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Türkei
Zwei Erklärungen für den Putschversuch

Warum unternahmen Teile des türkischen Militärs einen Putschversuch? Der Politologe Ludwig Schulz hält zwei Gründe für plausibel. Zum einen könne die Aktion von Anhängern der Gülen-Bewegung initiiert worden sein. Zum anderen könnten Anhänger der kemalistischen Prinzipien verantwortlich sein.

Ludwig Schulz im Gespräch mit Doris Simon | 16.07.2016
    Türkische Sicherheitskräfte nehmen Polizisten fest.
    Türkische Sicherheitskräfte nehmen Polizisten fest. (AFP / Bulent Kilic)
    Schulz sagte, es gebe Indizien, die für die Gülen-Bewegung sprächen. So wurde vor einigen Wochen in regierungsnahen Medien über eine bevorstehende Sitzung des Militärs berichtet, auf der über Umbesetzungen und Neubesetzungen gesprochen werden sollte. In dem Zusammenhang sei auch die Rede von über 1.000 Militärangehörigen gewesen, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung nahe zu stehen. Von daher sei es zumindest plausibel, dass sich einige dieser Truppen herausgetraut hätten, um den Putsch zu versuchen.
    Es gebe aber noch eine andere plausible Erklärung. Schulz betonte, dass das Militär sich immer als Hüter der kemalisten Prinzipien verpflichtet fühlt, zu denen die Gewaltenteilung zählt. Diese Dinge seien in den letzten Jahren und Monaten zur Disposition gestellt worden. Es könne sein, dass überzeugte Kemalisten im Militär dagegen vorgehen wollten und hoffen, dass der Rest des Militärs ihnen folgt.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Doris Simon: Herr Schulz, anfangs war ja vom Militärputsch ganz allgemein die Rede. Inzwischen wissen wir, dass die Armee in dieser Nacht in der Türkei sich sehr unterschiedlich verhalten hat. Wer steht denn da hinter Präsident Erdogan und der Regierung, und wer ist dagegen?
    Schulz: Wer ganz sicher hinter Erdogan und der Regierung steht, war der Generalstabschef Akar. Das kann man daran festhalten, dass er vor einigen Monaten, als eine Tochter Erdogans heiratete, er selbst bei dieser Hochzeit anwesend war, sogar Trauzeuge gewesen sein soll und er also sehr nahe an der Regierung steht, wie auch der Großteil des Generalstabes wahrscheinlich hinter der Regierung stand. Sehr wichtig ist auch der Hinweis, dass der Kommandeur der größten und wichtigsten oder angesehensten türkischen Armeeeinheit für Istanbul sich sehr früh auf die Seite der Regierung und gegen die Putschisten gestellt hatte und damit klar zum Ausdruck gab, dass ein Großteil und auch ein wichtiger Teil der türkischen Armee eben aufseiten der Regierung und nicht aufseiten der Putschisten steht.
    Simon: Für Präsident Erdogan ist ja bereits klar, das hat er bereits in der Nacht gesagt, wer schuld ist: Die Anhänger der Bewegung seines Erzfeindes nämlich, von Prediger Gülen, der in den USA lebt. Herr Schulz, gibt es dafür Anhaltspunkte?
    Schulz: Es gibt zumindest Indizien. Und zwar gehen die schon einige Tage zurück, also noch vor, weit vor den Putsch. Vergangene Woche und vor wenigen Tagen gab es in den regierungsnahen Medien, in "Sabah" beispielsweise, Hinweise, dass Anfang August eine reguläre Sitzung des Militärs stattfinden wird und der Regierung. Dort wird man über Umbesetzungen, Neubesetzungen von Posten, die auch regulär stattfinden, dann besprechen. Aber es wurde auch gesagt, dass in etwa 1.000 Militärangehörige im Verdacht stehen, der Gülen-Bewegung nahezustehen. Und gegen diese wird man weiter vorgehen dann. Also, das stand auf der Agenda. Und es ist zumindest plausibel, dass einige dieser Gruppen sich nun also herausgetraut haben, um diesen Putsch zu versuchen, der nun gescheitert ist.
    Simon: Darin würden Sie ein mögliches Hauptmotiv für einen Putsch sehen?
    Schulz: Das ist ein Motiv. Wir müssen natürlich zum einen schauen, welche Indizien sich sonst noch finden lassen, zum anderen die Informationen, die die Regierung an die Öffentlichkeit und damit auch an uns weitergibt. Es gibt noch eine andere plausible Erklärung. Das Militär in der Türkei war ja bekanntlich immer der Hort oder der Hüter der kemalistischen Prinzipien. Zu denen gehört natürlich auch die Gewaltenteilung. Natürlich, ein autokratischer oder autoritärer Staat gegenüber der Gesellschaft, aber die Gewaltenteilung, die Justiz, das unabhängige Parlament und dergleichen. Und diese Dinge sind in den vergangenen Jahren, aber vor allen Dingen in den letzten Monaten ja zur Disposition gestellt worden, durch die Regierung, durch Erdogan persönlich. Er möchte den Staat ja umbauen und auf seine Person oder das Amt des Präsidenten umbauen. Und da kann es natürlich sein, dass überzeugte Kemalisten innerhalb des Militärs dagegen nun vorgehen wollten und einen Putsch herbeiführen wollten. Darauf hoffend, dass der Rest des Militärs ihnen folgt. Aber dem ist so nicht gewesen.
