacht eine Art Lehre wird und dass man zusammenrückt, dass alle demokratischen Kräfte, dass alle die, die Gewaltenteilung wichtig finden, zusammenkommen und eine neue Kommunikation im Lande entsteht.
    Köhler: Herr Senocak, wird Erdogan am Ende noch gestärkt daraus hervorgehen? Anders gefragt: Wird die Repression unter Umständen noch zunehmen?
    "Eine Türkei ohne Zivilgesellschaft kann auch nicht Teil Europas sein"
    Senocak: Nun, er ist der Held dieser Nacht natürlich. Das muss man einfach sagen. Er hat die Bevölkerung auf die Straßen gerufen, das muss man ja auch noch mal erwähnen. Er hat wirklich dazu aufgerufen, auf die Plätze zu gehen. Die Bevölkerung hat das zum Teil gemacht, seine Anhänger. Sie waren mutig, sie haben sich den Panzern entgegengestellt, das muss man auch sagen. Das wird bleiben, das sind starke Bilder. Er hat ja auch viele Anhänger, das ist überhaupt nicht zu leugnen. Nun muss aber trotzdem diese Regierung lernen, dass die Türkei ein komplexes, ein heterogenes Land ist und dass es darum geht, Brücken zu bauen auch zu Andersdenkenden und nicht nur einfach die eigene Klientel zu bedienen. Was Herr Erdogan bisher macht, ist einfach immer mehr zuzuspitzen und davon zu profitieren, aber irgendwann kippt dann das ganze Land über den Abgrund raus.
    Köhler: Moderne, komplexe, ausdifferenzierte, medieninduzierte Gesellschaften steuern in der Türkei auf merkwürdig vormoderne dynastische Zeiten zu. Das kann sich nicht vertragen, oder?
    Senocak: Nein, das kann sich nicht vertragen. Und die zivilgesellschaftliche Entwicklung der Türkei ist ja auch die wichtige Schaltstelle, wo es um die Europafähigkeit der Türkei geht. Eine Türkei ohne Zivilgesellschaft kann auch nicht Teil Europas sein und auch mit Europa nicht kommunizieren. Das ist ja auch unser Problem immer wieder mit der Türkei, auch in politischen Dingen, dass im Grunde genommen die Zivilgesellschaft nicht stark genug ist, um auch der Politik ein Gegengewicht darzustellen.
    Köhler: Vermissen Sie wortmächtige Stimmen Ihrer Kollegen im Moment? Ich kann kaum noch etwas erkennen. Can Dündar ist mundtot gemacht worden, jede oppositionelle Stimme, egal ob sie aus Kunst, Kultur oder Journalismus kommt, wird plattgemacht.
    "Es herrscht viel Angst im Land"
    Senocak: Sie wissen ja, es gab ja diesen Aufruf der Intellektuellen und der Akademiker. Viele sind angeklagt worden, manche haben ihre Lehrstellen verloren. Und ich glaube, dass einfach viel Angst im Land herrscht, und auch dafür trägt ja diese Regierung die Verantwortung. Es ist ja interessant, dass wir am Tag eins nach dem Putsch über die Regierung sprechen, aber das sagt viel aus. Natürlich sind das verrückt gewordene Offiziere, die so etwas versuchen und das eigene Parlament bombardieren. Das braucht man gar nicht kommentieren, was für ein Wahnsinn das ist. Aber woher kommt diese ganze Gewalt? Woher kommen diese ganzen Anspannungen, der Stress? Wie kann man diesen Stress aus der Gesellschaft rausnehmen? Das ist die Frage der Zukunft für die Türkei.
    Köhler: Das sagt der Schriftsteller Zafer Senocak über einen gescheiterten Putsch und Demokratiedefizite in der Türkei.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.