    Simon: Schauen wir noch mal auf die Bevölkerung in der Türkei. In der Nacht hat ja der Präsident seine Anhänger, auch der Ministerpräsident, aufgerufen, auf die Straße zu gehen, mit Gebeten zu protestieren. Viele Tausende Menschen haben das ja auch getan. Wie weit hat das eine Rolle gespielt beim Scheitern des Coups?
    Schulz: Feuertaufe auch der türkischen Demokratie
    Schulz: Ich denke, zweierlei. Das eine, was schon deutlich wurde bei vielen Bildern, auch in dem Beitrag eben, sind natürlich die religiösen Konnotationen, also mit Gebeten wurde dazu aufgerufen, dass man auf die Straße gehen soll. Der Gebetsruf schrie offenbar in der Nacht mehrmals, damit die Leute hier wach werden und sich auf die Straße begeben. Das heißt natürlich, die religiös-konservative Machtbasis in der Gesellschaft, der Regierung sollte hier motiviert werden, auf die Straße zu gehen. Das andere ist allerdings, wir erleben hier schon die Feuertaufe auch der türkischen Demokratie. Es gab bereits vier Militärputsche. Und noch nie war er erfolgreich für die Gesellschaft. Jetzt haben wir die Bilder von Bürgern auf Panzern stehend, die Soldaten abführen oder sich mit ihnen verbrüdern, weil sie sie überzeugt haben, dass sie auf dem falschen Weg sind. Jetzt haben wir diese Bilder einer demokratischen Revolution für die gewählte Regierung. Und diese Bilder und die Emotionen, die da mitschwingen, dürfen nicht vergessen werden. Im Gegenteil, sie sind sehr wichtig für den weiteren Prozess, den die Türkei jetzt einschlägt.
    Simon: Es gibt ja auch viele Türken, die weder Sympathien fürs Militär noch für die AKP haben – Linke, Liberale, auch viele Kurden. Wo positionieren Sie die denn bei diesem Putschversuch?
    Schulz: Ich glaube, das ist noch nicht ganz auszumachen. Was wichtig war, dass die großen Oppositionsparteien, vor allen Dingen die nationalistischen, kemalistischen Parteien, MHP und CHP, sich auch früh gegen den Putsch positioniert hatten. Von den Kurden oder Kurdenparteien war noch wenig zu hören. Ich denke, hier ist vor allen Dingen die Angst und die Erinnerung an das Jahr 1980 groß, dass so ein Putsch sich in Gewalt vor allen Dingen gegen linke Gruppen dann ausprägen wird. Und kurdische Gruppen, die sind in der Minderheit, die sind von dem Staat immer oder von der Staatsmacht immer bedrängt worden. Und zuletzt unter Erdogan und der Regierung ja auch. Und ich denke, das ist natürlich auch der Moment, wo diese Gruppen erst mal nur abgewartet haben. Wichtig ist, dass die Regierung jetzt eben versucht, die Nation zu einen, die Spalten, die tief sind, zu überwinden und auf die verschiedenen Gruppen, die auch gegen die Regierung und gegen Erdogan bislang waren, miteinander zu versöhnen. Hier kommt eine unglaublich verantwortungsvolle Aufgabe auf die Regierung zu. Und ehrlich gesagt, ich möchte zweifeln, dass sie dieser Aufgabe gewachsen ist oder sie diese eigentlich annimmt.
    Simon: Ja, wenn man Töne hört wie, der Putsch sei ein großes Geschenk, weil man dadurch besser reinigen und aufräumen könne, das klingt ja nicht nach Versöhnung, was Präsident Erdogan gesagt hat.
    Schulz: Das ist vollkommen richtig. Er würde natürlich auch sagen, ich ändere mich nicht, ich habe mich noch nie geändert. Dieser Satz stammt aus den Gezi-Jahren, als die Proteste gegen die Regierung ja ein erstes Mal groß aufflammten. Und im Endeffekt, diese Geisteshaltung, Widerstand brechen zu wollen, anstatt zur Versöhnung aufzurufen, wie es eigentlich die Aufgabe eines Präsidenten in demokratischen Systemen sein sollte. Diese Aufgabe nimmt er so nicht wahr.
    Simon: Die Einschätzung von Ludwig Schulz, Türkei-Experte beim Münchener MEIA Research. Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch!
    Schulz: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.